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KOMMENTAR/003: Hymnen-Skandal - Vorwand für innere Aufrüstung (SB)



Keine sportliche Großveranstaltung mehr, ohne daß den Athleten und Zuschauern nicht abverlangt würde, sich beim Klang der Nationalhymne andächtig, nationalstolz oder von Herzen gerührt zu geben. Was dem Teutonen sein Deutschlandlied ist, ist dem Gallier die Marseillaise. Allen Galliern? Nein, mitten im Herzen Frankreichs gibt es Zehntausende Menschen, die beim Klang der französischen Hymne nicht ehrfürchtig in eine Bewegungsstarre verfallen, keinen Respekt vor dem nationalen Einheitssymbol zeigen und auch keinen Anlaß haben, die "Grande Nation" zu besingen. Denn die Politik des Landes hat sie zu sozial deklassierten und kriminalisierten Parias gestempelt, in Ghettos gesperrt und zu "Abschaum" (racaille) erklärt, der "gesäubert" werden müsse, wie es kein geringerer als der höchste Repräsentant des französischen Staates, Präsident Nicolas Sarkozy, vor drei Jahren anläßlich von Unruhen in den französischen Trabantenstädten tat.

Die Bewohner der französischen Vorstädte, den Banlieues, sind meist zu einem Leben unter Armuts- und Elendsbedingungen verurteilt. In den ehemaligen Arbeitervorstädten und heutigen sozialen "Notstandsgebieten", in denen sehr viele Familien aus Nordafrika leben - rund 40 Prozent der Bewohner sind unter 25 Jahre alt, bis zu 50 Prozent der Jugend und jungen Erwachsenen sind arbeitslos (Landesdurchschnitt 22 Prozent) -, sind soziale Verwerfungen geradezu vorprogrammiert. Infolge polizeilicher Übergriffe, zum Teil tödlichen Ausgangs, war es bereits mehrmals in besagten Gebieten zu schweren Unruhen gekommen, die beispielsweise im Herbst 2005 zur Verhängung des Ausnahmezustandes durch die französische Regierung geführt hatten.

Inmitten des Pariser Armutsghettos gibt es einen wahren Prachtbau der Sozialkontrolle zu bestaunen: das riesige, vor zehn Jahren anläßlich der Weltmeisterschaft errichtete Fußballstadion Stade de France. Doch gerade dort, wo die Menschen eigentlich mit Brot und Spielen ruhiggestellt werden sollen, entzündet sich mitunter der Klassenwiderspruch, nämlich dann, wenn die Regulative sportlicher Konkurrenz, Fanrivalität sowie nationaler Selbstwert- und Überlegenheitsgefühle die gesellschaftlichen Widersprüche nicht mehr übertünchen können und ihre soziale Fesselgewalt zu verlieren drohen.

So geschehen bei einem Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und Tunesien am 14. Oktober 2008 im Pariser Stade de France (3:1), das in einen Eklat von landesweiter Tragweite mündete. Anhänger der Gästemannschaft hatten ähnlich wie schon 2001 beim Länderspiel gegen Algerien und 2007 gegen Marokko die französische Nationalhymne mit Pfiffen und Buhrufen bedacht. Franzosen maghrebinischer Herkunft waren unter den rund 60.000 Zuschauern klar in der Mehrheit. Vor dem Absingen der Marseillaise waren bereits die Namen der französischen Spieler mit Pfiffen quittiert worden, insbesondere jener aus Nordafrika, die sich nun im Trikot Frankreichs verdingen. Die lautesten Buhrufe mußte dabei Hatem Ben Arfa, dessen Eltern aus Tunesien stammen und der sich trotz der Anfrage des tunesischen Fußballverbandes für die französische Equipe tricolore entschlossen hatte, einstecken.

Trotz des symbolpolitischen Täuschungsmanövers, die Spieler Frankreichs und Tunesiens Schulter an Schulter, die Arme hinter ihrem Rücken verschränkt, jeweils abwechselnd nebeneinander stehen zu lassen und trotz der Maßnahme, eine Sängerin tunesischer Herkunft aus, wie es hieß, einst "ärmlichen Verhältnissen" singen zu lassen, ließen sich die Massen keinen Sand in die Augen streuen. Die später von Sportministerin Roselyne Bachelot und Staatssekretär Bernard Laporte reklamierten "gemeinsamen Werte des Respekts und der Ehre" bei Länderspielen entbehrten für die Mehrheit jedweder Grundlage. Ein 15jähriger Junge mit nordafrikanischen Wurzeln gab gegenüber der linksliberalen Zeitung "Liberation" als Grund seiner Pfiffe an: "Ich kann Ihnen sagen warum: Ich kann kein Land lieben, das uns auch nicht liebt."

