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KOMMENTAR/079: Verknastete Gesellschaft - Läufer finden beim Gefängnismarathon zu sich selbst (SB)



Als 5.000-Meter-Olympiasieger Dieter Baumann vor etwa vier Jahren in der Justizvollzuganstalt Gießen rund zwei Dutzend Gefängnisinsassen so auf Trab brachte, daß sie 60 Minuten am Stück rennen sowie das Laufabzeichen für Häftlinge erringen konnten, war rasch auch der Wunsch geboren worden, einen Marathon zu laufen. Die Medien witzelten damals, daß die Knackis dafür die 120-m-Strecke im Gefängnishof 350 Mal umrunden müßten - einseitiger Körperverschleiß aufgrund der engen Kurvenführungen inbegriffen.

Mag man sich auch an ein Hamsterrad erinnert fühlen, wenn im Knast Marathon gelaufen wird, die 42,195 km messende Strecke ist auch außerhalb der Mauern nicht kürzer. Das Hamsterrad verteilt sich hier nur auf längere Geraden bei wechselndem Ambiente, so daß die Monotonie der Wiederholung nicht so offensichtlich wird. Ob in Gefangenschaft oder in der Freiheit, beim Marathon werden die Werte der Leistungsgesellschaft auf obsessive Weise virulent: Wer bis an seine Leistungsgrenzen geht, Leidensfähigkeit beweist und asketisches und zielorientiertes Durchhaltevermögen in der Vor- sowie körperliche Erschöpfungszustände, Überlastungsschäden oder Verschleißsymptome in der Nachbereitung zu meistern versteht, der hat sich und seinem sozialen Umfeld bewiesen, daß er fit und flexibel für den neoliberalen Wettbewerbsstaat ist. Als gesellschaftlich anerkannter Selbstkasteier hat er gelernt, den inneren Schweinehund auf sportliche Weise zu überwinden, dem großen Schweinehund aber, der ihm all die Werte, Regeln und Normen eingeimpft hat, läuft er auf seinem Passionsweg, der bei vielen nicht nur religiöse, sondern auch zwanghaft manische Züge angenommen hat, buchstäblich davon.

Zwar haben Untersuchungen gezeigt, daß überproportional viele Menschen aus der Mittel- oder oberen Mittelschicht Marathonläufe bestreiten, doch macht der nach wie vor boomende Volks- und Straßenlauf in Deutschland, der besonders im urbanen Raum Kirmes- und Eventcharakter angenommen hat, Menschen aller Gesellschaftsschichten Beine. Während der Sprung über den großen Teich zum City-Marathon in Boston, New York oder Chicago den sozialen Status eines Lehrers, Ingenieurs oder Wissenschaftlers zu heben vermag, gerät der Kraftakt eines ansonsten hinter dem Schreibtisch sitzenden Vaters, der unter den Anfeuerungsrufen von Familienmitgliedern und Freunden mit schmerzenden Beinen, verdrehten Augäpfeln und nahe am Kollaps ins Ziel torkelt, zum großen Finishing und sozialen Happening: Hauptsache angekommen - Bewegung ist ja so gesund!

Die Gründe, sich das alles anzutun, sind vielschichtig. Zahlreiche Breitensportler haben aus Sorge um mangelnde Arbeitsplatzfitneß einen ernährungs- und gesundheitsbewußten Selbstbestätigungstrip gewählt, der ihnen im Rahmen sportlicher Selbstbestimmungsversprechen wiedergeben soll, was ihnen im entfremdeten Arbeitsprozeß bereits genommen wurde. Ehemalige Spitzenathleten wie Dieter Baumann haben dem "Traum, ein Lebensläufer zu sein", eine persönliche Sinnstruktur verpaßt, versuchen ihre Philosophie beruflich auszuschlachten und an Kinder, Jugendliche und Erwachsene weiterzugeben. Grünen-Politiker wie Joseph Fischer haben gar einen langen Lauf "für sich selbst und gegen sich selbst" veranstaltet und mit Hilfe des Marathon-Exzerzitiums einen "radikalen körperlichen Umbau" betrieben, den sie in Buchform ins öffentliche Schaufenster stellten.

Medien und Publizistik sorgen dafür, daß die Läufermythen weitererzählt werden und die Stories der Endorphin-Junkies, die vom "Runner's High" schwärmen, bei dem angeblich im Gehirn schmerzhemmende und euphorisierende Endorphine zur Ausschüttung kommen, nicht verebben. Das bald 60jährige Marathon-Idol Waldemar Cierpinski, Olympiasieger von 1976 und 1980, gab erst kürzlich auf der Internet-Seite des Leichtathletik-Verbandes zu Protokoll: "Wenn man einen Marathon geschafft hat, bleiben für einen Moment die inneren Uhren stehen. Man empfindet ein Glücksgefühl, viele fangen dann sogar vor Freude an zu weinen."

