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INTERVIEW/033: Krieg um die Köpfe - Revolution kann kein Deckchensticken sein ...    Franz Witsch im Gespräch (SB)


Im Kapitalismus gibt es keine sozialverträgliche Umverteilung

Interview am 7. März 2015 an der Freien Universität Berlin

"Krieg um die Köpfe - Der Diskurs der Verantwortungsübernahme"
Kongreß der Neuen Gesellschaft für Psychologie vom 5. bis 8. März 2015 in Berlin

Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Franz Witsch
Foto: © 2015 by Schattenblick

Franz Witsch arbeitete früher in der freien Wirtschaft als Informatiker und Unternehmensberater. Heute schreibt er sozialphilosophische Texte und Bücher und veröffentlicht auf der Internetseite www.film-und-politik.de. Er hat insbesondere das Buch "Die Politisierung des Bürgers" in vier Bänden verfaßt. Auf dem diesjährigen Kongreß der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) an der FU-Berlin hielt er einen Vortrag zum Thema "Mentale Voraussetzungen einer Militarisierung sozial-ökonomischer Strukturen".

Witsch unterzieht den Bürger einer beißenden Kritik, dem er eine Normalisierung der Störung attestiert. Dieser lasse Verdrängungs- und Verleugnungsvorgänge systematisch in seinen Diskurs ein, bis sie sich irgendwann nicht mehr eingrenzen ließen, wie er sie auch in sich selbst nicht mehr reflektiere. Weil er das wirklich Schlimme gewohnheitsmäßig verschweige, werde die Lüge normal, das heißt im Leben assimiliert. Man sehe es jeden Tag: Mord, Folter und Krieg wie auch Totalüberwachung und Sozialabbau gehörten heute zum alltäglichen Leben dazu.

Demgegenüber zurechnungsfähig zu denken und zu sprechen setze eine hinreichende Analyse der sozialen Realität voraus. Verwende man Begriffe wie Menschenwürde, Kapitalismus oder Gesellschaft, müsse das auf eine Weise geschehen, die ihnen eine inhaltliche Bedeutung verleiht. Die meisten Bürger redeten hingegen ohne fest umrissene Sache, die auf ein Ziel oder Soll verweist, woran sich das Gesagte bemessen ließe. Der Begriff Gesellschaft könne ein Allgemeininteresse einschließen, das aber auf Grundrechte verweisen müsse, die für jedes beliebige Subjekt unmittelbar einklagbar sein müssen, um praktisch festumrissen und zielorientiert etwas zu bedeuten, eingelassen zugleich in soziale Strukturen wie auch in Debatten.

Vonnöten sei ein kritisches Subjekt, das soziale Strukturen jeden Tag aufs Neue erzeugen könne. Gelingt das nicht, drohe die psychische Stabilität von immer mehr Menschen aus den Fugen zu geraten. Um sich zu behaupten, wenden sie sich gewaltsam gegen ausländische Mitbürger, Arbeitslose, Ausgegrenzte aller Art. Das gelte um so mehr, als der ökonomische Spielraum im Kapitalismus immer enger wird. Mit den sozialen Strukturen lösten sich auch die mentalen ungebremst auf. In diesen kranken und krankmachenden Verhältnissen werden die Menschen aufeinander gehetzt.

Im Anschluß an den Vortrag beantwortete Franz Witsch dem Schattenblick einige Fragen zu seiner Einschätzung der Linken, seiner Kapitalismuskritik und dem Verhältnis von familiären zu gesellschaftlichen Konflikten.


Beim Vortrag am Tisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit dem Bürger über Kreuz ...
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Wie du in deinem Vortrag angedeutet hast, findest du unter Linken wenig Widerhall bei anderen, die deine Position teilen. Worauf führst du das zurück?

Franz Witsch (FW): Das liegt mehr oder weniger daran, dass der Begriff "links" verbrannt ist. Er spiegelt keine Position wider, die unsere Gesellschaft sozialverträglicher gestalten würde. In dieser Hinsicht sind Linke in unserer Gesellschaft angekommen, halt so wie die meisten Bürger.

SB: Würdest du sagen, dass es beispielsweise in den 1960er und 1970er Jahren eine Linke gab, die man in ihren emanzipatorischen Positionen ernst nehmen konnte, oder wendest du deine Kritik auch auf diese Zeit an?

