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KOMMENTAR/010: Tabubrecher Handball - Umkleidekabine wird zum RTL-Container (SB)



Im Rennen um mehr TV-Quote, Zuschauerattraktivität und Marktpräsenz ist den Nutznießern und Profiteuren des kommerziellen Handballs offenbar nichts mehr heilig. Nach Insiderangaben sollen die Rechte für die kommenden Weltmeisterschaften im Männer-Handball in Kroatien (16. Januar bis 1. Februar 2009) für rund sechs Millionen Euro an den Kölner Privatsender RTL veräußert worden sein. Das übersteigt den Erlös der WM 2007 in Deutschland, deren Rechte von ARD und ZDF gehalten wurden, um etwa das Sechsfache. Mag es auch so aussehen, als würde die Kasse des Deutschen Handballbundes (DHB) klingeln - all jene, denen der Handballsport nicht ausschließlich wegen der wirtschaftlichen Perspektiven lieb und teuer ist, werden dafür einen sehr hohen Preis zahlen.

Wie vom Big Brother-Sender nicht anders zu erwarten, warb RTL bei der kürzlichen Präsentation des Übertragungskonzepts nicht nur mit neuen Kameratechniken und -blickwinkeln, sondern auch neuen Schlüsselloch-Perspektiven. Erstmals wird eine Kamera in der Mannschaftskabine von WM-Titelverteidiger Deutschland installiert sein und Livebilder senden. Um den Tabubruch akzeptabel erscheinen zu lassen, soll es eine Vereinbarung zwischen dem Sender und Bundestrainer Heiner Brand geben, wonach Bilder nur nach Absprache gezeigt werden. "Big Brother findet bei uns nicht statt. Mehr Kameras zu positionieren ist das eine, sie zu nutzen das andere", beteuerte RTL-Sportchef Manfred Loppe, "wir gehen damit filigran um".

Der Dammbruch erfolgt also auf die behutsame, im Ergebnis aber gleichwohl zersetzende Art: Die bislang noch als Privat- oder Intimssphäre in Ehren gehaltene Umkleidekabine, die aus guten Gründen nicht dem Ergötzen der Öffentlichkeit feilgeboten wird, soll nun Bestandteil medialer Inszenierung werden.

Genaugenommen feierte die Enttabuisierung einer der letzten, von der Vermarktlichung noch nicht durchdrungenden Refugien im Profi-Mannschaftssport bereits im März 2004 anläßlich des Bundesliga-Spitzenspiels zwischen dem HSV Hamburg und dem THW Kiel (30:33) "Weltpremiere". Erstmals durfte damals das live übertragende NDR-Fernsehen einen Trainer in die Pausenkabine begleiten und ihm dabei über die Schulter schauen, wie er vor den Spielern eine (moderate) Standpauke hielt. Tabubrecher war der damalige HSV-Trainer, Manager und Sponsorenbeschaffer Bob Hanning, der das Handball-Produkt in der Hansestadt via Bild, Morgenpost und Fernsehen etablieren sollte.

Trotz Medien- und Sponsorendrucks untersagen immer noch einige Bundesliga-Trainer den Fernsehteams, sie mit offenem Mikrofon bei den "Time outs" während des Spiels zu behelligen. Dafür handelte sich beispielsweise der frühere Trainer des THW Kiel, Zvonimir Serdarusic, saftige Bußgelder durch die Handball-Bundesliga (HBL) ein, die das offene Mikrofon den Vereinen vorschrieb, ehe im August 2008 das Bundessportgericht nicht zuletzt vor dem Hintergrund, daß das Grundgesetz in Artikel 2, Abs. 1 die Vertraulichkeit des öffentlich gesprochenen Wortes schützt, dem Einspruch des THW gegen die Sanktionspraxis stattgab. Schon gar nicht haben es bislang Trainer erlaubt, daß Fernsehteams die Kabine betreten, um in der Halbzeitpause live daraus zu berichten. Denn anders als während der kurzfristigen Ansprachen bei den Auszeiten wird in der Kabine mehr abgehandelt, als das gemeine Publikum hören, sehen und vor allem verstehen kann.

