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KOMMENTAR/031: "Obama-Faktor" - des Sportjournalisten liebstes Kind (SB)



Mit Chicago, Madrid, Rio de Janeiro und Tokio ringen vier Metropolen um den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2016, des größten Sportereignisses der Welt. Die Entscheidung fällt auf der Session des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) am 2. Oktober 2009 in Kopenhagen. Es gereicht den Sportjournalisten, die ohnehin große Schwierigkeiten haben, sich in ihrer Arbeit von den Public Relations- und Marketing-Abteilungen der Sportdach- und Fachverbände abzugrenzen, allerdings nicht zur Ehre, daß sie den Olympia-Hype im günstigsten Fall mit kritischer Attitüde begleiten. Solange sich der Anspruch auf journalistische "Unabhängigkeit" und "Qualitätsverbesserung", wie er etwa von den "Freischreiber"- oder "sportnetzwerk"-Journalisten erhoben wird, allein auf Abgrenzungsprobleme zum Big Business der Sportindustrie bezieht, sich ansonsten aber am politischen Establishment und den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen schadlos hält, wirkt auch der "kritische Sportjournalismus" systemstabilisierend und damit anti-emanzipatorisch.

Das läßt sich dieser Tage im Zusammenhang mit der Olympia-Berichterstattung besonders deutlich an zwei Beispielen festmachen. Chicago wird von den hiesigen Medien unverwandt als Top-, Mit- oder Geheimfavorit für die Austragung der Sommerspiele 2016 hochgejubelt. Kritische Töne erntet der US-Bewerber vor allem wegen der offenkundigen finanziellen Abhängigkeiten. Erstmals wird das IOC die Fernsehrechte nicht vor der Vergabe der Spiele verkaufen, sondern nachdem der Kandidat feststeht - sollte dies Chicago sein, hätte das IOC mit erheblich mehr Fernsehgeldern durch den amerikanischen Sender NBC zu rechnen. Das Geld-Argument wird allerdings nicht nur als profitable Verheißung, sondern auch als Mittel der Erpressung aufgefaßt. Sollten die USA, aus denen vier der neun IOC-Hauptsponsoren stammen, nicht die Spiele bekommen, müßten sowohl das IOC als auch die olympischen Sommerverbände finanzielle Abstriche machen. Insbesondere letzteren Verbänden stößt überdies die ungerechte Sonderrolle des amerikanischen NOKs (USOC) beim Verkauf der Olympiarechte sauer auf, dem aus alten Verträgen knapp 13 Prozent der TV-Einnahmen des IOC und 20 Prozent der Sponsoreneinnahmen zustehen. Kaum zu glauben, aber das USOC erhält vom Olympiakuchen in etwa soviel wie die anderen 205 NOKs und die 35 internationalen Fachverbände mit olympischen Sportarten zusammengenommen! Um die Chicago-Bewerbung nicht zu gefährden und gleichzeitig die aufbegehrenden olympischen Verbände hinzuhalten, hat das IOC die Neugestaltung der Verträge, die bis 2020 eingefroren sind, ab 2013 angekündigt. Wie ein Bestechungsversuch klingt zudem das USOC-Angebot, bis zu 20 Millionen Dollar als Sondervergütung zur Finanzierung der Welt-Anti-Doping Agentur (WADA) und des Internationalen Sportgerichtshofs (CAS) lockerzumachen.

Ungeachtet dessen, daß die Zeitung "Chicago Tribune" das für die Bewerberstadt ungünstige Umfrageergebnis von 76 Prozent Gegenstimmen aus dem Online-Angebot schnell wieder tilgte, sowie des negativen Alleinstellungsmerkmals, daß die US-Bundesregierung nur für die Sicherheitskosten aufkommt, im Gegensatz zu Madrid, Tokio oder Rio de Janeiro aber keine Ausfallbürgschaften für die Spiele garantiert, wird der "Obama-Faktor" von den Medien immer noch als Pfund, mit dem sich wuchern läßt, gehandelt und der neue US-Präsident als großer "Hoffnungsträger" der Olympia-Bewerbung gepriesen. Kein Sportjournalist würde sich einen Zacken aus der Krone brechen, den Folterstaat USA etwa wegen systematisch verübter Grausamkeiten in Guantanamo, Bagram, Abu Ghraib und namenlosen Kerkern in aller Welt oder etwa wegen seiner blutigen Kriege in Afghanistan, Pakistan und dem Irak als vollkommen indiskutablen Olympiakandidaten zu bezeichnen.

Wie paßt das zusammen, daß Barack Obama den Mitarbeitern seines Auslandsgeheimdienstes, die sich schwerster Verbrechen bei Verhören an sogenannten Terrorverdächtigen schuldig gemacht haben, Folterdispens zusicherte, während er gleichzeitig in der hiesigen Berichterstattung als "Charismatiker" und größte "Werbe-Ikone" für die Chicago-Bewerbung goutiert wird? Neuesten Meldungen zufolge will Obama auch entgegen früheren Wahlversprechen die Militärtribunale, abgesehen von einigen kosmetischen Korrekturen, fortführen, die im krassen Gegensatz zu europäischen und völkerrechtlichen Standards stehen.

