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KOMMENTAR/045: Caster Semenya - Produktivfaktor für westlichen Sport- und Kulturimperialismus? (SB)



Der Fall der 18jährigen Südafrikanerin Caster Semenya, die bei der Leichtathletik-WM in Berlin über 800 Meter die Goldmedaille errang und anschließend einer medialen und sportmedizinalen Hetzkampagne wegen des Verdachts "falscher" Geschlechtszugehörigkeit ausgesetzt wurde, macht deutlich, daß die afrikanischen Bevölkerungen noch nicht vollständig vom westlichen Kultur- und Sportimperialismus vereinnahmt sind. So löste die Forderung des Leichtathletik-Weltverbandes (IAAF), Caster Semenya aufgrund "weltweit geäußerter Zweifel" (Deutschlandfunk) an ihrer Weiblichkeit einem Geschlechtstest zu unterziehen, in ihrer Heimat einen Sturm der Entrüstung aus, der sich mehr und mehr zu einem ausgeprägten Politikum entwickelt hat. Fast ganz Südafrika scheint hinter der jungen Läuferin zu stehen: Medien, Funktionäre, Sportler/-innen, Gewerkschaften, Jugend- und Studentenverbände, Künstler, Kirchen, politische Parteien und Frauenrechtsgruppen riefen zu Protesten auf. Die Frauenministerin des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC, Regierungspartei), Noluthando Mayende-Sibiya, versicherte Semenya der Solidarität des ganzen Landes. "Nieder mit dem IAAF!", sagte sie zur Begrüßung in Johannesburg, "Caster, wir stehen hinter Dir!"

Die Nachwuchsorganisation der an der Regierung beteiligten Kommunistischen Partei (SACP) erklärte in einem offiziellen Statement: "Das klingt nach schlimmstem Rassismus; es repräsentiert eine Mentalität, die konform mit einem weiblichen Schönheitsideal der weißen Rasse geht." Der Verband der südafrikanischen Fußballspieler teilte mit: "Es zeigt, dass diese imperialistischen Länder es sich nicht erlauben können, das Talent, das Afrika als Kontinent hat, zu akzeptieren." Der Vorsitzende des südafrikanischen Leichtathletik-Verbandes, Leonard Chuene, kündigte unterdessen an, das Ergebnis des von der IAAF angeordneten Geschlechtstests, egal ob positiv oder negativ, nicht anzuerkennen. Er verstehe das Ganze zunehmend als "Beleidigung des Landes". Der traumatisierte Teenager sei Südafrikas "neue Saartjie Baartman" - womit eine Buschmann-Frau gemeint ist, die einst im kolonialen Europa dafür herhalten mußte, die Sensationslust der Zuschauer und Neugier der Wissenschaftler zu befriedigen.

Aus Protest gegen den Geschlechtstest will sich Südafrika bei der Uno-Menschenrechtskommission beschweren. Der Vorsitzende des sportpolitischen Ausschusses im Parlament in Kapstadt, Butana Komphela, sieht die "Rechte und Privatsphäre" der Läuferin Semenya im erheblichen Maße untergraben und sprach von einer erniedrigenden, sexistischen und rassistischen Aktion der IAAF. Es habe zahlreiche weiße Sportlerinnen gegeben, die männliche Züge hatten, aber nicht getestet wurden. Nur weil Semenya schwarz sei und ihre europäischen Mitbewerber aus dem Feld geschlagen habe, gebe es nun diesen ganzen Aufruhr, erklärte der Politiker.