FW: Ich wende sie auch auf diese Zeit an, selbst auf frühere Zeiten. Marx hat sich über Linke, insbesondere Sozialdemokraten, immer ganz massiv aufgeregt. Er hat in Briefen an Engels, der noch viel harschere Worte gegen Sozialdemokraten benutzt hat, Äusserungen über Sozialdemokraten gemacht, die man damals verheimlichte. Er kritisierte die Auffassung, dass man im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse eine bessere Gesellschaft herbeiführen könne. Man hat ja gewisse Verbesserungen herbeigeführt, aber immer nur für einen Teil der Gesellschaft, nie für alle; zumal um welchen Preis: man hat vergessen, dass der Kapitalismus vor dem Ersten Weltkrieg nicht ziviler, sondern immer gnadenloser geworden ist, und das nicht nur gegen Kolonien, sondern auch innerhalb der sogenannten reicheren Länder selbst, die bis heute versuchen, ihre sozial-ökonomischen Probleme in andere Länder zu exportieren. Heute haben wir nicht mehr wie früher die Möglichkeit, unsere Probleme in andere Länder zu verlagern. Heute versucht man, sie innerhalb Europas beispielsweise auf Griechenland abzuwälzen, um in Deutschland einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen oder Exportweltmeister zu bleiben - und vergisst, dass der gesamte Süden Europas dabei immer mehr im Elend verkommt.

SB: Es gibt allerdings auch Kritiker, die sich als Linke verstehen und das genauso ausdrücken würden.

FW: Die sagen das so, glauben aber tatsächlich, dass z.B. das griechische Problem im Kapitalismus lösbar sei, etwa indem man Reiche höher besteuert. Dafür bin ich auch, doch löst dies das grundsätzliche Problem nicht. Das besteht darin, dass es im Kapitalismus kein Verteilungs-, sondern ein Strukturproblem gibt. Wenn man lediglich anders verteilt, profitieren immer nur einzelne Gruppen. Erkämpfte Lohnerhöhungen erreichen immer nur die, die arbeiten, und das noch nicht einmal alle, und sie verhindern z.B. die Altersarmut nicht. Das wird von Gewerkschaften verdrängt. Ich denke, sie sind am Ende. Sie wissen es nur noch nicht.

SB: Die deutschen Gewerkschaften wurden über die Mitbestimmung samt den damit verbundenen Posten in den Aufsichtsräten massiv eingebunden. Würdest du sagen, dass eine Art von Arbeiteraristokratie auf diese Weise zu Lasten anderer protegiert und ruhiggestellt wurde?

FW: Ich würde es sogar viel härter ausdrücken. Die Gewerkschaften waren schon immer in die Kapitalverwertung eingebunden; sie begreifen nicht, dass es im Kapitalismus keine sozialverträgliche Umverteilung für alle gibt. Zumal einzelne Gruppen immer nur befristet profitieren; irgendwann verlieren wir alle. Das zeichnet sich immer deutlicher ab. Diese Wahrheit versucht die Öffentlichkeit durch Desinformation zu verhindern.

SB: Versuchst du mit deiner Kritik, diese beschränkte Denkweise aufzubrechen?

FW: Die Denkweise besteht wie gesagt darin, sich der Erkenntnis zu verweigern, dass Umverteilung allein auf Dauer nicht weiterhilft. Ich sage, es ist ja schön und gut, dass ihr Lohnerhöhungen durchgesetzt habt, aber ihr macht die Welt dadurch nicht besser.

SB: Du hast diese Denkweise in deinem Vortrag als den Versuch ausgewiesen, in einem Fehlschluss familiäre Verhältnisse auf die Gesellschaft zu übertragen.

FW: Es ist ein Fehlschluss, wenn man der Meinung ist, man müsse die Gier in der Gesellschaft bekämpfen. Vor allem die Finanzindustrie sei zu gierig oder zu mächtig. Die Finanzindustrie hat im Grunde keine Macht; sie ist abhängig von der Realwirtschaft, der Mehrwertproduktion, wie Marx sagte. Sie wird zusammenbrechen, wenn die Realwirtschaft keinen Mehrwert mehr zu produzieren in der Lage ist. Dann werden wir wie die gerupften Hühner vor den Scherben des Zusammenbruchs stehen und uns wundern, dass sich das Marxsche Wertgesetz mit einem Schlag durchsetzt.

