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KOMMENTAR/103: Herrschaftskonsens - Südafrika war gestern, Brasilien 2014 und München 2018 sind morgen (SB)



Die Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer in Südafrika war noch nicht beendet, da sang der Präsident des Fußball-Weltverbandes (FIFA), Joseph Blatter, bereits eine seiner berüchtigten Lobeshymnen auf den Gastgeber. "Afrika kann stolz sein. Südafrika kann noch stolzer sein. Sie haben einen großartigen Job gemacht", sagte Blatter nach der letzten Sitzung des WM-Organisationskomitees in Johannesburg. In Anbetracht des WM-Erfolgs sprach sich IOC-Mitglied Blatter auch für eine südafrikanische Kandidatur für die Olympischen Sommerspiele 2020 aus. "Ich würde eine Bewerbung absolut unterstützen." Die WM habe bewiesen: "Es ist alles ein Frage des Vertrauens." (dpa, 8.7.10)

"Vertrauen" unter den Funktionseliten, die das Weltsportereignis möglich gemacht haben? Oder sollte man nicht lieber gleich von "Volksverdummung" sprechen - betrieben von Sportfunktionären, die zu Konzernchefs globaler Sportimperien aufgestiegen sind und mit den Reichen und Mächtigen aus Politik und Wirtschaft das gleiche Interesse verfolgen, nämlich mittels Sport eine gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten und abzusichern, die ihnen weiterhin blendende Geschäfte auf Kosten der Armen und Elenden gestattet?

Das kommerzielle Brot-und-Spiele-Programm des Weltfußballs, das den Menschen in Südafrika allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, neue und dauerhafte Jobs und soziale Verbesserungen versprach, war nur für die Machteliten und in den Darstellungen ihrer PR-Agenturen ein Erfolg. Nach Angaben des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH), das im September in Zürich seine Studie über die "vorläufige Evaluation der Auswirkungen der Fifa Weltmeisterschaft auf Südafrika" veröffentlicht hatte [1], zahlte sich die erste Fußball-WM auf afrikanischem Boden vor allem für den Weltsportverband aus, der seine Einnahmen gegenüber der WM 2006 in Deutschland um 50 steigern konnte. Es war mithin die finanziell erfolgreichste WM der Geschichte. "Nach unseren Untersuchungen hat der einmonatige Trip an das Kap der Guten Hoffnung der Fifa rund 2,5 Milliarden Euro in die Kassen gespielt", erklärte der südafrikanische Gewerkschaftsfunktionär Eddie Cottle in einem taz-Interview (18.10.10, online). Diese Zahlen seien von der Fifa bislang nicht dementiert worden. "Auf der anderen Seite sind Südafrika von der WM nicht viel mehr als Schulden geblieben, rund 500 Millionen Euro. Kein Wunder, hat die WM doch statt der prognostizierten 1,75 Milliarden die Nation 4,2 Milliarden gekostet", so Cottle, der an der SAH-Studie maßgeblich beteiligt war. Fazit der Untersuchung: "Der erwartete materielle Nutzen der WM für Südafrika scheint zur Legitimation der riesigen Abzocke durch die FIFA, ihre kommerziellen Partner und die lokalen Monopolisten massiv zu hoch berechnet worden zu sein. Heute ist es offensichtlich, dass sich die Schätzungen von 2003, in denen Südafrika nur 'minimale' Kosten und 'signifikante' materielle Nutzen versprochen worden waren, ins Gegenteil gedreht haben."

Das Versprechen einer nachhaltigen ökonomischen Wirkung verdampfte, noch bevor deren Tropfen den Boden erreichen konnten, heißt es in der Studie. Der sogenannte Trickle-Down-Effekt, wonach Wirtschaftswachstum und allgemeiner Wohlstand der Reichen nach und nach in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickern, hat sich einmal mehr als neoliberales Märchen erwiesen. Entgegen den Prognosen führte die WM nicht zu neuen, dauerhaften Jobs, sondern Ende Juli 2010 nahm die Beschäftigung gegenüber dem Vorjahr bereits wieder um 4,7% ab, so die Studie. "Auf dem Bau gingen zwischen Juni 2009 und Juni 2010 111.000 Jobs verloren."

