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GESELLSCHAFT/263: Hartz IV wird als Stigma empfunden (idw)


Friedrich-Schiller-Universität Jena - 26.08.2013

Hartz IV wird als Stigma empfunden

Soziologen der Uni Jena sehen Aktivierungsanspruch der "aktivierenden Arbeitsmarktpolitik" als gescheitert an



Selbstständige arbeiten selbst und ständig, sagt der Volksmund. Soziologen der Universität Jena rechnen viele Selbstständige deshalb der Gruppe der Um-Jeden-Preis-Arbeiter zu. "Der Schritt in die Selbstständigkeit ist für viele Menschen die letzte Chance, drohender Erwerbslosigkeit zu entgehen", sagt Prof. Dr. Klaus Dörre von der Universität Jena. Als Leiter einer sechsköpfigen Arbeitsgruppe hat der Arbeitssoziologe die sozialen Folgen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik untersucht. Die Ergebnisse dieser Studie sind jüngst erschienen.

Finanziell gefördert wurde die Studie "Entsteht eine neue Unterschicht? Erwerbsorientierungen und Institutionen an der Schnittstelle von Langzeitarbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäftigung" durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Während des über sieben Jahre laufenden Projekts wurden Betroffene der Hartz-Gesetze mehrfach befragt.

Im Zuge der Hartz-Gesetzgebung sei die "aktive" Arbeitsmarktpolitik durch die sogenannte aktivierende abgelöst worden, konstatiert Klaus Dörre. Zu den Hauptmerkmalen dieses Paradigmenwechsels gehört es, dass den Erwerbslosen Bewährungsproben auferlegt werden, um sie zu aktivieren. Die Jenaer Wissenschaftler haben ein teilweise bizarres Wettbewerbssystem ausgemacht, an dessen vorderster Front sich Fallmanager und "Kunden" gegenüberstehen.

Parallel zu diesem Paradigmenwechsel habe sich der Arbeitsmarkt verändert, nicht zuletzt im Zuge der Globalisierung. Der Befund der Jenaer Soziologen: Das Beschäftigungssystem hat sich von einer fordistischen Vollbeschäftigungs- zu einer prekären Vollerwerbsgesellschaft gewandelt. Die Um-Jeden-Preis-Arbeiter sind dabei nur eine Gruppe unter mehreren. Es gibt noch den Typus der Als-Ob-Arbeiter. Im Extremfall handelt es sich um Menschen, die morgens mit den anderen das Haus verlassen, um den Anschein einer geregelten Tätigkeit zu erwecken. "Das können auch Ein-Euro-Jobber sein oder Leute, die ehrenamtlich in einem Verein beschäftigt sind", sagt Klaus Dörre. Diese Tätigkeiten werden ausgeführt als handle es sich um eine reguläre Beschäftigung.

Einer solchen - scheinbar regulären Tätigkeit - gehen auch die sogenannten Bürgerschaftlich-Engagierten nach. Da sie keine Chance mehr sehen, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, finden sie im ehrenamtlichen Engagement die Möglichkeit eines sinnerfüllten Lebens. "Gradmesser bleibt für die Mehrheitsgesellschaft noch immer die existenzsichernde Erwerbsarbeit", sagt Prof. Dörre. Deshalb empfinden die meisten Hartz-IV-Empfänger ihren Status als Leistungsbezieher auch als Stigma. Vergleichbar sei das in gewisser Weise mit Menschen dunkler Hautfarbe im Süden der USA, sagt Dörre.

Insgesamt fällen die Jenaer Soziologen ein klares Urteil über die Hartz-Reformen: "Der entscheidende Punkt ist, dass die aktivierende Arbeitsmarktpolitik nichts aktiviert." Die Menschen würden sich im Laufe ihres Lebens ihre Erwerbsorientierung aneignen, diese sei relativ stabil und könne nicht einfach umgeformt werden. Deshalb sei auch der mit den Hartz-Gesetzen einhergehende Kontrollapparat teuer und letztlich sinnlos. Die Jenaer Soziologen schlagen deshalb vor, Sanktion gegen Leistungsbezieher zunächst auszusetzen. Außerdem müsse sinnvolle Beschäftigung geschaffen werden. Es gebe doch im Dienstleistungssektor großen Nachholbedarf bei pflegenden, erziehenden und bildenden Tätigkeiten. Außerdem sei ein gesetzlicher Mindestlohn unverzichtbar.

Bibliographische Angaben:
Klaus Dörre, Karin Scherschel, Melanie Booth, Tine Haubner, Kai Marquardsen, Karin Schierhorn.: "Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik", Campus Verlag, Frankfurt/M. 2013, 423 Seiten, 29,90 Euro, ISBN: 978-3-593-39797-9

Weitere Informationen unter:
http://www.uni-jena.de

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Stephan Laudien, 26.08.2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2013