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KOMMENTAR/078: Hals- und Beinbruch vorprogrammiert - DOSB plant Kulturwandel im Wintersport (SB)



Wie nicht anders zu erwarten, haben alle maßgeblichen Gremien und Kommissionen, die sich auf Initiative der Sportfachverbände sowie des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) mit der Untersuchung des während der Olympischen Winterspiele in Kanada zu Tode gekommenen Rennrodlers Nodar Kumaritaschwili befaßten, keine juristische Verantwortlichkeit in den eigenen Reihen feststellen können. 66 Tage nach dem tragischen Ereignis auf der "schnellsten Strecke der Welt", wie der auf Hochgeschwindigkeit getrimmte Eiskanal in Whistler einst beworben wurde, hat der Rodel-Weltverband FIL den Tod des Georgiers in einem Bericht an das IOC als "unvorhersehbaren Unglücksfall" eingestuft. "Nach einer tiefgehenden Analyse sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß kein einzelner Grund, sondern eine komplexe Serie von wechselseitigen Ereignissen zu dieser Tragödie geführt hat", sagte FIL-Generalsekretär Svein Romstad nach Angaben des Sport-Informations-Dienstes.

Damit hat sich die Sprachregelung durchgesetzt, die IOC-Präsident Jacques Rogge bereits während der Winterspiele in Vancouver vorgegeben hatte, als er zwar dem IOC "die moralische Verantwortung für den Unfall" gab, die juristische Verantwortung aber nicht. "Alle sind verantwortlich", lautete damals das keinem zu nahe tretende Pauschalurteil des Chefolympiers, wobei er ausdrücklich das Organisationskomitee Vanoc, das die Strecke gebaut habe, die beiden Fachverbände für Rodeln, Bob und Skeleton, die sie abgenommen hätten und für die Austragung der Wettkämpfe zuständig seien, sowie das IOC, das für gute Spiele sorgen müsse, einbezogen hatte.

Die moralische Sippenhaft werden die Funktionäre locker wegstecken, zumal sie trotz eigener Unschuldswäschen Besserung gelobten. Das ist zwar ein Widerspruch, denn wo keine Mängel mit tödlichem Risiko herrschen, braucht man auch nichts zu verbessern, doch ohne eine gewisse Prophylaxe-PR wird man die Schatten des Zweifels offenbar nicht los. So kündigte der Weltrodelverband in seinem Abschlußbericht an, seine Sicherheitsstandards künftig anheben zu wollen: "Die FIL ist entschlossen, alles zu tun, damit so eine Tragödie nicht wieder eintritt." Ein größeres Sicherheitsdenken solle insbesondere beim Bau neuer Bahnen und auch bei der Schlitten-Technologie an den Tag gelegt werden. Worauf das IOC für seinen Hoheitsbereich "eine vollständige technische Überprüfung der Sicherheits- und Gesundheitsaspekte" aller olympischen Sportarten ankündigte. Die Sicherheit der Athleten bei Olympischen Spielen habe höchste Priorität.

Dann ist ja alles in Butter. Die olympischen Imperative "schneller, höher, stärker", die bei den Spielen in Vancouver um die Wendungen "spektakulärer", "halsbrecherischer" und "verletzungsträchtiger" erweitert wurden, werden von nun an lauten: "langsamer, niedriger, schwächer" - sowie "sicherer" und "gesünder". Wer's glaubt, wird selig ...

Natürlich werden die Sachwalter der olympischen Ringe weder dem Leistungs- noch dem Verkaufsprimat abschwören. Risiko und Gefahr sorgen für den verkaufsfördernden Kitzel, das gilt insbesondere für die Winterolympiade, wo die Protagonisten in zehn der 15 Sportarten nicht von ungefähr Helme tragen müssen. Sorgten bislang die traditionell risikoreichen Disziplinen wie Schanzenspringen und Ski alpin für den letzten Kick beim erlebnishungrigen Publikum, so kam es diesmal in Kanada auch in den Eiskanälen zu wahren Sturzfestivals und Unfallserien.