In den westlichen Kontroll- und Überwachungsgesellschaften, die den entpolitisierten Leistungssport als Vehikel nutzen, um zunächst die Spitzensportler (siehe WADA-Code), später dann alle Bürgerinnen und Bürger unter generalisierten Betrugsverdacht zu setzen, räumen die Funktionäre zwar eine "unseriöse Behandlung des Falles" (IAAF-Präsident Diack) und eine "indiskrete Handhabe" aufgrund einer "Informations-Panne in der IAAF" (Council-Mitglied Helmut Digel, dpa) ein. Doch an der grundsätzlichen Legitimität des vom Weltverband angeordneten Geschlechtstests, der nach Spiegel-Angaben "schon vor ihrer Ankunft in Berlin in Südafrika begonnen" habe und an dem ein Gynäkologe, ein Internist, ein Endokrinologe, ein Geschlechterexperte sowie ein Psychiater beteiligt seien, wird nicht gerüttelt. Schließlich sei im Hochleistungssport "der Betrug in wirklich allen Varianten möglich", wie Helmut Digel in einem kürzlichen Interview (www.newsclick.de) ausführte. Der moralinsaure Soziologieprofessor und Vordenker der sogenannten humanen Leichtathletik, der schon mal "kreative Methoden" zur Dopingbekämpfung und den Einsatz in die Sportszene eingeschleuster V-Männer anregte, bestätigte gegenüber dem Spiegel Vermutungen, daß hinsichtlich der genetischen Frage bei Jugend- und Junioren-Weltmeisterschaften "Manipulationen in dieser Richtung staatlicherseits begünstigt werden". Dies passiere besonders in Entwicklungsländern. Die Schweizer Tageszeitung Blick, das Pendant zur deutschen Bild-Zeitung, konnte dann auch prompt mit einer Gender-Doping-Stasi-Geschichte aufwarten, die von deutschen Medien begierig aufgesogen und als bislang unbestätigtes Gerücht auf die Reise geschickt wurde. Demnach soll Südafrikas Chefcoach Dr. Ekkart Arbeit, einst DDR-Leichtathletiktrainer, den Hormonspiegel von Caster Semenya medikamentös so eingestellt haben, daß sie bei Doping-Kontrollen nicht als Mann auffalle - was Arbeit gegenüber dem SID als "Quatsch" zurückwies. "Das ist frech, wenn man nicht mal den Namen der imaginären Quelle nennt."

Nach Auskunft von Blick sei Semenya nachweislich ein Zwitter mit der Chromosomen-Kombination XY - ein sogenannter Hermaphrodit. Als Informant wird ein Trainer zitiert, der lange in Südafrika tätig war: "Südafrika hat die Tests bereits im März gemacht. Das Ergebnis ist klar. Semenya hätte bei der WM in Berlin nicht bei den Frauen starten dürfen. Doch ihre Funktionäre haben voll auf die Karte Risiko gesetzt." Demgegenüber werden neben den Eltern verschiedenste "Augenzeugen" aus Semenyas Freundinnen-Kreis genannt, die versichern, die 18jährige sei eine Frau.

Tatsächlich gibt es unterschiedlichste genetische Veranlagungen bei Menschen mit unterschiedlichsten inneren wie äußeren Geschlechtsmerkmalen sowie unterschiedlichsten Hormonspiegeln, so daß die Zuordnung nach Phänotyp (Geschlechtsbestimmung nach Aussehen) und Karyotyp (nach Chromosomen) auch aufgrund zum Teil sogar fließender Übergänge und Überschneidungen äußerst schwerfällt. Radikale Kritiker sehen in der Gender-Klassifizierung ein biologistisches Konstrukt, das vor allem die inhärenten Annahmen, Modelle und Methoden der nach Ordnung und Verwaltung strebenden Wissenschaften widerspiegelt. Aus soziokultureller Perspektive eignen sich Rollenmodelle und Geschlechtszuordnungen nicht nur hervorragend zur Durchsetzung herrschaftskonformer Identitätsmuster und Körperbilder, sondern auch zur strukturierten Zurichtung und besseren Verwertung der Manövriermasse Mensch. Das trifft insbesondere für den Leistungs- und Spitzensport zu, der feste Regeln und Ordnungen benötigt, um die Athleten zwecks sportlichem Konkurrenzkampf selektieren und klassifizieren zu können.

Geschlechtstests sind bei den Olympischen Spielen 1968 eingeführt, doch vor den Sommerspielen 2000 in Sydney wieder abgeschafft worden - angeblich weil sie nicht verläßlich genug waren, zu viel Geld kosteten und unter ethischen Gesichtspunkten die Betroffenen nicht nur einer demütigenden Testprozedur unterwarfen, sondern nach ihrer "Enttarnung" auch noch als "abnormale" oder "betrügerische" Elemente stigmatisierten. Seitdem wird nur in Einzelfällen bzw. auf Verdacht getestet - wie im Fall Caster Semenya, bei der nun der humanen Tünche zum Trotz das ganze Programm entwürdigender Prozeduren abgespult wird - um den "sauberen Wettkampf" (Digel), der längst durch biologistische Weltbilder überformt ist, die den Sozialrassismus auf die Ebene der Stoffwechselfunktionen und genetischen Dispositionen verlagert haben, zu gewährleisten.

