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INTERVIEW/042: Die Enkel der Frankfurter Schule - gegenöffentlich ...    Dr. Elke Steven im Gespräch (SB)



Großübung in Aufstandsbekämpfung - Gegen die Eroberung der Deutungshoheit für die Proteste um den G20-Gipfel hilft nur Aufklärung. Ein Gespräch mit Dr. Elke Steven

Im Januar haben mehrere Anwälte gegen den gewaltsamen Polizeieinsatz beim G20-Gipfel in Hamburg Klage eingereicht. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?

Meine Hoffnungen gehen in zwei Richtungen. Zum einen brauchen wir noch mehr Informationen darüber, was wirklich passiert ist, wie die Polizeiorganisationen zusammengearbeitet haben und in welchem Maß Überwachung stattgefunden hat. Ebenso über das Ausmaß von Waffen, die vorher nie gegen Demonstranten eingesetzt wurden. Ich denke an die Kriegswaffen. Aber auch an den Einsatz des SEK. Diese neue Vorgehensweise muss juristisch und öffentlich diskutiert werden. Zum anderen hoffe ich, dass die Empörung, die sich bisher hauptsächlich gegen angeblich oder tatsächlich gewaltbereite Demonstranten richtet, sich dann endlich gegen die massiven Rechtsverletzungen in Form von polizeilicher und struktureller Gewalt wendet.

Ist das Ihre persönliche Bewertung oder worauf stützt sie sich?

Die Position, die das Grundrechtekomitee in dieser Frage vertritt, stimmt mit den von den Vereinten Nationen und der OSZE vertretenen überein. Auch sie verstehen unter Versammlungsfreiheit mehr als sich für ein paar Stunden zu treffen und durch die Straßen zu laufen. Demzufolge war es unzulässig das Camp in Hamburg zu verbieten. Aber es geht nicht nur um das Camp. Es geht auch darum, dass ohne Vorwarnung friedliche, auch unvermummte Demonstranten mit Reizgas angegriffen und auf sie eingeschlagen wurde. Die Polizei bezeichnet bis heute Teilnehmer an diesen Protesten als Mob und setzt damit schon per Definition das Versammlungsrecht außer Kraft.

Prozesse gegen vermeintliche oder tatsächliche Täter haben zeitnah stattgefunden, die Klagen gegen die Polizei erst mit großem Zeitverzug. Warum, und was bedeutet das für die mögliche öffentliche Wirkung?

Natürlich ist der Zeitverzug ein Nachteil, aber ein unvermeidbarer in diesem Kampf Davids gegen Goliath. Der Staat hat Millionen in diesen Gipfel gesteckt. Hunderte Beamte waren beauftragt, die Strafverfolgung zu betreiben, und zwar nicht gegen Polizeibeamte. Selbst mit diesem Aufwand kamen nur wenige zustande, die allerdings extrem öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt wurden. Tausende weitere Verfahren waren angekündigt, aber das scheint nicht zu funktionieren. Es ließen sich keine Rädelsführer identifiziert, sondern nur einzelne Personen, die aus irgendwelchen Gründen Flaschen geworfen haben.

Für einzelne Demonstranten ist es ungleich schwieriger, einen Rechtsanwalt zu bekommen, dessen Finanzierung sicherzustellen und danach eventuell zu klagen. Die Aussicht auf Erfolg muss geprüft werden. Sonst bleiben sie auf den Kosten sitzen, und für die öffentliche Wirkung wäre ein verlorener Prozess auch kontraproduktiv.

Sie sind eine der Referentinnen auf dem im März bevorstehenden Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie mit dem bei Marcuse entlehnten Titel "Paralyse der Kritik: Eine Gesellschaft ohne Opposition". Inwiefern passt das zu Ihrem Thema "Versammlungsfreiheit"?

Das passt gut. Ohne Marcuse aufwärmen zu wollen, nachdem seit 1968 eine Menge mehr theoretische Auseinandersetzungen stattgefunden haben, lohnt es sich doch nochmal nachzufragen: Gibt es eigentlich eine Perspektive für Gegenöffentlichkeit? Existiert eine solche überhaupt und kann sie ihre Utopie von anderen Verhältnissen in der Zukunft auch so vermitteln, dass damit Veränderung erreicht wird?

Widersprechen die Proteste rund um den G20-Gipfel nicht der These von der Abwesenheit einer Opposition?

Ich will den Protest nicht kleinreden, aber es war keiner, der die Gesellschaft erschüttert und neue Perspektiven bringt. In Hamburg haben zwar über die ganze Woche viele Aktionen und Veranstaltungen stattgefunden, auf denen man sich sehr ernsthaft inhaltlich mit Gründen für Protest auseinandergesetzt hat, aber die Außenwirkung war doch eine andere. Die Leitmedien berichteten umfänglich über Ausschreitungen Freitagnacht im Schanzenviertel, was dazu geführt hat, dass bis heute in den Köpfen der meisten Leute der Eindruck vorherrscht, dass der Gipfel von gewalttätigen Ausschreitungen dominiert wurde. Dieses Bild ist falsch. Marcuse erklärte die mangelnde Wirksamkeit von Protesten in den 1960er Jahren damit, dass nur Randgruppen, Außenseiter und Intellektuelle ihn tragen. Das ist heute nicht anders. Im Gegenteil: der Protest war damals deutlich breiter als er heute ist.