Um auch die von der Spaß- und Fitneßkultur beeinflußte Jugend, die sich mehr für außerolympische Fun- und Trendsportarten denn für Langlaufski und Bobfahren interessiert, für den olympischen Hochleistungssport vereinnahmen zu können, hatte das IOC im Zuge seiner Reformen seit 1992 drei hippe Sportarten ins Programm der Winterspiele gehoben: Snowboard, Ski-Freestyle und Shorttrack. Skicross, bei dem man mit 100 Sachen zu viert einen knapp 1.200 m langen Parcours hinunterrast, in den 16 Sprünge eingebaut sind, feierte jetzt in Vancouver Premiere. Stürze, das läßt sich ahnen, sind Teil der Show und liefern spektakuläre Bilder, die auch auf vornehmlich von Jugendlichen frequentierten Internet-Portalen wie YouTube zu sehen sind - den Kommunikationsplattformen, die auch das zielgruppenorientierte IOC mit Macht zu erobern gedenkt [1].

Die jugendbewegende Königsdisziplin im Olympiaprogramm ist aber die Halfpipe im Snowboarden, wo sich die Protagonisten mit spektakulärsten Sprüngen und technischen Tricks, gepaart mit Coolheit, Lebensart und Partystimmung, gegenseitig den Rang abzulaufen suchen. Auch hier treibt der Komparativ: Ebenso wie die Wände der Halfpipe seit dem Olympiadebüt der Sportart 1998 bei jeden Spielen größere Dimensionen annahmen, wurden auch die Sprünge immer höher und waghalsiger. Der Spaßfaktor, den sich die auf locker machende Kultszene lange zugute hielt, ist längst knallharter sportlicher Konkurrenz gewichen. Das schließt natürlich Spaß nicht aus, hat ihn aber zweckdienlich für das olympische Leistungsprimat instrumentalisiert. Das Maß aller Dinge gibt der US-amerikanische Megastar Shaun White vor, den das Erlernen seines Paradesprungs, den sonst keiner beherrscht, eigenen Worten zufolge fast das Leben gekostet hätte. Nachahmer zogen sich im Training bereits schwere Verletzungen zu. Im Grunde ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich auch in der olympischen Halfpipe der erste "Rider" nach einem mißratenen Anlauf den Kopf am Rand so hart aufschlägt, daß Schädel- oder Genickbruch zu befürchten sind. Wer um die Medaillenränge kämpft, soviel ist sicher, muß bis an und über die Grenze seiner Risikobereitschaft gehen.

Ebenso wie die Leistungsspirale ist auch die Medaillenjagd beim "friedlichen Fest der Nationen" olympisches Programm. Weil die deutsche Equipe in Vancouver von den 60 Medaillen, die in den 20 neu eingeführten Disziplinen im Snowboard, Ski-Freestyle (je sechs) und Shorttrack (acht) zu holen waren, keine einzige gewonnen hatte, herrscht in Deutschland, wo man Wintersport angeblich in den Genen trägt, Alarmzustand. Als vergangene Woche der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) vor dem Sportausschuß des Deutschen Bundestages Rechenschaft über das Abschneiden der Winterolympioniken ablegte, da lautete gleich die erste Frage, die der CDU-Abgeordnete Eberhard Gienger an die DOSB-Vertretung richtete, ob man dort schon Überlegungen angestellt habe, wie die Schwächen in den neuen olympischen Disziplinen zu beheben seien.

Zwar belegte das deutsche Team im Medaillenspiegel der Nationen Platz zwei, doch der Präsident des DOSB, Thomas Bach, der auch die Bewerbung für die Winterspiele 2018 in München vorantreibt, mahnte bereits "ein kulturelles Umdenken" an. "Warum haben wir genügend Talente im Eisschnellauf, aber nicht im Shorttrack?", fragte Bach Ende Februar im Deutschlandfunk. Die Deutschen, so gab er sich selbst die Antwort, seien wohl eher geneigt, erstmal anständig den Langlauf oder den Schneepflug zu lernen, bevor sie "so verrückte Dinge machen".

"Erfolg in diesen Sportarten", so DOSB-Generalsekretär Michael Vesper bei einer Podiumsdiskussion im Deutschen Sport- und Olympiamuseum in Köln mit Blick auf die jungen Disziplinen, "entsteht aus einer bestimmten 'Flippigkeit' und weniger aus traditionellem Skiunterricht. Das ist eine mentale Sache. Vielleicht muß sich die Haltung zum alpinen Skisport ändern. Das ist allerdings das Schwierigste, was es gibt."

