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MELDUNG/1711: Der Sturz des Bruders sollte Warnung genug sein (SB)



Andre Dirrell wird mit James DeGale nicht spaßen

Am 23. Mai kämpfen Andre Dirrell und James DeGale in Boston um den vakanten IBF-Titel im Supermittelgewicht. Da Dirrell in Flint, Michigan, zu Hause ist, genießt er Heimvorteil, was DeGales Promoter Eddie Hearn jedoch nicht daran hindert, seinen 29 Jahre alten Boxer als ersten britischen Olympiasieger anzukündigen, der im Profilager Weltmeister wird und damit Geschichte schreibt. Während für den US-Amerikaner 24 Siege und eine Niederlage zu Buche stehen, hat sein britischer Gegner 20 Auftritte gewonnen und einen verloren.

James DeGale, der von den Olympischen Spiele 2008 in Beijing mit einer Goldmedaille heimgekehrt war, hat die einzige Niederlage im Profilager 2011 gegen seinen Landsmann George Groves bezogen. Seither konnte sich der Brite gegen zehn Kontrahenten durchsetzen, die durchweg nicht der allerersten Garnitur angehörten. Im Mai 2014 bezwang DeGale den US-Amerikaner Brandon Gonzales und wurde neuer Pflichtherausforderer des IBF-Weltmeisters. Sein Wunsch, sich mit Carl Froch zu messen, erfüllte sich nicht, da es sein prominenter Landsmann ablehnte, gegen ihn anzutreten. Um die Wartezeit zu überbrücken, kämpfte DeGale im November gegen Marco Antonio Periban, dem er in der dritten Runde das Nachsehen gab.

Der 31 Jahre alte Andre Dirrell hatte bei der Olympiade 2004 in Athen eine Bronzemedaille gewonnen. In seiner anschließenden Profilaufbahn unterlag er nur Carl Froch, der in Nottingham das Wohlwollen der Punktrichter auf seiner Seite hatte. Dirrell hat mit namhafteren Kontrahenten als DeGale im Ring gestanden und zuletzt sechs Kämpfe in Folge gewonnen, wobei er aufgrund einer Verletzung und Streitigkeiten mit seinem Promoter zwischenzeitlich für eine längere Frist außer Gefecht war. Eine Unterschrift bei dem einflußreichen Berater Al Haymon im vergangenen Jahr verlieh seiner Karriere neuen Schwung. Er bestritt zwischen August und Dezember 2014 drei Auftritte, bei denen er sich in noch besserer Verfassung als vor seiner Zwangspause präsentierte.

Andre Dirrell gilt im bevorstehenden Kampf gegen James DeGale als klarer Favorit, da er technisch versierter und beweglicher boxt als sein Gegner. Der Brite scheint dennoch so zuversichtlich zu sein, daß er in seinen jüngsten Stellungnahmen den Sieg in Boston als gegeben voraussetzt und bereits an künftige Auftritte denkt. Man fühlt sich aus aktuellem Anlaß an Willie Monroe erinnert, der vor dem Kampf gegen Gennadi Golowkin am vergangenen Wochenende sein Talent in den höchsten Tönen anpries und eine Sensation in Aussicht stellte. Das Ergebnis ist bekannt: Der Kasache brachte den Herausforderer binnen zwei Runden an den Rand der Niederlage, ließ ihm dann größeren Spielraum, um den Zuschauern gute Unterhaltung zu bieten, und machte schließlich in der sechsten Runde mühelos den Sack zu.

Wie DeGale unverdrossen im Interview erzählt, werde der Sieg über Andre Dirrell seine Karriere auf eine höhere Ebene katapultieren und ihm Respekt verschaffen. Er könne sich gut vorstellen, als neuer IBF-Weltmeister Revanche an George Groves zu nehmen. Groves und Carl Froch seien in England in aller Munde, so daß solche Kämpfe hervorragend zu vermarkten wären. Er selbst wolle jedenfalls gegen die Besten antreten und sich auch mit Gegnern wie Andre Ward, Arthur Abraham, Gilberto Ramirez und Gennadi Golowkin messen. [1]

Während er in den letzten beiden Jahren häufig mit Verletzungen in den Ring gestiegen sei, fühle er sich nun nach einem abschließenden Trainingslager in Miami ausgezeichnet vorbereitet und in Bestform. Er habe zu lange auf eine Titelchance gewartet, als daß er sie ungenutzt verstreichen lassen werde. Er sei inzwischen so gut geworden, daß ihn niemand mehr für eine freiwillige Titelverteidigung auswähle. Daher ergreife er diese Gelegenheit beim Schopf, sich mit einem namhaften Gegner wie Dirrell zu messen, den niemand übertreffe - von ihm selbst natürlich abgesehen, so der Brite. [2]

Wollte James DeGale sein vollmundiges Versprachen wahrmachen, müßte er sich gegenüber seiner Leistung im Kampf gegen Marco Antonio Periban insofern gewaltig steigern, als er damals ausgesprochen statisch agierte und seine langsamen Schläge deutlich telegraphierte. Das wird für Dirrell mit Sicherheit nicht ausreichen, so daß sich der Brite in vielerlei Hinsicht verbessert haben müßte, wollte er dem Favoriten erfolgreich Paroli bieten.

Das gilt um so mehr, als auch für Andre Dirrell viel auf dem Spiel steht und er sich daher ausgiebig vorbereitet und auf den Gegner eingestellt hat. Die damalige Niederlage in Nottingham, die Verletzungsstrecke und der Vertragsstreit haben ihn lange aus der Bahn geworfen und den ihm vorhergesagten Aufstieg in die höchsten Ränge seiner Gewichtsregion durchkreuzt. Nun eröffnet sich ihm die Gelegenheit, auf relativ leichtem Weg Weltmeister zu werden, nachdem Carl Froch den Titel niedergelegt hat und er mit James DeGale einen Gegner vor die Fäuste bekommt, der bislang nicht der ersten Garnitur des Supermittelgewichts angehört.

Vor wenigen Wochen wurde Andre Dirrells jüngerer Bruder Anthony überraschend von dem in Las Vegas lebenden Schweden Badou Jack als WBC-Champion im Supermittelgewicht entthront. Wenngleich man die Punktwertung durchaus in Zweifel ziehen konnte, da der Ringrichter dem Herausforderer diverse Regelwidrigkeiten wie Schläge auf den Hinterkopf und unter die Gürtellinie durchgehen ließ, hatte sich Anthony Dirrell die Niederlage im wesentlichen doch selbst zuzuschreiben. Er boxte pomadig, bewegte sich zu wenig und setzte auf einzelne Treffer, als sei er sich seiner Überlegenheit viel zu sicher. Dasselbe wird Andre Dirrell sicher nicht passieren, zumal ihm das unverhoffte Scheitern seines Bruders eine nachdrückliche Warnung sein dürfte.


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2015/05/degale-once-i-win-this-fight-against-dirrell-ill-get-a-lot-more-respect/#more-193227

[2] http://espn.go.com/boxing/story/_/id/12901838/james-degale-tells-carl-froch-retire-absolutely-batter-former-world-champion

19. Mai 2015


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