Wer sich ein bißchen im Hochleistungssport auskennt, der weiß, wie schwierig es ist, Profispieler immer wieder und dauerhaft zu motivieren, an und über ihre Schmerz- und Leistungsgrenze zu gehen. Das setzt meist ein Vertrauensverhältnis zwischen Trainer und Spieler voraus, das der grundlegenden Wirtschaftsbeziehung sich ansonsten fremder, nur auf Vertragsbasis an einem Strick ziehender Berufskumpanen ein menschliches Antlitz zu geben sucht. Diese Privatheit im Umgang wird schlichtweg untergraben, sobald nicht mehr nur die bekannten Floskeln, Phrasen und Allgemeinplätze des Gewerbes über den Äther gehen (siehe Interviews, Pressekonferenzen etc.), sondern die persönliche Beziehung von Trainer und Spieler verdinglicht und als Objekt der Betrachtung live über alle Mattscheiben flimmert.

Was weiß denn das breite Publikum, welchen Draht der Trainer zu einem Spieler hat? Es gibt Trainer, die stauchen einen Spieler regelrecht zusammen, kompromittieren ihn oder befleißigen sich derber Ausdrucksformen. Andere wiederum versuchen vorsichtig und behutsam auf den Spieler einzuwirken. Da gibt es jede Menge, auch situationsbedingte, Spielarten und Techniken, an denen bestimmt nichts schönzureden ist, denn auch die weiche, als pädagogisch wertvoll verklärte Leistungspeitsche vermag das über soziale und ökonomische Abhängigkeitsmechanismen regulierte Gewaltverhältnis der Sport-Gladiatoren nicht in Luft aufzulösen.

Die persönliche Übereinkunft zwischen Trainer und Spieler gibt es aber definitiv nicht zwischen den sportlichen Protagonisten und den Rezipienten sportlicher Leistungen vor dem Fernsehgerät. Was mithin der uneingeweihte Zuschauer aus der Kabine vernimmt - sanfte, laute, harsche, garstige Töne -, es wird und kann in der Regel nur zu Fehleinschätzungen beim auf Unterhaltung abonnierten Publikum, ja auch bei den Reportern, die normalerweise keinen Jota von den gesellschaftlichen Wohlverhaltensnormen abweichen, führen.

Wie jeder leicht nachvollziehen kann, bedeutet der Schritt ins mediale Rampenlicht eine zusätzliche soziale Streßsituation. Spieler und Trainer sind nicht mehr unter sich, sondern alle Beteiligten geraten unter Druck, sich vor den Augen der Öffentlichkeit ins Benehmen zu setzen. Ähnlich, wie die panoptische Überwachungsgesellschaft den gläsernen Bürger unter Konformitätsdruck setzt, seine Verhaltensweisen den Erwartungen und Vorgaben seiner Kontrolleure anzupassen, damit er sich nicht verdächtig macht, gerät der medial ausgeleuchtete Sportler oder Trainer unter Zugzwang, sich wohlfeil zu präsentieren, will er später keine üblen Nachreden riskieren.

Zudem ist der Trainer gehalten, das gespannt lauschende Publikum nicht mit der Preisgabe von taktischen Finessen, die sehr wohl unangenehme Auswirkungen haben können (z.B. wenn infolge vom Trainer angewiesener taktischer Fouls der Gegner sich verletzt oder wenn theatralische Fouls Spiele entscheiden), zu verschrecken. Das muß der Trainer schon aus Selbstschutzgründen machen, um nachher nicht ins Kreuzfeuer der Kritik zu geraten oder juristisch belangt zu werden. Eins ist jedenfalls klar: Sind Kameras und Mikrofone dabei, dann kann der Trainer nicht sein ganzes Repertoire ausspielen, sondern muß sich Zügel anlegen und einen Spagat vollführen zwischen dem, was die Spieler verstehen und dem, was das Publikum verstehen soll.