"Haltung" stimmt schon, allerdings anders, als von Vesper gemeint. Tatsächlich gingen die 29 Medaillen von Vancouver zu 80 Prozent auf das Konto von Uniformierten. 99 der 153 deutschen Teilnehmer sind nämlich Soldaten, Polizisten oder Zöllner. Die Medaillenausbeuten im Wintersport sind zum größten Teil staatsfinanziert; allein die Bundeswehr gibt zur Zeit 30 Millionen Euro für 824 Sportsoldaten aus, das Innen- und das Finanzministerium steuert acht Millionen für rund 200 Bundespolizisten und Zöllner bei. Was wunder, daß man im Wintersportbereich auch von "Militärspielen" spricht.

Da die Sozialisation der deutschen Wintersporteliten in der Regel in den Eliteschulen des Sports sowie anschließend in den Sportkompanien der Bundeswehr stattfindet, die gemeinhin nicht als Orte für "Flippigkeit" oder "verrückte Dinge" gelten, sondern im Gegenteil für Disziplin, Zucht und Ordnung, können die Wintersportfunktionäre lange auf "Fun- und Trendsportler" warten, wie sie Bach, Vesper und Co. nach nordamerikanischem Prägemuster gerne hätten. Während die Wintersportindustrie in Amerika für Snowboarder oder Skifahrer zahlreiche Pipes sowie im olympischen Programm noch nicht integrierte Slopestyle-Bahnen (langer Hindernisparcour, der nicht auf Tempo, sondern auf Sprünge, Rails und technische Tricks angelegt ist) in die Landschaft gepflanzt hat - US-Star White besitzt sogar eine private Trainings-Pipe mit Schaumstoffbecken zum Einüben riskanter Sprünge -, gibt es in Deutschland beispielsweise vier Bobbahnen oder einen kostentreibenden Skitunnel, der im Sommer auf Minusgrade herabgekühlt wird, aber keine einzige Halfpipe.

"Das muss geändert werden. Wir müssen den Kindern diese Spielwiesen bauen. Der Rest kommt fast von selbst", ließ indessen Willy Bogner, Modeunternehmer und Geschäftsführer der Münchner Olympiabewerbung, in einem FAZ-Interview (22.02.10) wissen.

Die "Spielwiesen" für die Kinder, die auf der olympischen Leistungsschiene nur zu Hochrisikoparcours und Speed-Bahnen geraten können, sind alles andere als naturwüchsig, sondern sie sind vor allem kommerzielles und staatliches Entwicklungsprogramm. Das gilt insbesondere für die sportlichen Fun-Kulturen, in denen eine von Marken und habituellen Modetrends geprägte Erlebniswelt auf die Freestylesportler selbst zurückwirkt, indem sie die emotionalen Brandings der Konsumgüterindustrie in spektakulärer sportlicher Performance, ekstatischer Beschleunigung und cooler Selbstinszenierung zum Ausdruck bringen. Bezeichnenderweise war es "Red Bull", der Snowboard-Olympiasieger Shaun White für 500.000 Dollar eine Halfpipe in die Rocky Mountains baute. Der "Energiedrink"-Konzern betreibt eine aggressive Marketingpolitik und investiert Millionen in Fun- und Extremsportevents, darunter auch "speed skiing", "freestyle skiing" oder "snowboarding".

Wenn also in Deutschland nun die Reden vom "kulturellen Umdenken" geschwungen werden, dann sollte man sehr gut hinhören, welche Lobbyistengruppen sie im Munde führen. Sollten demnächst "Snowparks" in deutschen Landen mit Halfpipes, "Kickern" (Schanzen) oder "Rails" (Hindernisgeländer) entstehen, damit Deutschland seinen Platz in der Medaillenwertung verteidigen kann, dann weiß man, wer die eigentlichen Urheber jugendlicher Risiko- und Gefahrenkulturen sind, die im übrigen nicht nur auf die Knochen, sondern auch auf das Geld gehen.

Anmerkung:

[1] Siehe auch KOMMENTAR/052: Olympia digital - Kinder als Ware, Zielgruppe und Bezichtigungsobjekt

26. April 2010