Seit der Kapitalismus existiert, hat sich die Verwertung stets in Konjunkturzyklen bewegt. Nun haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit fast ausschliesslich Wachstum erlebt, weil der Kapitalismus in der Lage war, diese Konjunkturzyklen durch Keynesianismus zu glätten. Aber der Keynesianismus ist inzwischen am Ende; er entpuppt sich heute als verkappter Neoliberalismus: Im Kern gibt es keinen Unterschied zwischen Keynesianern und Neoliberalen. Auch Keynesianer sagen, dass sich die Griechen zusammenreissen müssen. Wer nicht spart und statt dessen die getroffenen Vereinbarungen bricht, müsse bestraft werden. Im Grunde hat es den Keynesianismus im eigentlichen Sinne nie gegeben. Das kann man übrigens bei Marx sowie im zweiten Teil meines Buches "Die Politisierung des Bürgers" (Untertitel: "Mehrwert und Moral") nachlesen.

SB: Du hältst also die Debatte, die gegenwärtig unter Linken geführt wird, für nicht zielführend?

FW: Überhaupt nicht! Sie ist auch nicht besser als die Erwägungen des sogenannten einfachen Bürgers. Der ist noch eher ansprechbar als ein Linker, weil der sich für aufgeklärt hält. Wie einem Linken erklären, dass er dummes Zeug redet? Ich spiele Tennis, wenn ich dort meinem Partner sage, du hast doch keine Ahnung, dann klopft er mir auf die Schulter, und wir machen das nächste Match.

SB: Du hast auch zum Ausdruck gebracht, dass du mit linken Publikationen nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht hast.

FW: (lacht) Stimmt, ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt.

SB: Du sagst in deinem Vortrag, man müsse Obama einen Mörder nennen. Könnte es nicht zu kurz greifen, ihn und andere Akteure nach den Massgaben der Moral oder gar des Strafrechts abzukanzeln?

FW: Menschen am Rechtsstaat vorbei mit Hilfe ferngesteuerter Drohnen zu liquidieren, weil man sie für Terroristen hält, ist Mord. Dazu leisten unsere Politiker Beihilfe. Ich finde, das muss man ihnen sagen. Schliesslich denken sie in den Kategorien von Schuld und Sühne. Mir geht es aber nicht darum, Obama zu bestrafen, sondern darum, ob man sich mit ihm über das, was er tagtäglich politisch vertritt oder macht, unterhalten kann. Ein sinnvolles politisches Gespräch darüber ist nur unter der Voraussetzung möglich, wenn Gesprächspartner in sich stimmig argumentieren auf der Basis des gemeinsamen Anliegens, das es auf der politischen Ebene explizit, unbedingt und anerkanntermaßen geben muss. Die Menschenrechte politisch durchzusetzen ist das gemeinsame Anliegen, das politisches Handeln erst sinnvoll macht. Diese Voraussetzung trifft auf Obama nicht zu, wenn er die Menschenrechte tagtäglich mit Füssen tritt, noch dazu im Namen der Menschenrechte. Eine Absurdität. Damit zerstört er das gemeinsame Anliegen, das eine politische Debatte erst sinnvoll macht. Es ist absurd, aber Obama scheint nicht klar zu sein, dass es Mord ist, Menschen am Rechtsstaat vorbei liquidieren zu lassen. Wie soll ich mich mit so einem Menschen unterhalten? Unmöglich! Zwischen ihm und mir gibt es eine Mauer, die unüberwindbar ist. Es muss den Leuten ganz generell klar sein: Ohne ein gemeinsames Anliegen, ohne gemeinsames Ziel, bezogen auf die Politik Menschenwürde durchzusetzen, ist ein Gespräch nicht möglich.

SB: Würdest du diesen Begriff der Mauer zwischen Menschen über Politiker wie Obama hinaus auch auf andere Leute in deinem alltäglichen Umgang anwenden?