Der Einwand, dies (die Politik) habe nichts mit Sport zu tun und folgerichtig nichts in der Sportberichterstattung zu suchen, kann in Anbetracht der politischen Munition, die ansonsten im Sportteil der Zeitungen bei der olymischen Kandidatenkür verschossen wird, nicht verfangen. So liefen die sich kritisch gebenden Sportjournalisten im Fall von Olympiamitbewerber Madrid geradezu zur Hochform auf, als es darum ging, das neueste Repressionsniveau im Anti-Doping-Kampf auf sportpolitischer Ebene durchzusetzen. Der Hintergrund: Nachdem eine Arbeitsgruppe der Europäischen Union die Meldevorschriften von Athleten gemäß des neuen WADA-Codes, wonach Topsportler 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag für Dopingkontrollen zur Verfügung stehen müssen, als Verstoß gegen EU-Recht ablehnte, hatte die spanische Regierung ein "Königliches Dekret" verfügt, demzufolge auf spanischem Territorium zwischen 23 und acht Uhr morgens keine Dopingkontrollen mehr durchgeführt werden dürfen.

Statt dieses Dekret zum Schutz der Bürgerrechte als fortschrittlich zu begrüßen und allen EU-Mitgliedsstaaten zur sofortigen Nachahmung zu empfehlen, kolportierte die gesamte hiesige Presse, daß Madrid Konsequenzen für die eigene Olympiabewerbung 2016 drohten, falls die spanische Regierung die Entscheidung nicht zurücknehme. Wie ein Spielmannszug hinter dem Tambourmajor scharten sich die Pressefritzen hinter der Drohhaltung von WADA-Generaldirektor David Howman, der bekräftigt hatte, "wenn man Olympische Spiele veranstalten will, kann man kein Gesetz haben, in dem festgelegt wird, daß Doping-Kontrollen nicht 24 Stunden am Tag durchgeführt werden dürfen".

Nicht die naheliegende Frage wurde diskutiert, wie sich eine Überwachungs- und Kontrollagentur für Sportler mit Sitz in Montreal anmaßen kann, eine souveräne europäische Regierung, die sich im Einklang mit EU-Datenschutzbestimmungen und -Arbeitsrechten befindet, zur Rücknahme einer Verordnung zu pressen. Im Gegenteil, die Verletzung der Persönlichkeitsrechte von Athleten, die offensichtlich nicht mehr als Bürger, sondern nur noch als Funktionssklaven wahrgenommen werden, wurde vom Sport-Medien-Komplex höhnisch zur "Aufforderung" oder "Einladung" für Sportler uminterpretiert, sich nach Spanien zu begeben, um des nächtens dopen zu können.

Liegt das nicht auf einer politischen Linie: den Folterfaktor bei der Hofierung Obamas auszublenden und den Dopingfaktor beim Abbau bürgerlicher Schutzrechte ins Licht zu rücken? Spricht es nicht Bände, daß der neueste Vorschlag von Leichtathletik-Präsident Clemens Prokop, "die NADA müsste so etwas wie eine Doping-Polizei mit staatlicher Kompetenz werden", ohne kritische Erwiderung blieb - ebenso wie die erneute Forderung von Bayerns CSU-Justizministerin Beate Merk, Sportbetrug unter Strafe zu stellen und ein eigenes Anti-Doping-Gesetz zu schaffen? Fällt den Journalisten denn gar nicht auf, daß mit der Freisetzung des staatlichen Repressionsinstrumentariums, "um es deutlich zu sagen, die Polizei durch die Schlafzimmer" geht, wie es bereits vor Jahren der damalige DSB-Präsident Manfred von Richthofen formulierte? Die Kriminalisierung von Athleten wird zwangsläufig dazu führen, daß die Polizei und die "NADA-Hilfssheriffs" nicht nur auf dem Sportplatz in die Taschen von Trainern schauen, wie es Prokop verharmlosend darstellt, sondern in die Privaträume von ganzen Sportlerfamilien vordringen, um diese etwa wegen verdächtiger Medikamentenbestände zu überprüfen (verdeckte Observation und Telefonüberwachung inklusive). Das liegt in der Logik staatlicher Verbrechensbekämpfung, die im unter Generalverdacht stehenden Sport ein geradezu paradiesisches Aktionsfeld vorfindet, da begründete Verdachtsmomente gar nicht erst konstruiert werden müssen. Wann wachen die Sportjournalisten endlich auf und verlassen das warme Bett einer totalitären Dopingmoral, die zielsicher in den repressiven Überwachungsstaat mündet? Oder sollte am Ende die neueste Strategie von US-Präsident Barack Obama, entgegen bisherigen Ankündigungen die Fotos von mißhandelten Häftlingen im Irak und in Afghanistan nun doch nicht zu veröffentlichen, da man antiamerikanische Gefühle wecken könnte, als heimliche Richtschnur auch für den "kritischen Sportjournalismus" gelten, die Widersprüche der Dopingbekämpfung kurzerhand unter den Tisch fallen zu lassen, frei nach dem Obama-Motto: aus den Augen, aus dem Sinn?

18. Mai 2009