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KOMMENTAR/055: Stadionverbote bei bloßem Verdacht zulässig - Polizei applaudiert (SB)



Die zunehmend in Rechtsprechung und Kriminalitätsbekämpfung platzgreifende Präventivdoktrin, die Menschen auf der Basis bloßen Verdachts sowie der Hinzufügung einer prognostischen Redefigur wie "potentiell" zu Störern, Gefährdern, Randalierern oder Gewalttätern prädisponiert, obwohl sie weder die ihnen unterstellte Tat begangen haben noch diese jemals richterlich festgestellt wurde, feiert auch im Sport Hochstände.

So erließ vergangene Woche der Bundesgerichtshof (BGH) ein Aufsehen erregendes Urteil (Az V ZR 253/08), wonach Stadionverbote gegen Fußballfans auch dann zulässig sind, wenn die Beteiligung an Gewalttätigkeiten nicht nachgewiesen ist. Es genügt bereits, daß der Fan Teil einer durch Randale aufgefallenen Fangruppe war.

Damit wies der BGH die Klage eines Fans des FC Bayern München ab, der auf dem Nachhauseweg nach einem Spiel beim MSV Duisburg im März 2006 mit einer Gruppe des Fanclubs "Schickeria München", die an einem Angriff auf Duisburger Anhänger beteiligt gewesen sein soll, in einen Polizeikessel geraten war. Der Bayern-Fan bestritt jede Beteiligung, die Landfriedensbruchs-Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt. Trotzdem erhielt er vom MSV ein zweijähriges Stadionverbot, das bundesweit für die 1. bis 4. Liga gilt und ebenso internationale Fußballveranstaltungen betrifft. Der FC Bayern wiederum kündigte ihm Mitgliedschaft und Dauerkarte, zudem wurde der Fan in die höchst umstrittene, Ende vergangenen Jahres vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg für "rechtswidrig" erklärte Datei "Gewalttäter Sport" aufgenommen. Wer wie der Bayern-Fan in eine solche Datei gerät, etwa weil er sich in der Nähe einer Rauferei aufhielt oder im falschen Besucherstrom, Bus oder Zug unterwegs war, dem drohen weitere repressive Maßnahmen wie Meldeauflagen, Hausbesuche der Polizei, Paßentzug oder Reiseverbot. Allen konkreten wie möglichen Verbots- und Grundrechtseinschränkungen zum Trotz hält der BGH durch sein Urteil den "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" für nicht verletzt.

In der Bundesliga gelten derzeit laut Deutschem Fußballbund (DFB) rund 3.000 bundesweite Stadionverbote. In der seit 1994 vom Bundeskriminalamt (BKA) geführten Kartei bzw. Datei "Gewalttäter Sport", die neben Personen, die im Sportumfeld straffällig wurden, auch Fans einschließt, die auf bloßen Verdacht registriert werden, sind derzeit fast 11.000 Personen gelistet. Daß diese sogenannten Präventivdateien gesellschaftlich übergreifenden Charakter haben, bezeugt der Umstand, daß das BKA zahlreiche solcher umstrittenen Datensammlungen betreibt, u.a. wurden im Jahr 2001 "Gewalttäter-Dateien" jeweils für politisch links und rechts motivierte "Täter" eingerichtet, nach gleichem Schema entstand 2003 die Datei "International gewalttätig agierende Störer" für Globalisierungsgegner.

Nicht nur die anerkennenden Reaktionen der Verbands- und Vereinsvertreter des Fußballs sowie der Polizei(-Gewerkschaften) auf die Grundsatzentscheidung zum Thema Stadionverbote, sondern die Urteils-Begründung des BGH selbst läßt erkennen, wessen Interessen das höchste deutsche Zivilgericht zu Diensten war.

Den Worten des BGH zufolge ist das Vorgehen des MSV vom "Hausrecht" des Vereins gedeckt. Danach besteht ein "sachlicher Grund" für ein Stadionverbot bereits dann, wenn aufgrund von "objektiven Tatsachen, nicht aufgrund bloßer subjektiver Befürchtungen, die Gefahr besteht, dass künftige Störungen durch die betreffenden Personen zu besorgen sind". Zwar seien im konkreten Fall die Ermittlungen eingestellt worden - allerdings sei der Kläger "nicht zufällig" in die randalierende Gruppe geraten, sondern habe ihr angehört. "Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, mit der der Kläger in Gewahrsam genommen wurde, rechtfertigt die Annahme, dass er sich bei Fußballveranstaltungen in einem zu Gewalttätigkeiten neigenden Umfeld bewegt", so der BGH in einer Pressemitteilung vom 30. Oktober.

