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KOMMENTAR/098: Störfall beseitigt? Innenminister verwehrt Claudia Pechstein Sonderurlaub (SB)



Kein Zweifel: Der Fall Claudia Pechstein ist Sand im Getriebe der Dopingbekämpfung, da er nicht nur die weltweite Exekution des indirekten Dopingnachweises nach WADA-Code behindert, sondern an zu vielen Stellen deutlich gemacht hat, auf welch tönernen Füßen moralische und mediale Verdammung, wissenschaftliche Expertisen und sportrechtliche Urteile stehen. Dem kann abgeholfen werden. Ähnlich, wie im staatlich gelenkten DDR-Sport mitunter Athleten ausdelegiert wurden, die nicht ins Konzept paßten, wird nun auch im staatlich alimentierten BRD-Sport ein dopingpolitischer "Störfall" beseitigt. Mit dem beamtenrechtlichen Winkelzug ihres obersten Dienstherrn Thomas de Maizière (CDU), der Polizeihauptmeisterin keinen "Sonderurlaub unter Wegfall der Bezüge" zu gewähren, was im Bereich seiner Möglichkeiten gelegen hätte, wurde der 38jährigen Eisschnellauf-Olympiasiegerin eine Rückkehr in den Hochleistungssport verunmöglicht, wenn nicht gar ihr endgültiges Karriereende besiegelt. Denn aller Erfahrung nach wird es Claudia Pechstein kaum gelingen, neben ihrem Polizeidienst auch noch ein selbstorganisiertes und vollwertiges Hochleistungstraining auf die Beine zu stellen, das ihr ein erfolgreiches Comeback nach dem Ende ihrer Sperre im Februar 2011 gestattete. Konnte die Athletin bislang weder durch Medienfeme noch durch eine nur als politisch zu bezeichnende Sportgerichtsbarkeit gebrochen werden, die ein von anerkannten Dopingexperten und Hämatologen längst plausibel in Frage gestelltes Urteil gegen sie fällte, so dürfte die Entscheidung Thomas de Maizières das ihrige dazu beigetragen haben, um eine "uneinsichtige Sportlerin", die sich nicht in die Rolle als Versuchskaninchen des indirekten Dopingnachweises fügen wollte, kaltzustellen.

Nach dem verweigerten Sonderurlaub erlitt Claudia Pechstein, die seit anderthalb Jahren einen zermürbenden Kampf um ihre Unschuld führt und neben gerichtlichen Rückschlägen und finanziellen Aderlässen auch private Probleme wie die Trennung von ihrem Ehemann verkraften mußte, einen Nervenzusammenbruch und mußte sich in Behandlung begeben. Als Schock dürfte zusätzlich gewirkt haben, daß der leidgeplagten Eisschnelläuferin, die stets betont hatte, ihre sportliche Laufbahn fortsetzen zu wollen, vom Bundesinnenministerium offenbart wurde, "dass in Absprache mit Sportmedizinern nun ein Plan erarbeitet würde, der Pechstein zum Abtrainieren anhalten sollte", wie es in einer Presseerklärung ihres Managements vom 13. September heißt. Schwer getroffen fühlte sich die Eisschnelläuferin außerdem durch den Vorwurf, es würden Steuergelder verschwendet, weil sie trotz ihrer Sperre nicht den Dienst als Polizeibeamtin erfüllte. Einmal abgesehen davon, daß Deutschlands erfolgreichste Winterolympionikin dem Land Medaillen und internationale Reputation in Hülle und Fülle beschert hat, erscheint das Verschwendungsargument auch bezogen auf ihren Dienstantritt reichlich hergeholt. Denn aufgrund ihres aus gesundheitlichen Gründen notwendigen Abtrainierens während der Dienstzeit würde sie gar nicht als Vollzeitkraft zur Verfügung stehen.