Die deutschen Medien, die mit Haut und Haaren in den repressiven Anti-Doping-Kampf eingebunden sind, versuchen derweil, Doping und Gender auseinanderzuhalten, um sich die gefürchtete Debatte über den Sport als Instrument enthemmter Sozialkontrolle einerseits und imperialistischer Politik andererseits vom Hals zu halten. Statt dessen stieß die hiesige Presse im Vorfeld der Leichtathletik-WM fast täglich ins neokolonialistische Horn und skandalisierte, daß in den "Entwicklungsländern" keine "flächendeckende Dopingbekämpfung" möglich sei, weil die entsprechenden Labore fehlten. Vor allem in Afrika seien bislang keinerlei Blutkontrollen bei qualifizierten Athleten durchgeführt worden, von Blutpässen oder Hormon-Langzeitprofilen ganz zu schweigen.

Gegen diese Forderungen, die einerseits die Transformation der "unterentwickelten" afrikanischen Nationen hin zu mit modernen und sündhaft teuren Analyse- und Kontrolltechniken ausgestatteten Wohlstandsgesellschaften erfordert, andererseits eine hohe Bereitschaft der Bevölkerung voraussetzt, die Freiheitsrechte der sportlichen Leistungseliten einzuschränken, hat der südafrikanische Staat keinen Proteststurm entfacht. Auch nimmt er keinen Anstoß daran, daß bereits bei normalen Dopingkontrollen die übersechzehnjährigen Sportlerinnen und Sportler beim Urinieren ihr Geschlecht den Blicken der weiblichen bzw. männlichen Kontrolleure präsentieren müssen, was eine signifikante Verletzung der Intimssphäre und Schamgefühle der Prüflinge darstellt.

Erst als Weltmeisterin Semenya aus der gleichen Geisteshaltung heraus, mit der Jagd auf Dopingsünder gemacht wird, wegen ihrer "maskulinen Merkmale" öffentlich als Betrügerin verdächtigt wurde, ging die nach westlichem Werte-Vorbild sportifizierte Kap-Nation auf die Barrikaden. "Wir mißbilligen, wie Frau Semenya behandelt worden ist", sagte Staatspräsident Jacob Zuma. Untersuchungen seien das eine. "Eine professionelle, ehrliche Athletin in der Öffentlichkeit zu demütigen ist aber etwas anderes."

Damit stellte der Realpolitiker nicht die Untersuchung als solche in Abrede, sondern lediglich die Art der öffentlichen Vorführung. Etwas anderes hätte auch verwundert, denn Südafrika hat sich dem Scheine nach zwar von der Herrschaft der Weißen über die Schwarzen politisch befreit, keineswegs aber von den westlichen Werten und Lebensformen, wie sie im Sport ihren besonderen Ausdruck finden und wie sie im Sinne der ehemaligen Kolonisatoren immer noch wirkmächtig sind. Ohne jeden Zweifel erfolgte die Domestizierung des im 18. und 19. Jahrhundert noch rebellischen Arbeiters auch über die Wettkampfprinzipien des englischen Sports, der Leistung und Nationalstolz statt Klassenbewußtsein förderte und den unterprivilegierten Klassen später sogar erlaubte, sich auf Marktplätzen und Belustigungsveranstaltungen vor Adel und Bürgertum zu produzieren und sozial besserzustellen. Die britischen Kolonialherren in Südafrika indes setzten Individualsportarten (Tennis, Leichtathletik) und Mannschaftssport (Fußball, Rugby, Kricket) ganz gezielt zur Implementierung und Etablierung von kolonial-administrativen Maßnahmen und einer entsprechenden Sozialstruktur ein. Die Disziplinierung der unterdrückten, ausgebeuteten und elenden Klassen findet ihre Fortsetzung, wenn in Südafrika im Jahr 2010 erstmals auf dem schwarzen Kontinent die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen wird. Um eine organisatorisch einwandfreie WM in den Augen der Weltöffentlichkeit abzuliefern, werden die Repressionsorgane des Landes massiv aufgerüstet. Es sollte also nicht erstaunen, wenn Südafrika auf dem schwarzen Kontinent zum Vorreiter in Sachen Widerspruchsregulation unter neokolonialistischer Werte-Suprematie wird. Sollte der Kapstaat den Fall Caster Semenya nicht zum Anlaß nehmen, das Bezichtigungsgefüge des "sauberen" Leistungssports (siehe auch die Hetze gegen den jamaikanischen Sprinter Usain Bolt, dessen Rekordleistungen laut Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel "gegen alle Lehren der menschlichen Leistungsfähigkeit" sprechen) gründlich in Frage zu stellen, bleibt er trotz aller nationalen Emphase lediglich ein Produktivfaktor für den westlichen Sport- und Kulturimperialismus.

31. August 2009