Die Verunglimpfung der Nationalhymne - was übrigens nicht nur in Frankreich unter Strafe steht - löste unter den nationalistischen Franzosen einen Sturm der Entrüstung aus und rief sofort die politischen Sachwalter repressiver Staatlichkeit auf den Plan. Unter Führung Sarkozys wurde umgehend ein Krisengipfel im Elysée-Palast einberufen. Ministerin Bachelot faßte anschließend die drakonischen Maßnahmen, die man selbst nach gewalttätigen rassistischen Ausfällen in dieser Form bislang nicht getroffen hatte, zusammen: "Erstens: jedes Spiel, bei dem unsere Nationalhymne ausgepfiffen wird, wird sofort abgebrochen, und die Regierungsmitglieder verlassen auf der Stelle die Sportstätte, in der die Marseillaise ausgepfiffen wird. Zweitens: wenn es in einem Spiel zu solchen Vorfällen kommt, werden alle folgenden Freundschaftsspiele mit dem betroffenen Land für eine vom Fußballverband festgesetzte Dauer ausgesetzt."

Die Beschlüsse trafen insbesondere im linksliberalen Lager auf Skepsis oder Ablehnung. "Wie der Beschluß umgesetzt werden soll, erscheint im ersten Moment absolut rätselhaft", fragte sich hierzulande auch der Deutschlandfunk. "Wie will sich Frankreich für die WM qualifizieren, wenn gegnerische Fans nur bei der Hymne pfeifen müssen, um einen Spielabbruch zu erzwingen?", lautete der naheliegende Einwand vieler Medienvertreter. "Wenn Länderspiele abgebrochen werden, wenn die Nationalhymne ausgepfiffen wird, dann besteht kein Zweifel, wird es im Stadion und um das Stadion herum Krawalle geben", wußte selbst das regierungsfreundliche französische Blatt "Le Figaro" eins und eins zusammenzuzählen.

Sollten also Scharfmacher wie Sarkozy und Co - wie es in den meisten Stellungnahmen und Diskussionen immer wieder durchklingt - einen "lächerlichen" (sozialistische Oppositionspoltikerin Guigou), "unrealistischen" (UEFA-Mediendirektor Gaillard) oder "absurden" (UEFA- Präsident Platini) Beschluß gefaßt haben? Mitnichten. Ebenso zielgerichtet, wie die Politik unter kapitalistischem Vorzeichen nicht mehr für Arbeit und Produktion benötigte "Untermenschen" produziert und unter schikanösen Bedingungen in Armutsghettos pfercht, betreibt sie natürlich auch ein ausgeklügeltes System des sozialen Konfliktmanagements, das von disziplinatorischen Maßnahmen beim Sporttreiben und -konsumieren bis hin zu Kriminalisierung und massiver Repression reicht.

Ein ausgebauter europäischer Sicherheitsstaat wie der französische, der mit Präventionskonzepten zur Eindämmung von Kriminalität arbeitet, wartet logischerweise nicht darauf, daß sich entlang sozialer Konfliktlinien die unerträglich gewordenen gesellschaftlichen Widersprüche zu Flächenbränden unkontrollierten Ausmaßes entwickeln. Es geht vielmehr darum, die Massen schon im Vorfeld möglicher Sozialrevolten mit bürgerkriegsähnlicher Eskalation in Zaum zu halten. Das schließt absichtlich herbeigeführte, nur scheinbar irrationale Maßnahmen oder provokante Beschlüsse zweifellos mit ein, eben um ansonsten nur noch schwer zu kanalisierende Gewaltausbrüche schon im Vorwege ihrer Entstehung administrativ, polizeilich und militärisch beherrschbar zu halten. Fan-Ausschreitungen, mit denen nach Spielabbrüchen wegen Hymnen-Beleidigung ausdrücklich zu rechnen ist, gehören zu solch kalkulierten Maßnahmen. Sie eignen sich auch deshalb, weil der emotionale Überschwang der Beteiligten meist mit politischer und organisatorischen Indifferenz einhergeht und ihr Protest nur wenig Durchschlagskraft und Ausdauer besitzt. Wenn in den Medien dann noch von gewalttätigen Fußballfans mit migrantischem Hintergrund die Rede ist, die zudem staatliche Symbole beleidigt haben, dann weiß der brave Bürger sofort, wo die Schuldigen zu verorten sind.