Dem Antrag Pechsteins auf Sonderurlaub war die öffentliche Aufforderung zum schnellstmöglichen Dienstantritt von Bundesinnenminister Thomas de Maiziere vorausgegangen, der ihren Fall unlängst zur Chefsache erklärt hatte. Die Akademie der Bundespolizei hatte ihr Disziplinarverfahren gegen die Eisschnelläuferin wegen des Verdachts auf Blutdoping eingestellt. Ein Dienstvergehen der fünfmaligen Olympiasiegerin, die Vollzugsbeamtin der Bundespolizei ist, konnte nicht zweifelsfrei bewiesen werden, teilte das Innenministerium am 16. August mit. Als Dienstherr hätte es ein Vergehen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachweisen müssen, erklärte das Ministerium. Die Beweislastregeln seien strenger als vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS, der im November vergangenen Jahres die Dopingsperre gegen Pechstein bestätigte. "Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als das Verfahren in dubio pro reo einzustellen", erläuterte de Maiziere und betonte gleichzeitig: "Wir betrachten ein Urteil des Sportgerichtshof CAS mit indirektem Beweis als wegweisendes Urteil, aber ein Disziplinarverfahren ist etwas anderes."

Obwohl die Schuld seiner Schutzbefohlenen, gegenüber der er als Dienstherr auch eine Fürsorgepflicht hat, nicht zweifelsfrei bewiesen ist und jedes ordentliche Gericht Claudia Pechstein freisprechen würde, macht sich Thomas de Maizière dennoch zum Erfüllungsgehilfen der Disziplinargewalt von Dopingagenturen, indem er ihre fragwürdigen Sanktionsmaßnahmen ausdrücklich unterstützt. So begründete ein Ministeriumssprecher die Ablehnung von Pechsteins Antrag auf unbezahlten Sonderurlaub damit, daß dieser der Vorbereitung auf Wettkämpfe nach Ablauf der Sperre dienen sollte. "Mit einer Gewährung wäre einer teilweisen Umgehung des Trainingsverbotes Vorschub geleistet worden", heißt es. "Nach den Bestimmungen des Nationalen Anti Doping Codes darf ein Athlet während einer Sperre in keiner Funktion an Wettkämpfen oder organisierten Trainingsmaßnahmen teilnehmen. Mit dem Verbot des Trainings geht naturgemäß eine Leistungsminderung des gesperrten Sportlers einher. Dies ist gerade Teil des Sanktionsziels", sagte der BMI-Sprecher.

Früher waren Trainingsverbote (Artikel 10.10.1 des WADA-Codes: "Teilnahmeverbot während einer Sperre"), die unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten ohnehin fragwürdig sind, da Berufssportler durch die damit verbundenen Einschränkungen oft irreparabel geschädigt werden, immer damit gerechtfertigt worden, daß verhindert werden sollte, daß gesperrte (= gedopte/betrügerische) Sportler öffentliche Gelder in Anspruch nehmen. Selbstorganisiert, d.h. selbstbezahlt außerhalb der offiziellen Trainingsmaßnahmen, durften Sportler natürlich weitertrainieren. Nun wird auf einmal auf leistungsmindernde Sanktionsziele abgehoben, die auch für eine Polizeibehörde bindend seien. Geben privatrechtliche Ideologieschmieden wie WADA oder NADA, deren mit der kommerziellen Muskelreligion aufs engste verbundene Verdachtskleriker einen Fetisch wie den "sauberen Sport" anbeten und zur Allgemeingültigkeit erklären, nun auch schon die Dienstanweisungen im Innenministerium vor?

Im größeren sportpolitischen Zusammenhang wird allerdings schon klar, warum Thomas de Maizière die harte Line in der Causa Pechstein fährt. Aufgrund oder vielmehr dank ihrer offensiven Öffentlichkeitsarbeit waren auch die mit dem repressiven Leistungssport weitgehend konform gehenden Sportjournalisten und WADA-reformistischen Kritikfraktionen herausgefordert worden, sich mit den zahlreichen Widersprüchen und Ungereimtheiten ihres durch den Internationalen Sportgerichtshof CAS bestätigten Berufsverbotes auseinanderzusetzen. Was die Fachschaften der institutionalisierten Dopingbekämpfung ihrer Verfügungs- und Urteilsgewalt unterworfen hatten, wurde vornehmlich im Internet auf den Prüfstand öffentlicher Kritik gestellt. Zwischenfazit der Expertenschlacht, in die sich auch viele politisch-ideologische Grundanimositäten hineinmischen: Es gibt nach wie vor keinen handfesten Beweis für Pechsteins Schuld, nur Vermutungen, Spekulationen, Verdächtigungen oder Wahrscheinlichkeiten.