Während sich die Löhne der geschäftsführenden Vorstandsmitglieder (CEO's) der fünf größten Bauunternehmen in Südafrika mehr als verdoppelten, ging die Lohnschere zwischen CEO's und den normalen Bauarbeitern noch weiter auseinander. Um die kargen Löhne wenigstens der Teuerung anzugleichen und auf einen Stundenlohn von 1,90 Euro (!) zu kommen, mußten die Bauarbeiter mit 26 lokalen und einem nationalen Streik mit 70.000 Beteiligten auf die Barrikaden gehen und sich teilweise Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt liefern. Dessen ungeachtet hat sich die ohnehin bereits gewaltige Kluft zwischen Arm und Reich in Südafrika durch die WM weiter vergrößert.

Von den zehn neu gebauten Stadien stehen nach Auskunft von Eddie Cottle vier leer und verfallen. Sie gelten bereits als "White elephants", d.h. die Arenen sind viel zu groß und im Unterhalt viel zu teuer, als daß man sie noch aufrechterhalten könnte. "Entgegen den Einwänden des südafrikanischen Fussballverbandes und der Vertreter der Fussball- und Cricket-Ligen wurden die Stadien auf Druck der FIFA trotzdem gebaut", schreibt das SAH, das zudem Adrian Lackay, Sprecher der Südafrikanischen Steuerbehörde (South African Revenue Service) mit den Worten zitiert: "Wir gingen bei unsere Überlegungen nie davon aus, dass die WM die Staatseinkünfte steigern würde. Natürlich wäre es vermessen, die WM als selbsttragend zu betrachten. Die Privilegien und Konzessionen, welche wir der FIFA zugestehen mussten, waren schlicht zu hoch und zu erdrückend, als dass für uns monetärer Nutzen hätte entstehen können." An anderer Stelle weist das SAH darauf hin: "Die FIFA hat die südafrikanischen Zentralregierungen, die lokalen Verwaltungen und Städte mehrmals massiv unter Druck gesetzt, wenn es beispielsweise um die Steuerbefreiung aller ihrer Gewinne und derer ihrer Partner ging."

Stimmt, der Monopolverband FIFA und seine Partner haben massiven Druck auf die Politik, Wirtschaft und sogar das Rechtswesen von Südafrika ausgeübt. Doch der vielzitierte Druck würde ins Leere gehen, wenn es nicht staatlicherseits einen Interessenswiderpart dazu gäbe, der diesen Druck aufnimmt, befördert und umzulasten bereit ist. Gemeint ist die südafrikanische Regierung, die, um ihr hegemoniales Nation Building-Projekt durchzusetzen und internationale Imagegewinne zu akquirieren, den Druck über ihre lokalen Statthalter an das Volk weiterzugeben suchte. Deshalb "glaubte" sie nicht nur der 2003 von Grant Thornton South Africa, einem der weltweit größten Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen, erstellten Berechnung über den volkswirtschaftlichen Nutzen und die Kosten der WM, welche später um mindestens das 17fache der ursprünglichen Budgetierung übertroffen wurde, sondern ließ auch "Säuberungsmaßnahmen" durchführen, etwa indem Klein- oder Schwarzhändler von den Straßen entfernt, illegale oder störende Behausungen oder Siedlungen plattgewalzt oder verlegt sowie im Zuge der Sicherstellung von Sponsoring- und Marketingrechten der FIFA regelrechte Hetzkampagnen gegen Geschäftstreibende wegen "unlauterer Werbung" betrieben wurden. Nur zum Teil konnten sich die davon betroffenen Bevölkerungsteile, in der Regel arme und mittellose Menschen, gerichtlich dagegen zur Wehr setzen.

