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KOMMENTAR/016: René Herms - Kollateralschaden des Leistungssports (SB)



Der "Chefinquisitor" der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA), Armin Baumert, hatte wohl gehofft, Wasser auf seine Mühlen leiten zu können. Kaum war der 800-Meter-Läufer René Herms am 10. Januar leblos in seiner Wohnung gefunden worden, da hatte der NADA-Vorsitzende den vollkommen überraschenden Tod des 26jährigen bereits mit dem D-Wort in Zusammenhang gebracht und eine restlose Aufklärung des Falls gefordert. "Zumal er als Leichtathlet eine Sportart betrieb, die zur Gruppe der stark dopinggefährdeten Sportarten zählt", so Baumert. Überhaupt seien für ihn Todesfälle unter Topsportlern nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. "Eine skrupellose, menschenverachtende Dopingmafia finden Sie nicht nur im Spitzen- sondern auch im Breitensport."

Allein, die ultimative Antwort auf alle Ungereimtheiten, Widersprüche und Exzesse des Breiten- und Leistungssports, nämlich Doping, mochte sich nicht einstellen. "Es gibt keinen Hinweis auf Doping", erklärte Staatsanwalt Christian Avenarius bei der Bekanntgabe des Obduktionsergebnisses. "Er ist eines natürlichen Todes gestorben."

Damit scheint der "Aufklärung" amtlicherseits Genüge getan. Ursache für den plötzlichen Tod von René Herms soll, wie die Staatsanwaltschaft Dresden mitteilte, eine durch eine Herpesinfektion ausgelöste Herzmuskelentzündung (Virusmyokarditis) gewesen sein. Die Infektion könne schon länger zurückgelegen haben, beispielsweise verursacht durch Röteln oder eine Gürtelrose, lauten weitere Mutmaßungen.

Was daran "natürlich" sein soll, daß ein durchtrainierter Mittelstreckenläufer von 26 Jahren, der nicht unter Dopingverdacht steht, der keinen Alkohol trank und nicht rauchte, der drei- bis viermal im Jahr zum Gesundheitscheck und zur Leistungsdiagnostik kam (zuletzt im November), der trainings- und wettkampfdiagnostisch betreut wurde, der sich Stunden vor seinem Tod noch ganz normal und ohne Anzeichen von seinem Trainer verabschiedete, der äußerlich sichtbar lediglich eine leicht verschnupfte Nase in Nachwirkung einer Grippe über Silvester aufwies und dem Nachrichten von Marathonläufern oder Fußballspielern, die plötzlich tot umkippten, immer eine Warnung gewesen waren, vor dem heimischen Computer den "Ruhetod" stirbt - noch beliebter ist der Begriff "Sekundentod" oder auch "plötzlicher Herztod" -, bleibt im wahrsten Sinne des Wortes schleierhaft. Der Verdacht drängt sich geradezu auf, daß hier mit scheinbar so einleuchtenden Begriffen wie "natürlicher Tod" oder "plötzlicher Herztod" etwas verschleiert werden soll, was in der sportifizierten Leistungsgesellschaft nicht mehr hinterfragt werden darf. Das liegt schon deshalb nahe, weil bei Sportlern der "plötzliche Herztod" als häufigste Todesursache gilt und laut Statistik [1] Leistungssportler verglichen mit Nichtsportlern ein bis zu viermal so hohes Risiko haben, vom Sekundentod ereilt zu werden.

Um die beängstigende Zahl von bis zu tausend Sportlern, die jedes Jahr - von den Medien in der Regel unbeachtet - den "plötzlichen Herztod" in Deutschland sterben, zu beschwichtigen, erklären insbesondere Sportmediziner immer wieder gern, daß "der Sport per se keinen relevant negativen Einfluss" hätte, wie etwa Prof. W. Kindermann vom Institut für Sport- und Präventivmedizin der Universität des Saarlandes in einer vielbeachteten Studie [2] reklamierte. Allerdings könne "akute körperliche Belastung bei gleichzeitiger kardiovaskulärer Erkrankung plötzliche Herztodesfälle triggern", sprich auslösen.

Um die Gefahren durch Sport bzw. Leistungssport zu bagatellisieren, wird er kurzerhand zum "Auslöser" deklariert. Somit gilt er auch nicht als "Ursache" für den plötzlichen Herztod. Mit diesem Erklärtrick kann die nächste Stufe der Ursachenzuordnung sondiert werden, nämlich die der vielfältigen Herzerkrankungen, die zum Teil erblich bedingt sein sollen oder eben erworben werden. Mit diesem Schritt kann das Sporttreiben weiterhin offiziell als gesund bezeichnet werden, was für den sportindustriellen Komplex und für die Gesundheitspolitik ungeheuer wichtig ist, während tot etwas ganz anderes macht, nämlich z.B. wie bei Herms eine "beidseitige, virusbedingte Herzmuskelentzündung", die nicht vollständig auskuriert wurde. Die sich daran anschließende Vorwurfslage, die mehr oder weniger offen zutage tritt, lautet nun, daß der (Profi)Sportler "zu ehrgeizig" oder "zu leichtsinnig" gewesen wäre, weil er "zu früh" wieder ins Training eingestiegen sei, die Symptome oder körperlichen Warnsignale "übergangen" habe und dergleichen mehr.

Ein Lehrbeispiel für eine gegen den Athleten gekehrte Ursachenforschung lieferte der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Clemens Prokop. Zwar habe er laut Süddeutscher Zeitung (23.1.09) intern die Frage gestellt, "wie gut unser Gesundheitsmanagement" sei. Auch räumte er ein, daß René Herms seit Jahren an entsprechenden Topteam-Lehrgängen, bei denen es um Aufklärung, Betreuung und Prävention gehe, teilgenommen habe. Dennoch bestehe der Verdacht, daß sich die "subjektive Gesundheitseinschätzung mancher Sportler öfter mit Leichtsinn paart". Und, so Prokop weiter: "Wir müssen versuchen, die Athleten zu größerer Selbstsorgfalt zu bewegen."