Damit spricht der BGH einer Art Sippenhaft nach dem Motto "mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen" das Wort. Die richterliche Unterstellung, der Fan sei "nicht zufällig" in die randalierende Gruppe geraten, sowie die suggestive "Annahme", durch das Bewegen in einem zu Gewalttätigkeiten neigenden Umfeld sei beim Fan eine analoge Neigung (von konkreter Tat gar nicht zu reden) abzuleiten, gründen auf puren Spekulationen, wie sie den Verdachtschöpfungsketten kriminalpräventiver Maßnahmen geradezu wesenseigen sind.

Tatsächlich vollziehen die richterlichen Argumente bzw. Auslegungen nur einen Ordnungsrahmen nach, wie er durch exekutive Interessen der Polizei sowie den Sanktionsinteressen von Verband und Vereinen, die auf das Mittel des Stadionverbotes als "eine wichtige Präventivmaßnahme" (DFB-Sicherheitsbeauftragte Helmut Spahn) nicht verzichten wollen, vorgegeben wird. Selbst der BGH-Vorsitzende Wolfgang Krüger erklärte bei der Urteilsverkündung: "Es geht nicht um Strafrecht, es geht um den Ausschluss potenzieller Störer." (dpa)

Über den Hausrechts-Hebel können auch eherne Strafrechtsgrundsätze wie "im Zweifel für den Angeklagten" oder die "Unschuldsvermutung" ignoriert und ins Belieben der Veranstalter gesetzt werden. Abgesichert über die Richtlinien des DFB können die Vereine dann Stadionverbote aussprechen, wenn sie lediglich auf dem formalen Umstand beruhen, daß die Polizei Ermittlungsverfahren eingeleitet hat, die später wegen Geringfügigkeit eingestellt werden und ohne den geringsten Tatnachweis bleiben.

Aufschlußreich für die Praxis der Willkür ist ferner, daß bei fünf Bayern-Anhängern, die ebenfalls zur eingekesselten Gruppe gehörten, das Ermittlungsverfahren "mangels Tatverdacht" eingestellt worden war, worauf auch der Verein das Stadionverbot aufheben mußte. Aus Gründen, die wohl nur die Duisburger Staatsanwaltschaft zu erklären vermag, waren alle zeitlich darauf folgenden Verfahren nach dem "Geringfügigkeitsparagraph" eingestellt worden - was die Vereine wiederum in die Lage versetzt, Stadionverbote zu verhängen. Wie der Anwalt des klagenden Bayern-Fans, Marco Noli, gegenüber taz.de (30.10.09) erklärte, liege da doch der Verdacht nahe, "dass die Staatsanwaltschaft einen Hinweis bekam, dass der MSV nur so Stadionverbote aussprechen dürfe". Letztlich entschiede also das Kreuz auf einem Formblatt der Staatsanwaltschaft darüber, ob in diesem Massengeschäft der Justizökonomie ein Fan Stadionverbot erhält oder nicht.

In Anbetracht der unbestreitbaren Tatsache, daß schon der bloße Verdacht auf Gewalttätigkeit oder sogar eine Personalienfeststellung durch die Polizei ausreichen kann, daß ein Fan nicht mehr ins Fußballstadion darf, fiel das öffentliche Echo auf die hier praktizierte Präventivjustiz relativ verhalten aus. Zwar verurteilten eine Vielzahl von engagierten Fußballanhängern das Grundsatzurteil als weitere Stigmatisierung von Fans sowie als Form der Sippenhaft (der Gang vor das Bundesverfassungsgericht wird derzeit geprüft), und selbst Teile der Medien kommentierten das Urteil als "rechtsstaatlich untragbar" (SZ), doch all den Kritiken steht das in der Gesellschaft fest verankerte Teile-und-herrsche-Prinzip entgegen, dessen Wirksamkeit in den sprachgeregelten Aussagen der Befürworter des Urteils zum Ausdruck kommt. So erklärte etwa der DFB-Sicherheitsbeauftragte Helmut Spahn gegenüber dpa: "Wir sehen in diesem Grundsatzurteil eine Bestätigung unserer Linie, durch den Erlass von Stadionverboten gegen Gewalttäter oder Randalierer friedliche Fans vor gewaltbereiten Zuschauern zu schützen."