FW: Ohne gemeinsames Anliegen erodieren auch familiäre oder persönliche Beziehungen. Das ist vielen gar nicht klar. Sie denken, dass uns in unseren privaten Beziehungen ein gemeinsames Anliegen sozusagen mit der Muttermilch gegeben ist und nicht in jeder Sekunde unserer Existenz immer wieder erarbeitet werden muss. Passiert das nicht, dünnen Beziehungen aus. Ich mache im Alltag in der Tat die Erfahrung, dass sich mitunter sogar Menschen, die einem nahe stehen, nicht für mich interessieren, eben weil ich von meinen politischen Interessen her anstrengend bin. Vor allem gehe ich Konflikten nicht aus dem Weg. Wenn einer dummes Zeug redet, sage ich es. Das kommt gelegentlich nicht gut an.

Richtig ist aber auch, dass man die Austragung familiärer Konflikte nicht auf die politisch-gesellschaftliche Ebene übertragen darf, wo andere Lösungen erforderlich sind. Ein Sozialamtmann darf sich gegenüber seinen Kunden, zum Beispiel einem Arbeitslosen, nicht so benehmen, als sei er sein Erziehungsberechtigter, und ihm Leistungen verweigern, weil er seinen Arsch nicht hochkriegt. Ein solches familiäres Erziehungsverhalten verletzt die Würde des Arbeitslosen. Hier muss es eine politische Auseinandersetzung gehen, bei der ökonomische und soziale Fragen im Vordergrund stehen, auszurichten an einem gemeinsamen Anliegen, einem Allgemeininteresse, das die Würde aller Menschen im Auge hat. Und zwar anders als im familiären Kontext "explizit". Das heisst, einem Sozialamtmann muss es in jeder Sekunde seiner Arbeit darum gehen, dass er die Grundrechte seiner Kunden wahrt. Damit er dazu in der Lage ist, muss das Allgemeininteresse natürlich in Gestalt einklagbarer Grundrechte eingelassen sein in eine familiäre Situation, ohne dass man davon ausgehen kann, dass er sich innerhalb seiner Familie stets an Grundrechten orientiert. Wir müssen aber wissen, dass es zwei unterschiedliche Ebenen gibt: die familiäre Ebene, in die der einzelne emotional involviert ist, in der wir es mit der Würde nicht so genau nehmen, und die (öffentlich-politische) Ebene der Gesellschaft, deren Existenz auf der Grundlage der Durchsetzung von Grundrechten für alle beruht.

SB: Warum haben deines Erachtens Konflikte, die innerhalb der Familie entstehen, grundlegend einen anderen Charakter als die Widersprüche und Konflikte auf der gesellschaftlichen Ebene?

FW: Persönliche Konflikte auszutragen, setzt voraus, dass man jemanden persönlich, seine privaten Probleme, kennt. Die privaten Probleme gehen einen Amtmann aber nichts an. Und doch existiert insofern ein Zusammenhang, als der Amtmann denkt, er könne mit seiner Kundin oder seinem Kunden genauso umgehen wie mit seiner Tochter oder seinem Sohn. Er verkennt ie Situation desjenigen, der vor ihm sitzt, wenn er sich so verhält, als hätte er ihm gegenüber einen "Erziehungsauftrag", als müsse er ihm beibringen, seinen Arsch hochzukriegen.

SB: Wie würdest du mit dem Amtmann umgehen wollen, der sich deines Erachtens unmöglich gegenüber seinen Kunden verhält?

FW: Er hat die Macht zu bestrafen, weil die Gesetze so sind. Er sollte gar nicht von den Gesetzen her diese Macht bekommen, etwa willkürlich Menschen Geld vorzuenthalten, weil er der Auffassung ist, sie würden sonst ihren Arsch nicht hochkriegen. Das geht ihn überhaupt nichts an. Die Politik denkt und handelt jedoch nach der Maxime, man müsse politische, soziale und ökonomische Probleme wie familiäre lösen.

SB: Glaubst du, man könne dennoch - ob allein oder besser mit mehreren Leuten - Einfluss auf diesen Amtmann ausüben und ihn überzeugen?