Wenn nun in den Medien der Eindruck erzeugt wird, zumal vor dem Hintergrund des aktuellen Korruptionsskandals der FIFA, wonach die FIFA-Exekutivmitglieder Amos Adamu (Nigeria) und Reynald Temarii (Tahiti) gegen "Fußball-Entwicklungshilfe" ihre Stimmen zu verkaufen bereit waren (ähnliche Vorwürfe werden gegen weitere FIFA-Offizielle vornehmlich aus Afrika sowie gegen UEFA-Funktionäre erhoben), daß dem Problem "undemokratischer Praktiken", "raffgieriger Funktionäre" und "korruptiver Umtriebe" in den führenden Weltsportorganisationen, zu denen sicherlich auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) gehört, mit einer "Welt-Anti-Korruptions-Agentur" (WACA) zu Leibe zu rücken wäre, dann mag das geeignet sein, sich einen Freifahrtschein als "kritischer Sportjournalist" schießen zu können, rührt jedoch nicht an den Wurzeln der Sportökonomie, die Inbegriff kapitalistischen Wirtschaftens ist. Wer die kommerziellen Verwertungsmaximen des Sports aufrechterhalten will, um in Form von Verdachts- oder Skandalberichterstattung daran partizipieren zu können, kann dies nur zum Preis innovativer gesellschaftlicher Repressions- und Überwachungsapparate, die die Verwertungsordnung des Sports zu schützen und zu garantieren vorgeben. Wer jedoch ein emanzipatives Interesse mit dem Sport verbindet und nicht glaubt, daß der Mensch eine Maschine unter Volldampf sei, die nach leistungssportlichen Steigerungsimperativen zu funktionieren und wie am Fließband Tore, Zeiten oder Weiten zu produzieren hat, steht von vornherein in einem vitalen Widerspruch zu den Wertschöpfungsketten des herrschaftskonformen Leistungssports und versucht gar nicht erst, ihn über "Transparency International"-Ideologien ethisch reinwaschen und marktgängig machen zu wollen. Sportliche Leistungen unter dem Markensiegel des Fairplays sind ein Geschäft, das FIFA, UEFA oder IOC zur Blüte treiben konnten, weil es sich mit dem marktradikalen Herrschaftskonsens der politischen, administrativen und ökonomischen Eliten in Südafrika, Deutschland (siehe Münchens Olympiabewerbung für die Winterspiele 2018) oder anderswo bestens verträgt und weitere Wachstumsraten verspricht. Ebenso wie der Antidopingkampf Bestandteil der sich ausbreitenden Sicherheits- und Überwachungsindustrie ist, wäre der Antikorruptionskampf Teil derselbigen, da er von den gleichen opportunistischen Kräften sozialtechnokratischer Observanz betrieben wird, die auch die Verwertung des warenförmigen Sports gutheißen. Es gäbe keinen Antidoping- oder Antikorruptionskampf, wenn er nicht produktiver Bestandteil der gesellschaftlichen Ausbeutungsordnung wäre.

Das Anprangern der FIFA-Macht und -Machenschaften bleibt solange Teil der Volksverdummung, wie die ökonomischen und politischen Verwertungsketten des Sports nicht grundlegend aufgebrochen werden und wieder der Mensch mit seinen körperlichen Problemen im Geflecht des vorherrschenden Arbeits- und Leistungsregimes in den Mittelpunkt emanzipatorischer und solidarischer Fragestellungen gerückt wird. Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger Südafrikas oder Deutschlands ebenso wie die Brasiliens, wo 2014 die nächste Fußball-WM stattfindet und ein ähnliches soziales Täuschungsmanöver auf Kosten weiter Teile der Bevölkerung seinen absehbaren Verlauf nimmt.

Anmerkung:

[1] http://www.sah.ch/data/D23807E0/Evaluation_Wordlcup2010_D.pdf (sic!)

25. Oktober 2010