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KOMMENTAR/230: Opportunity ... (SB)


Die neue Generation "sauberer" Radsportler: kontrollbereit, repressionsfreudig, schuldgetrieben


Sie werden von den Medien als "die neue Generation im deutschen Radsport: jung, lässig, redegewandt - und sauber" [1] gefeiert. Radprofis wie Tony Martin, Marcel Kittel, André Greipel oder John Degenkolb gelten als Hoffnungsträger für einen "Mentalitätswandel" im dopingbelasteten deutschen Radsport. "Eine Generation, die auf eine neue Chance hofft und fleißig daran arbeitet, den großen Scherbenhaufen, den die einstigen Helden wie Jan Ullrich oder Erik Zabel mit ihrer dunklen Vergangenheit im Doping-Zeitalter hinterließen, abzutragen", frohlockt die Sportunterhaltung, die nicht schlecht daran verdient, Sporthelden hochleben oder sterben zu lassen. [1] 2007 war so ein heuchlerischer Umschlagspunkt, als sich ARD und ZDF während der Tour de France aus der Live-Übertragung des Radrennklassikers ausklinkten und den Profisport mit Liebesentzug straften. Offizieller Anlaß war ein positiver Dopingtest beim damaligen T-Mobile-Fahrer Patrik Sinkewitz, der später auch als "Kronzeuge" für diverse Dopingpraktiken in diesem nach wie vor gültigen "Quäl-dich-du-Sau"-Geschäft der Pedaleure auftrat.

Inzwischen wollen die Öffentlich-Rechtlichen wieder Live-Bilder von der "Tour der Leiden" senden, nachdem es seit 2012 nur noch eine nachrichtliche Berichterstattung gab. Das hat weniger mit der "Normalisierung des Publikumsinteresses", wie es Radsportpräsident Rudolf Scharping (SPD) formulierte, oder den kommerziellen Interessen der Sport-Medien-Partner zu tun, als mit der "neuen Generation" verdachtsgepeinigter, kontrollbereiter und repressionsfreudiger Vorzeigesportler, die mit blindem Eifer der Verpolizeilichung des Sports zuarbeiten und den Wandel der analogen Disziplinar- zur digitalen Kontrollgesellschaft repräsentieren.

Zweifelsohne hätten sich ARD und ZDF auch aus dem täglichen Politentertainment ausblenden können, sobald wieder einmal ein Korruptions- oder Betrugsfall publik wird, doch die gesellschaftlichen Funktionseliten können sich darauf verlassen, daß im größten biologischen Experiment der Menschheitsgeschichte, wie der renommierte Sportmediziner Prof. Dr. Wildor Hollmann den Leistungssport einmal nannte, die Rollen fest gefügt sind: Oben die älteren, mit allen Wassern gewaschenen Funktionäre der Sportorganisationen und -verbände, unten die jungen, leicht zu instrumentalisierenden Sportspezialisten, an denen die zeitgenössischen Herrschaftstechnologien in einer sich immer enger schraubenden Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft ausprobiert werden können. Der entpolitisierte Athlet, der sich vollkommen auf seinen Sport fokussiert hat und mit geradezu sklavischer Ergebenheit die marktkonformen Verwertungsbedingungen seiner Leidenschaft zu erfüllen sucht, ist das perfekte Versuchskaninchen.

Der klassische Athletentyp, der sich in einer befristeten Phase seiner Laufbahn schwer abrackert und keine pharmakologischen, medizinischen, technischen oder psychologischen Hilfsmittel scheut, um sein Muskelfleisch auf maximalen Leistungsoutput und sozialökonomischen Mehrwert zu trimmen, wird inzwischen durch einen Prototyp ersetzt, der seine Leistungsgenese nurmehr unter schärfster Kontrolle, Überwachung und Repression anstrebt. Der technisch-physikalische Zugriff auf den Athleten beschränkt sich nicht mehr nur auf die Meßapparaturen im Wettkampf sowie die Tretmühlen seines Trainings, sondern hat sich bis weit in seine Privat- und Intimsphäre sowie innerste Biologie und äußeren Lebensumstände ausgedehnt, welche unter kriminalistischen Aspekten sondiert, geprüft und beargwöhnt werden. Die traditionelle Mensch-Maschine-Verbindung des Athleten, der seinen Leib in den Ergometrien der Arbeits- und Sportwissenschaften knechtet, um höhere Wattzahlen und verbesserte Bewegungsdaten zu erzielen, wurde noch um den Faktor der digitalen Aufenthalts- und Meldekontrolle erweitert, wofür die World Anti Doping Agency (WADA) mit dem Online-Überwachungssystem ADAMS beispielhaft steht.