Indes, was im Fitneßknast der Gesellschaft recht ist, kann im Gefängnis nur billig sein. "Der Wirkungsnachweis von Sport in Haftanstalten ist unbestritten. Er unterscheidet sich nicht einmal großartig von den positiven Eigenschaften, die dem Sporttreiben auch "draußen" zugeschrieben werden", ließ der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) [1] unlängst wissen, ohne näher darauf einzugehen, was das im Grunde für die "freie" Gesellschaft heißt. Wenn in einem durch und durch repressiven System wie dem Gefängnis der Sport als "Ventilfunktion" und "sinnvolle Abwechslung im meist monotonen Gefängnisalltag" dienen kann, wie der DOSB berichtet, wer erzeugt dann den Druck jenseits der Mauern, damit Sporttreiben mit seinen "positiven Eigenschaften" überhaupt zur Geltung kommen kann? Wie verknastet muß eine Gesellschaft sein, daß Millionen von Menschen zur Kompensation von Bewegungsarmut sowie Sozial- und Berufsstreß auf die Straße getrieben werden, um sich dort der Alltagssorgen nicht etwa zu entledigen, sondern sie in einer gesellschaftlich positiv gewendeten Form des Lauf-Martyriums fortzusetzen? Am Anfang der Leidenskette steht oft der Freizeitsportler, der mit 10-km-Läufen angefixt wurde und sich dann bis zum Marathon hocharbeitet. Das Endstadium markieren die "Sportsüchtigen", bei denen sich der gesellschaftliche Reproduktionszwang so sehr verstetigt hat, daß sie ihre Trainings- und Kilometerdosen bis zum körperlichen Ruin in die Höhe getrieben haben. Eine Mischform aus Sportjunkies sowie kultiviertem, teilweise professionalisiertem Laufexzeß sind Hochleistungssportler, die bislang noch nicht pathologisiert werden, da dies dem Paradigma der Leistungsgesellschaft, die den Spitzensport zur Vorbildproduktion und als Movens für gesundheitspolitische Massenmobilisierungen nutzt, widersprechen würde.

Das Marathonschema "Training - Start - Krise - Selbstüberwindung - Ziel - Erlösung" ist jedoch keineswegs geeignet, die gesellschaftlichen Bedingungen für individuelles Leiden, soziale Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung zu beheben. Im Gegenteil, die Leidensform wird beim Ausdauerlauf, wo das Motiv der Selbst-Überwindung, Selbst-Bestätigung oder Selbst-Optimierung im Vordergrund steht, sogar noch stärker individualisiert als zum Beispiel beim Fußball. Die läuferische, sich an der eigenen körperlichen Leistung aufrichtende Selbstbezogenheit geht einher mit sozialer Vereinzelung und läßt sich unter den repressiven Verhältnissen des Gefängnisses besonders effizient als Mittel von Zucht und Ordnung einsetzen. "Der Vorteil gegenüber dem Mannschaftssport ist, dass sich dort nicht immer wieder latent Aggressionen aufbauen", streicht auch Dieter Baumann die Bedeutung des Laufens im Strafvollzug als wichtiges Ventil zum geordneten Aggressionsabbau heraus [2].

Die gruppendynamischen Prozesse im Fußball bieten für den auf störungsfreie Verwahrung und Kontrolle ausgerichteten Knastbetrieb offenbar noch zu viele Reibeflächen. Galten in den deutschen Jugendstrafanstalten bislang Fußball, Tischtennis und Krafttraining als die Klassiker im Sportangebot, so haben Marathon-Laufprojekte in den vergangenen Jahren für einen innovativen Schub gesorgt. Das eingangs erwähnte Sportprojekt von Olympiasieger Dieter Baumann hat sich in modifizierter Form inzwischen zu einem sprichwörtlichen Renner im Strafvollzugswesen entwickelt. Der Knastmarathon unter dem Motto "Jugend bewegt sich über Grenzen" läßt nicht nur die Herzen der Läufer, sondern auch der Gefängnispädagogen, -wärter und -direktoren in der ganzen Bundesrepublik höher schlagen.

Inzwischen werden zum Abschluß eines achtwöchigen Laufprojektes, zu dem sich jugendliche Inhaftierte verpflichtet haben, regelmäßig Staffel-Halbmarathons veranstaltet. Das erstmals 2007 durchgeführte Projekt stieß bundesweit auf so reges Interesse, daß sich nun nahezu alle deutschen Jugendstrafanstalten daran beteiligen und bei einer Finalveranstaltung die "schnellste Jugend-JVA" ermitteln.