FW: Das ist nur schwer möglich! Man bekommt von diesen Leuten entweder zur Antwort, sie müssten sich an die Gesetze halten, oder sie begreifen überhaupt nichts. Man steht schnell vor einer Mauer. Wenn einer sich fünf oder zehn Jahre an miese Gesetze hält, findet er sie irgendwann zwangsweise richtig, zumindest alternativlos. Dann hat er sie verinnerlicht, diesbezüglich Kompetenz angesammelt, auf die er vielleicht sogar stolz ist: seine Gefühle positiv projiziert, so dass er kaum mehr erreichbar ist. Du kannst ebensowenig jemanden erreichen, der 30 Jahre Parteipolitik gemacht hat - solche Leute sind kaum erreichbar. Man muss wissen, dass Menschen dressiert sind, sich sogar gern dressieren lassen, gar Lust dabei empfinden etc. Kommen Gefühle ins Spiel, geht die Kritikfähigkeit oftmals gegen Null.

SB: Hältst du die Vorstellung, man könnte - und sei es nur theoretisch - mit dem besagten Amtmann sprechen, demnach für eine Illusion?

FW: Es gibt leider nur ganz wenige, die sich diesen (ihren) Strukturen entziehen. Inge Hannemann, Hartz-IV-Amtfrau in Hamburg, ist dafür ein Beispiel, die dafür allerdings leider bitter bezahlen musste. Die Menschen versuchen instinktiv, so etwas zu vermeiden, indem sie ihre Existenz: ihre tagtägliche Arbeit, schönreden.

SB: Glaubst du, dass die meisten Menschen bestimmte Grenzen deshalb nicht überschreiten, weil sie die Konsequenzen kennen und fürchten?

FW: Sie kennen die Konsequenzen und glauben früher oder später an das, was sie jeden Tag machen. Dass ich 20 Jahre in der freien Wirtschaft gearbeitet und nicht an das geglaubt habe, was man mir da beigebracht hat, verdanke ich dem Umstand, dass das letzte Unternehmen, bei dem ich beschäftigt war, pleite gegangen ist und mich schon vorher rausgemobbt hat, weil sie sparen wollten. Das kann man ihnen insofern nicht zum Vorwurf machen, weil sie sich tatsächlich nach der Decke strecken mussten. Da schlägt ein Unternehmer den andern tot, wie Marx sagte. Wenn man das sieht und analysiert, hat man eine Chance, diesen Kreislauf zumindest kritisch zu betrachten.

SB: Wenn du wie heute Abend einen engagierten Vortrag hältst, welche Reaktionen erlebst du da?

FW: Ich habe hier vor zwei Jahren schon einmal einen Vortrag gehalten, bei dem nur halb so viele Leute wie heute zuhörten. Das lag daran, dass man mich nicht kannte. Heute waren es mehr, und es waren vor allem Ältere, die zum Teil engagiert zuhörten, sogar eine Mitarbeiterin der jungen Welt, während drei Jüngere schon nach drei Minuten rausgegangen sind, vermutlich weil ich Obama einen Mörder nannte. So etwas passt nicht in ihr Weltbild, das auf Anpassung und Erfolg gepolt ist. Es gibt eine geradezu zwanghafte, auf mich hysterisch anmutende Angst, in der Gesellschaft nicht erfolgreich zu sein, koste es, was es wolle. Das möchte ich den Jüngeren nicht verdenken. Der Jüngere müsste allerdings nicht unbedingt ein Interesse haben, eine Mauer zu meinem Vortrag aufrechtzuerhalten. Es kostet ihn ja nichts, mir zuzuhören. Und er muss mit mir nicht einer Meinung sein. Doch macht sich schon hier bemerkbar, dass die Bereitschaft, sich mit anderen Meinungen kritisch auseinander zu setzen, spürbar nachgelassen hat. Das liegt an der Schule, der Ausbildung, am Studium. Unter dem Bologna-Prozess leben die Studierenden nur noch von Kopien, die sie aus Büchern herausziehen und bestenfalls überfliegen. Eine Katastrophe. Man muss als junger Mensch nicht übermässig viele Bücher lesen, aber ein paar sollte man richtig gelesen haben - immer wieder, bis man sie "richtig" verstanden hat. Ich habe früher zwei Bücher von Habermas und einige seiner Aufsätze zwei Jahre konzentriert lesen müssen, zwischendurch immer wieder gedacht, ich verstehe das alles nicht. Aber irgendwann kommt immer mehr zusammen, so dass das Verständnis dann leichter fällt, und dann folgte auch irgendwann die Kritik an Habermas.

SB: Franz, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zur NGfP-Konferenz in Berlin im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

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22. April 2015


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