Dafür kristallisierte sich immer deutlicher heraus, daß mit Hilfe der Causa Pechstein ein wissenschaftlicher und juristischer Präzedenzfall durchgepaukt werden sollte. Es geht dabei um Politik, genauer gesagt um die weltweite Etablierung des indirekten Dopingnachweises anhand bloßer Indizien. Der sogenannte biologische Paß wird von der mächtigen WADA als "neue Dimension" der Dopingbekämpfung gepriesen, weil es keines positiven Befundes mehr für die "Überführung" eines Sportlers bedarf, sondern eines interdisziplinären Korrelats aus individuellen Langzeitprofilen, biochemischen Signifikanzen und mathematisch-statistischer Abstraktion, welches entsprechend ausgedeutet und für wissenschaftlich stichhaltig befunden zu harten sportrechtlichen Schuldsprüchen führen soll.

Diese Konstruktion, die die steigende Tendenz zur Verrechtlichung des Sports widerspiegelt und ihn damit letztlich zum sozialen Minenfeld legalistischer Fehltritte transformiert, vertritt auch DOSB-, IOC- und CAS-Multifunktionär Dr. Thomas Bach, einer der maßgeblichen Strippenzieher der internationalen Sportpolitik. Von Anfang an hatte der Wirtschaftsanwalt mit Hinweis auf die Gültigkeit des WADA-Codes den indirekten Dopingnachweis als "Meilenstein" einer effektiven Dopingbekämpfung gepriesen und auf seine strikte Umsetzung gepocht. Der FDP-Mann forderte nach dem haarsträubenden CAS-Urteil gegen Pechstein nicht nur alle Sportverbände auf, bei entsprechenden Testwerten auch bei anderen Athleten "umgehend Sanktionen zu verhängen", sondern verlangte von Pechstein, ihre "Hintermänner" preiszugeben. Denn Doping "mit dieser wissenschaftlichen Expertise kann von einer Sportlerin nicht ohne Hilfe von Fachleuten bewerkstelligt worden sein".

Dieser heimtückischen Bezichtigungspauschale, die Athleten mit schwankenden Blutwerten (möglicherweise durch unbekannte Krankheiten, mißgedeutete Indizien oder fehlangewandte Statistik verursacht) ins kriminelle Milieu prädisponiert, schloß sich im Wortlaut auch Thomas de Maizière an. "Doping auf einem so hohen wissenschaftlichen Niveau betreibt ein Sportler nicht allein. Dazu braucht man ein Vertuschungsumfeld", so de Maizière, der das Pechstein-Urteil ungeachtet seiner Fragwürdigkeit gleichzeitig in den höchsten Tönen lobte: "Für den internationalen Sport ist das Urteil wegweisend. Es lässt den Indizienbeweis zum Nachweis von Doping zu. Der Nachweis eines einzelnen Dopings im konkreten Fall ist nicht mehr notwendig. Damit kann der internationale Sport sauberer werden." (FAZ online, 25.11.09)

Seit dem höchst umstrittenen Pechstein-Urteil sind auf der Grundlage des indirekten Dopingnachweises gemäß WADA-Code keine Sportlerinnen und Sportler mehr mit "schwankenden Blutwerten" mit Berufsverboten belegt worden (Ausnahme der nach Dauerskandalen unter extremen Bewährungsdruck stehende Weltradsportverband UCI, der auf dem Opferaltar der internationalen Dopingpolitik Köpfe von sündigen Athleten präsentieren muß). Sollte es daher nicht zu denken geben, unter welch politischem Stern die Entscheidung von Thomas de Maizière steht, der sperrigen Eisschnelläuferin keinen unbezahlten Sonderurlaub zu gewähren und sie damit auf das sportliche Altenteil zu schieben?

Derweil erwartet Claudia Pechstein die für Mitte September angekündigte Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts im Revisionsverfahren. Für den Fall einer erneuten Niederlage vor Gericht haben ihre Anwälte den Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg avisiert.

20. September 2010