Doch nicht nur in den Jugendknästen ist das Marathonfieber ausgebrochen. Im Rahmen eines Projektes der TU Darmstadt und auf Initiative von Gerhard Wydra, dem 1. Vorsitzenden des Gefangenenvereins SV Kiefer Darmstadt e.V., wird hinter den hohen, mit Stacheldrahtschlangen bewehrten Betonmauern der Justizvollzugsanstalt Darmstadt-Eberstadt seit 2007 der "Darmstädter Knastmarathon" veranstaltet. Dabei handelt es sich um ein bundesweit einmaliges Projekt, denn beim offenen Knastmarathon dürfen auch "externe" Marathonis an den Start gehen und sich zusammen mit den Gefangenen nach dem Motto "Sportlerleidenschaft verbindet" gemeinsam die Hacken ablaufen. Der 4. Darmstädter Knastmarathon, bei dem die Teilnehmer auf dem relativ weitläufigen Innengelände der Haftanstalt 24 Runden à 1,758 Kilometer absolvierten, wurde eigens auf den 25. April vorverlegt, damit der Anstaltsleiter Wigbert Baulig, dessen Dienstzeit am 31. Mai endet, "beim letzten Gefängnismarathon vor seiner Pension" teilnehmen konnte. Gefangenen ihre Leistungsgrenzen zu vermitteln, sei ein Ziel des Wettbewerbs, wird Baulig von www.echo-online.de [3] zitiert. Auch wolle er vermitteln, daß Gefängnismitarbeiter mehr als Wärter und Schließer seien. Zudem erinnerte er an das sechsmonatige fast tägliche Training. "Wer das besteht, dem unterstellen wir, dass er auch eine Ausbildung schafft."

Damit fallen Strafe und Resozialisierung mit sportlichem Training und Durchhaltevermögen in eins. Wer langfristig große physische Belastungen auf sich nehmen kann und sich zu quälen gelernt hat, der sei, so die Annahme, vermutlich auch geeignet, sich unter den Konkurrenzbedingungen der Arbeitsgesellschaft seinen Weg zu bahnen. Der Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen für das Elend der Kriminalität sowie für Arbeitsplatzmangel und Jobverlust wird damit auf sportliche Art von vornherein aus dem Weg gegangen. Statt dessen wird die Schuld für fehlende Lebenstüchtigkeit und mangelhaftes gesellschaftliches Anpassungsverhalten in der sportlichen Qualifikation angesiedelt. Der offizielle Hauptsponsor des Knastmarathons, die Produktefirma frubiase SPORT, erklärte dazu: "In diesem wichtigen Resozialisierungsprojekt können die Häftlinge durch den Laufsport auch fürs Leben lernen und haben so bessere Voraussetzungen für den Alltag nach der Haftentlassung." [4]

Wer sich heutzutage an Laufevents beteiligt, dem wird sein identitätsstiftender Leidensakt im Rahmen ausgeklügelter Social-Sponsoring-Strategien zudem als "guter Zweck für andere" versüßt. Das gilt selbst für Häftlinge. "Zusätzlicher Ansporn für die Projektteilnehmer" sei, so frubiase SPORT: "Für jeden inhaftierten Finisher spendet frubiase SPORT Geld an die Hilfsorganisation "Weißer Ring", die sich für Kriminalitätsopfer und Kriminalitätsprävention einsetzt. Mit der Spendensumme von insgesamt 2000 Euro können die Insassen so mit ihrer Leistung auch noch etwas Gutes tun."

Rund 160 "Externe" und 40 "Interne" verschiedener Haftanstalten sollen sich am Rennen auf dem Gelände der JVA Darmstadt-Eberstadt beteiligt haben. Nach einem Bericht von www.infranken.de [5] sei der Knastmarathon keine Strafe. Zwei Teilnehmer von außen entdeckten gar viele Vorteile: "Straffe Organisation, regelmäßige Verpflegung mit Wasser und Nahrung, gute Tempokontrolle und beste Stimmung dank einer Samba-Band, die bald das WM-Lied "Seven Nation Army" zusammen mit Häftlingen anstimmte." Noch mehr habe den Nichthäftlingen die Siegerehrung gefallen - bei Massenlaufveranstaltungen ein ansonsten eher trauriger Programmpunkt mit wenigen Zuschauern. Weil jedoch alle eingeschlossen waren, war die gesamte Läuferschar anwesend. Der Grundirrtum der im Knast zu sich selbst gekommenen Marathonis besteht jedoch in der Annahme, daß sie sich nach ihrer Entlassung auf sportlich freiem Fuß befinden.

Anmerkungen:

[1] DOSB-Presse Nr. 39 vom 25.09.2007, Dokumentation IX-X, Sport als Abwechslung im monotonen Gefängnisalltag

[2] www.derwesten.de. Olympiasieger Dieter Baumann zu Gast in der JVA Drüpplingsen: Laufen als wichtiges Ventil zum Aggressionsabbau, Iserlohn, 15.06.2008, von Markus Wassmuth

[3] www.echo-online.de. 24 Runden hinter Gefängnismauern. 26.04.2010, von Marc Wickel

[4] www.pressemitteilungen-online.de, 19.04.10

[5] www.infranken.de. Knastmarathon ist keine Strafe, 26.04.10, von Michael Memmel

3. Mai 2010