Und doch war der Staat darauf vorbereitet, als ginge es um sein Überleben. Sieht der Staat den Widerstand durch ein Vergrößerungsglas?

In Hamburg war der Staat vorbereitet auf eine Großübung in städtischer Aufstandsbekämpfung. Ich hatte den Eindruck, man wollte ausprobieren, wie das Zusammenspiel von Polizeikräften funktionieren kann und wie es gelingt, Protest so einzubinden, dass er nicht erkennbar ist, als das, was er sein wollte und war: ein legaler Protest gegen die herrschenden Verhältnisse. Er war und ist auch bei vergleichbaren Ereignissen nicht so breit und mächtig genug, um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darzustellen. Ich glaube auch nicht, dass auf staatlicher Seite tatsächlich Angst davor herrschte.

Wie gelang es trotzdem, der Öffentlichkeit eine massive Bedrohung zu vermitteln?

Es gibt momentan die teilweise berechtigten und teilweise gemachten Ängste vor Terrorismus und den Versuch, Terrorismus und demokratischen Protest in einen Topf zu werfen oder mindestens die Trennlinie zwischen beiden zu verwischen. Gegen den Schutz der Veranstaltung vor terroristischen Akten ist nichts einzuwenden. In Hamburg wurde aber der berechtigte Protest behandelt, als wäre er gleichermaßen gefährlich wie islamistischer Terror und müsse mit allen Mitteln verhindert werden. Dadurch wurden Grund- und Menschenrechte verletzt, die Versammlungsfreiheit wurde nicht geschützt.

Wieso akzeptieren große Teile der Öffentlichkeit diese Vermischung?

Unter anderem, weil die Medien vor allem Bilder von brennenden Autos und gewaltsamen Auseinandersetzungen gezeigt haben. Zusätzlich wird systematisch der Eindruck geschürt, die Polizei werde immer weniger respektiert, fortwährend gewaltsam angegriffen. Von staatlicher Seite wurde diese Darstellung der Dinge noch vor dem G20-Gipfel mit einer Gesetzesverschärfung quittiert. Die Polizeigewerkschaft hat daran keinen unwesentlichen Anteil und erwirkt so eine immer bessere (im Sinne von wirksamere) Ausrüstung. Gerade fand in Berlin der 21. Europäische Polizeikongress statt, bei dem u.a. über noch bessere Technik und andere Einsatzmittel im Kontext mit der Kontrolle von Demonstrationen und Aufständen gesprochen wurde. Die passenden Lieferfirmen, wie Rheinmetall und mehrere IT-Konzerne, waren mit ihren Angeboten gleich vor Ort.

In Hamburg hat sich die Polizei außerdem extrem bemüht, die Deutungshoheit über die Ereignisse zu behalten und ihre eigene Wahrnehmung zur Wahrheit zu machen. Sie ist auf dem Gebiet der eigenen Öffentlichkeitsarbeit immer versierter geworden, was dem Wahrheitsgehalt der Informationen nicht gedient hat. In den 1990er Jahren bei den Castor-Transporten begann das bereits. Aber damals waren es nur zwei, drei Leute von der Polizei, die die Medien mit Informationen versorgten: heute sind ein paar Hundert Beamte für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, geben Pressemitteilungen am laufenden Band heraus und twittern unermüdlich.

Haben die Demonstrationen in Hamburg dem Kampf um Freiheitsrechte einen Schub verliehen?

Im Moment interessiert sich nur noch ein kleiner Teil von Öffentlichkeit dafür. Viele haben nicht einmal mehr wahrgenommen, was inzwischen aufgedeckt worden ist an Fehlinformationen durch die Polizei und an Verletzungen des Versammlungsrechts durch Polizisten. Die wenigen Interessierten leisten viel an Aufklärungsarbeit. Und wenn ich daran denke, wie das mit dem Brokdorf-Urteil 1985 gelaufen ist, dann muss ich sagen: Ohne langjährige Öffentlichkeitsarbeit zum Grundrecht von Versammlungsfreiheit hätte es dieses Urteil nicht gegeben. Es ist bis heute richtungsweisend. Meine Devise lautet deshalb: Nicht aufgeben!

Gibt es Lehren aus den Hamburger Ereignissen?

Es ist wichtig, den Zusammenhalt eher zu organisieren. Der Öffentlichkeitsarbeit der Polizei muss eine eigene Öffentlichkeitsarbeit entgegengesetzt werden.

27. Februar 2018


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