In diesem Statement werden nicht nur ohne Tatnachweis verdächtigte Fans mit Gewalttätern gleichgesetzt, sondern sie werden projektiv auch als Bedrohung sowie Rechtfertigung gegenüber "friedlichen Fans" in Stellung gebracht, deren Schutz die harte Sanktionslinie des DFB und der Vereine angeblich dient. Noch deutlicher brachte der nordrhein-westfälische Chef der Polizeigewerkschaft (GdP) Frank Richte die Spaltung der Fans in die "guten, echten, friedlichen" und die "bösen, unwürdigen, gewaltbereiten" auf den Begriff: "Das Urteil gibt uns die Chance, die bundesweit 4000 gewaltbereiten Fußballfans der Kategorie C, die nur an Randale, nicht aber am Fußball interessiert sind, von den wirklichen Fans zu trennen."

Bei der Dreistigkeit, mit der Verdacht und Vorverurteilung in Gruppenkategorien zur Ermächtigung polizeilicher Exekutivgewalt überführt werden, steht das Schüren bürgerlicher Ängste unmittelbar Pate. So erklärte der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) Rainer Wendt nach dem Urteil: "Die Arbeit der Polizei bleibt in Fußballstadien trotzdem sehr, sehr schwer. In der derzeitigen Situation müssen wir leider jedem Fußballfan sagen: Wer ins Stadion geht, begibt sich in Lebensgefahr."

Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) sprach daraufhin zwar von "Panikmache" und der DFB von "geistiger Brandstiftung", doch der Zweck war erfüllt. Nicht die Willkür der auf bloßen Verdacht gründenden Stadionverbote, die wegweisenden Charakter für alle möglichen Präventivmaßnahmen haben, etwa beim Verhängen von Platzverweisen, Aufenthaltsverboten oder des polizeilichen Unterbindungsgewahrsams bei Versammlungen oder politischen Demonstrationen zur angeblichen Verhinderung extremistischer oder gewalttätiger Ausschreitungen ("Gefahrenabwehr"), standen in der öffentlichen Diskussion im Vordergrund, sondern wie "die Gesellschaft" die Stadien vor "einer kleinen, nur an Gewalt interessierten Gruppe vermeintlicher Fußballfans" (GdP-Chef Frank Richte) schützen könnte.

Genährt und gewürzt wird das Bild von der angeblich überforderten oder ohnmächtigen Polizei (DPolG-Chef Rainer Wendt: "Die Gewalt in deutschen Stadien haben wir ohnehin nicht mehr im Griff.") durch die plakativen medialen Wiederholungen jüngster Ausschreitungen bei vornehmlich unterklassigen Vereinen in Halle, Zwickau, Leipzig und Rostock, bei denen Fans und Beamte gleichermaßen verletzt wurden. Angesichts von 80.000 Fußballspielen am Wochenende in Deutschland, die meisten im Jugend- und Amateurbereich, sind das zwar Ausnahmeerscheinungen, doch sie erzeugen einen öffentlichen Meinungs- und Handlungsdruck, den die beiden deutschen Polizeigewerkschaften nach Kräften befeuern. Schon kursieren wieder alte Forderungen seitens der Polizei, daß sich DFB und DFL an den Kosten der Einsätze beteiligen mögen, zudem wurde eine "Schwarze Liste" von Klubs angeregt, in deren Umfeld es häufiger zu drastischen Ausschreitungen kommt. Mit Blick auf die "Gewalt-Eskalation" in deutschen Fußball-Stadien will nun auch DFB-Chef Theo Zwanziger Spiele vor leeren Rängen nicht mehr ausschließen: "Wenn man spürt, das ist nur mit einer unverhältnismäßigen Zahl von Sicherheitsmaßnahmen überhaupt friedlich zu halten, dann muss man die Frage stellen, ob man dort noch mit Publikum spielen kann."

Die Verwirklichung des generalpräventiven Ansatzes wäre dann in der Tat der Fernsehknast in den eigenen vier Wänden, der die auch bei fußballerischen Massenaufläufen stets lauernde Gefahr, daß Menschen nicht mehr sportlich rivalisieren, sondern angesichts der prekären gesellschaftlichen Verhältnisse zu rebellieren beginnen, entschärfen würde. Vielleicht sollte man mit Spielen von Klubs mit "Gewaltpotential", die auf der "Schwarzen Liste" stehen, anfangen - das versteht der friedliche Bürger, der sich noch unverdächtig und unbetroffen wähnt, sofort.

9. November 2009