Die Profispieler indes, die normalerweise alles mitmachen, um "ihren" Sport bzw. ihren eigenen Marktwert hochzuhalten, befänden sich auf einem kapitalen Holzweg, sollten sie tatsächlich annehmen, daß der mediale Lauschangriff in der Kabine ohne Rückwirkungen auf sie bliebe. Einmal abgesehen davon, daß sie nicht mehr frei von der Leber weg sprechen können, wollen sie verhindern, etwa nach unbedachten Kommentaren später in der Bild-Zeitung zum Gespött gemacht oder gar wegen vereins- oder verbandsschädigender Äußerungen mit Abmahnungen überzogen zu werden, eröffnet sich auch ein neues Feld für öffentliche Schuldzuweisungen. Wenn beispielsweise ein Spieler, der in der Kabine vom Trainer abgekanzelt wurde, dann auf dem Spielfeld weiterhin schlecht aussieht, dann wissen das Publikum und die Sportjournalisten natürlich ganz genau, wem sie den Schwarzen Peter zuschanzen können. Der Trainer hat's ja schließlich gesagt!

Zweifellos wird Bundestrainer Heiner Brand seinen Schützlingen ganz andere Dinge hinter die Ohren schreiben, wenn die Kamera ausgeschaltet ist. Insofern kann davon ausgegangen werden, daß deftige Standpauken vor Spielern mit hängenden Köpfen eher nicht zu sehen sein werden. Doch der Anfang ist getan. Insbesondere Trainern eröffnet sich nicht nur wegen des beruflichen Erfolgsdrucks, sondern auch wegen des Drangs zur persönlichen Selbstdarstellung ein weites Feld, sich in der Öffentlichkeit mit einschlägigen Gardinenpredigten zu Lasten der Spieler zu profilieren. Gleichzeitig bekommt eine live zugeschaltete Fernsehnation, die glaubt, sich ungeschoren den Genüssen konsumtiver Freuden hingeben zu können, brühwarmen Anschauungsunterricht, mit welchen disziplinatorischen Mitteln ihr künftig selbst am Arbeitsplatz vom Chef eingeheizt werden könnte, schließlich gelten Profisportler, die sich vermeintlich freiwillig dem als Spiel getarnten Disziplinarregime unterworfen haben, als leuchtende Vorbilder für die Gesellschaft.

Um den Zuschauern den neusten Kitzel zu liefern, wäre RTL sicherlich froh, wenn sich die Sportler in der Umkleidekabine ähnliche Szenen machten wie die Bewohner des Big Brother-Containers. Bedenklich ist allemal, daß diesem Tabubruch der nächste folgen wird. Da im Spitzensport, der sich mit Haut und Haaren seiner kommerziellen Verwertbarkeit verschrieben hat, die Sensation, der Skandal oder eben der Tabubruch die Musik macht bzw. neue Reize für das Publikum setzt, liegt es in der Natur der Sache, daß hierbei stetig Grenzen überschritten werden müssen. Wurden in der Handballjournaille bis vor kurzem noch die TV-Mikrofone während der Auszeit mit einem leisen Anflug von Kritik als "Eindringen in die Privatsphäre der Mannschaft" bezeichnet, so finden ähnliche Vorbehalte angesichts der noch viel weitreichenderen Live-Observation der Umkleidekabine nicht einmal mehr Erwähnung, eben weil sich das ganze Handballgeschehen den fremdbestimmten Wünschen der Medien und Vermarkter nachordnet und den Spielern offenbar jeder Ansatz kritischer Selbstrepräsentanz fehlt. Somit steht zu befürchten, daß bald auch Frauenhandball Lustobjekt "filigranen" Kameraumgangs bei RTL wird.

16. Dezember 2008