Tatsächlich hat die französische Regierung nach den schweren Unruhen 2005 bereits wegweisende Vorkehrungen getroffen, die auf eine zunehmende Kontrolle des Alltags, die Kriminalisierung von Armut, die Rundum-Überwachung insbesondere der Sozialghettos und die Bekämpfung von Unruhen mit polizeilich-militärischen Mitteln hinauslaufen.

Nachdem 2006 in einer Testphase, etwa anläßlich der Rugby-WM im Pariser Grand Stade, mehrere Flugoperationen sogenannter Drohnen über den Banlieues durchgeführt wurden, um Fanbewegungen zu kontrollieren und etwaige Sicherheitsprobleme aufzuspüren, wird der Einsatz kriegserprobten Geräts in zivilen Krisenregionen immer mehr forciert. Die unbemannten Helikopter oder Flugzeuge, die mit Foto-, Video-, Nachtsicht- oder Wärmebildkameras ausgerüstet sind, können später auch mit, wie es im Polizeijargon heißt, "Leucht- und Blendmitteln" oder gar "Minibomben" bestückt werden, etwa um die Straßen von "Krawallmachern", "gewaltbereiten Fußballfans" oder schlicht "Abschaum" zu säubern, wie der Chef der französischen Regierungspartei die Marschrichtung bereits während seiner Zeit als Innenminister vorgab.

Es dürfte kein Zufall sein, daß die französische Regierung nur einen Tag nach ihrem vermeintlichen Schnellschuß, bei Hymnen-Pfiffen künftig Spiele abzubrechen und damit die Gefahr von Fanausschreitungen heraufzubeschwören, der Öffentlichkeit weitere Maßnahmen zur Aufrüstung der "inneren Sicherheit" vorstellte. So wird die Polizei künftig über fliegende Drohnen namens ELSA verfügen, die nicht mehr nur Schützengräben im Irak und Afghanistan kontrollieren, sondern die Pariser Untergrundbahn oder Jugendrevolten in den Vorstädten überwachen werden. Zudem sieht der Plan des Innenministeriums "1000 Kameras für Paris" vor, in "Bahnhöfen und Risikozonen" die Zahl der Überwachungskameras von 330 auf 1.200 zu erhöhen. Zeitungsberichten zufolge dürfen die Aufnahmen 30 Tage gespeichert werden.

Damit nehmen Frankreichs Vorstädte immer mehr den Charakter von Besatzungszonen an - Verhältnisse, die an Israel, neben den USA einer der Marktführer der Drohnen-Technologie, und seiner Besatzungs- und Kriegspolitik gegenüber den Palästinensern erinnern. Wer indes glaubt, daß Frankreich fern und Israel weit ist, der sollte sich vor Augen führen, daß auch hierzulande die innere Aufrüstung mit Drohnen unter dem Deckmantel der "Hooligan"-Bekämpfung oder noch unverfänglicher unter dem Vorwand der "sauberen Beweissicherung" bei Fanrandalen, wie es Jürgen Scherf von der Polizeidirektion Sachsen rechtfertigte, betrieben wird. Seit diesem Jahr ist die sächsische Polizei im Besitz zweier Drohnen, mit deren Hilfe "Rädelsführer" in der Menschenmenge schneller identifiziert, verfolgt und mit beweisträchtigen Bildern überführt werden können, wie Sachsens Innenminister Albrecht Buttolo erläuterte. Zum Start des Feldversuchs wurde in der Lokalpresse der sächsische Landespolizeipräsident Bernd Mebitz mit den bemerkenswerten Worten zitiert: "Unbekannte Gewalttäter werden wir auf Litfaßsäulen heften."

Die Jagdsaison ist somit eröffnet, wohl nicht zufällig im Osten Deutschlands, wo Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit unter Jugendlichen am stärksten um sich greifen. Vermeintliche "Rädelsführer" - noch sind es die Fußballfans, bald werden es Protestler bei Demonstrationen oder Verhaltensauffälligkeiten bei "potentiell Verdächtigen" sein - können mit hochauflösenden Kameras aus der Menge gefischt und strafbarer Handlungen bezichtigt werden. "Unbekannte Gewalttäter" sollen öffentlich an den Pranger gestellt werden - freigegeben zur Denunziation durch perfekt überwachte und kontrollierte Bürger.

18. November 2008