Am Ende wird René Herms also höchstselbst verdächtigt, nicht alles getan zu haben, seinen Tod zu vermeiden. Was ist aber, wenn insbesondere Leistungs- und Berufssportler gar keine Chance haben, den vermeintlich objektiven Einschätzungen, Ratschlägen und Weisungen der Ärzte Folge zu leisten, schon gar nicht im postulierten Sinne?

Einmal davon abgesehen, daß es mit zu den Wesensmerkmalen des Leistungssports zählt, daß die Sportler Erschöpfungs- und Schmerzsymptome übergehen, es laut Trainingslehre sogar von ihnen verlangt wird, körperliche Warnsignale geflissentlich in den Staub der Tartanbahn zu treten, um leistungssteigernde motorische und physiologische Effekte zu erzielen, erzeugt das Leistungssportsystem als solches bereits einen so hohen sozialen und physischen Leidensdruck, daß die Sportler gar nicht anders können, als die Ratschlüsse der Experten zu verfehlen. Spitzensportler sind aufgrund des permanenten Leistungsstresses und der dadurch bedingten Schwächung des Immunsystems geradezu prädestiniert für Erkältungen, Infekte und dergleichen, weshalb sie bei ihnen auch gehäuft auftreten. Wollten sie diese immer objektiv, also über die "subjektive Gesundheitseinschätzung" hinaus, ausheilen, müßten sie sich nach jeder Erkältung einer genauen Herzuntersuchung unterziehen. Abgesehen vom Aufwand - wer sollte das bezahlen?

Das Belohnungs- und Bestrafungssystem des Leistungssports zwingt Athleten schon aus existenziellen Gründen dazu, ständig Topleistungen und Erfolge zu bringen. Ansonsten laufen sie Gefahr, aus dem Fördersystem herauszufallen. Bestes Beispiel René Herms. Der zwölffache Deutsche Meister bestritt sein Leben einst vom monatlichen Sold der Sportförderkompanie der Bundeswehr, vom Grundgehalt und den leistungsbezogenen Prämien des Ausrüsters, von Zahlungen des Vereins sowie Gagen der Veranstalter.

Doch ein paar Zehntelsekunden langsamer als zu seinen besten Tagen (Bestzeit 2004) reichten schon, daß der einst als "Jahrhunderttalent" Gefeierte immer mehr auf dem finanziellen Zahnfleisch kroch: 2006 scheiterte Herms bei der EM in Göteborg im Vorlauf. Es folgten ein Trainer- und Vereinswechsel, letzteren nahm Sponsor Asics zum Anlaß, die Zuwendungen zu kürzen. Weil er im Sommer 2007 nicht deutscher Meister wurde, verpaßte er die Qualifikation für die WM in Osaka und verlor seinen Status als Sportsoldat. Er rutschte in den B-Kader. 2008 wurde er abermals nicht Meister, verpaßte die Olympischen Spiele knapp und büßte auch seinen B-Kader-Status ein. Zwar fiel Herms finanziell nicht ins Bodenlose, doch zuletzt soll er nur noch 500 Euro im Monat gehabt haben.

Als seine verwitwete Frau Stefanie in der Sächsischen Zeitung (19.1.09) darüber klagte, daß ihm der Rücken gekehrt worden sei, als er in Schwierigkeiten steckte und mit Problemen zu kämpfen hatte, daß er sich Geld geliehen habe, um Rechnungen bezahlen zu können, daß die Lebensversicherung gekündigt wurde, um die Miete zahlen zu können, und daß auch das Begräbnis nicht ohne Schulden vonstatten gehen würde, wurde rasch eine Spendenaktion vom Dresdner SC ins Leben gerufen, der sich auch der Verband anschloß. Der Landessportbund Sachsen übernahm die Beerdigungskosten. Des weiteren wurde ein Artikel im Berliner Tagesspiegel (26.1.09) lanciert unter dem Titel "Weich gelandet. René Herms' Witwe beklagt mangelnde Unterstützung - doch sie liegt falsch", in dem Männer-Bundestrainer Henning von Papen ganz unverfroren um Verständnis für den "emotionalen Ausnahmezustand" von Frau Herms bat und die desolate finanzielle Situation des Mittelstecklers mit Hinweisen wie "Selbst als er nicht mehr im B-Kader war, gehörte er zu den bestgeförderten Athleten Deutschlands. Er lag auf Top-Team-Niveau.", zu relativieren versuchte.

Es mag sein, daß sich der Leichtathletik-Verband und andere Förderer teilweise noch recht entgegenkommend gegenüber René Herms verhalten haben, doch das wirft um so mehr ein Schlaglicht darauf, wie es um die Masse der Sportler bestellt sein muß, die im leistungssportlichen Selektionssystem niemals auch nur Deutscher Meister geworden sind.

René Herms hat sich als Athlet stets mustergültig verhalten und wurde nun als Kollateralschaden der sportifizierten Gesellschaft, die den Leistungs- und Hochleistungssport kultiviert hat, zu Grabe getragen. Eine "restlose Aufklärung" seines tragischen Todes, die die Widersprüche des Breiten- und Leistungssports nicht reflexartig bei der "Dopingmafia" zu verorten sucht, wie es der NADA-Chef posaunte, unterbleibt von offizieller Seite her nicht ohne Grund.

[1] Zitiert aus Die Zeit, 06.09.2007, Nr. 37
[2] Zitiert aus Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, Jahrgang 56, Nr. 4 (2005)

30. Januar 2009