Längst hat sich der moderne Spitzensport zu einer Mißtrauen, Verdacht und strafbewehrte Schuld freisetzenden Leistungskultur entwickelt, die gegenwärtig in der Kriminalisierung selbst geringster Besitzmengen von Arzneimitteln, die Spitzensportler zu Dopingzwecken einsetzen könnten, kulminiert (siehe geplantes Anti-Doping-Gesetz). Die meist unreflektierte Übertragung des legalistischen Dopingkonstruktes auf in der Bevölkerung durchgängig verbreitete Formen der Alltagsoptimierung mit Hilfe von stimmungsaufhellenden oder leistungssteigernden Substanzen, wie sie im Zuge einer kürzlich veröffentlichten DAK-Studie unter dem Schlagwort "Doping am Arbeitsplatz" subsumiert wurden, läßt befürchten, daß auch in der Arbeitswelt neue Formen inkriminierten Leistungsverhaltens Einzug halten werden. Das liegt schon deshalb nahe, weil die Menschen die Disziplinierungs-, Ausforschungs- und Überwachungtechniken des webgestützten Lifeloggings auf ebenso spielerische wie sportliche Weise bereits einüben (siehe den boomenden Markt der Selbstvermessung), so daß Privatheit, Intimität und körperliche Selbstbestimmung, über die kein Leistungsalgorithmus, Dopingkontrolleur oder Gesetzeshüter wacht, immer mehr verschwinden werden.

Wo das Leistungssubjekt so in die Enge eines Zeitgeistes getrieben wird, daß ihm nur die Wahl bleibt, sich vollständig der sauberen Sportreligion zu unterwerfen, kann der Ruf der Flagellanten nach härteren Reinigungstechniken nicht ausbleiben. Hatte Jens Voigt, einer der populärsten und erfolgreichsten Radprofis in Deutschland, gegenüber der Dopinginquisition vor knapp drei Jahren noch bekundet, daß er sich auch kasernieren ließe und sogar eine "elektronische Fußfessel" tragen würde, wenn er dadurch die Chance bekäme, "die Zweifler zu überzeugen" [2], so setzt die nachrückende Generation der Radsporthelden in ihrer Bereitschaft, sich dem vorherrschenden Bezichtigungssystem zu unterwerfen, um Sauberkeitspunkte zu sammeln, noch einen drauf. "Sie haben sich für die Einführung des Anti-Doping-Gesetzes eingesetzt, eine Anti-Doping-Ehrenerklärung unterzeichnet und ihre Haltung bei jeder Gelegenheit offensiv vertreten", lobte Die Welt (online) die Radprofis Tony Martin, Marcel Kittel und André Greipel und fügte hinzu: "Die sieben deutschen Tour-Etappensiege im vergangenen Sommer und andere große Erfolge waren weitere überzeugende Argumente." [3]

Um Schützenhilfe für das umstrittene Anti-Doping-Gesetz der Regierungskoalition zu bekommen, fand im November 2014 in Berlin im Beisein von Justizminister Heiko Maas (SPD) die Showveranstaltung "Sportlerinnen und Sportler für einen sauberen Sport" statt. Zu den prominenten Erstunterzeichnern einer Ehrenerklärung, die den von Datenschützern und Rechtsexperten scharf kritisierten Gesetzentwurf ohne Abstriche begrüßten, gehörte neben den genannten Radprofis auch ihr Kollege John Degenkolb sowie Tischtennis-Star Timo Boll, bekannt dafür, daß er sich als "gläserner Athlet" gerne auch per GPS orten lassen würde. Die Nationale Anti-Doping-Agentur (NADA) forscht derzeit daran, wie sie das WADA-Überwachungssystem "ADAMS" noch mit dem GPS-Ortungssystem "EVES" des Leichtathleten Jonas Plass ergänzen kann, das die Athleten dann (freiwillig) am Körper tragen. [4]

Die neue Linie im Profi- und Spitzensport, die sogenannte Abschreckung durch hohe Strafandrohungen zu erhöhen, wird - welch Wunder - inzwischen auch vom Präsidenten des Radsport-Weltverbandes UCI, Brian Cookson, vertreten. Wie der olympische Branchendienst "Insidethegames" berichtet, bezeichnete der Brite, dessen Dachverband nach diversen Doping- und Korruptionsskandalen quasi unter Bewährungsstrafe steht, die Kriminalisierung von Doping als "gute Idee". Zugleich warnte er davor, daß manche Sportarten in Sachen Doping in einer "Verweigerungshaltung" verblieben und forderte (analog zur neuen Repressionslinie von IOC-Präsident Thomas Bach, sich mit den Weltregenten und -polizeien zu "verpartnern"), die Zusammenarbeit mit Zoll, Polizei und Staatsanwaltschaften nicht nur auf die Verfolgung von Doping zu beschränken. Es gehe auch darum, so Cookson, "Geldwäsche, Diebstahl, Drogenschmuggel und Steuerhinterziehung" gemeinsam zu bekämpfen. [5]

Wer glaubt, daß die fortschreitende Verpolizeilichung des Sports und seine Implementierung in gesellschaftliche Repressionsstrukturen nur auf die äußeren Umstände seiner profitablen Verwertung abzielen, der sollte John Degenkolb zuhören. In einem Deutschlandfunk-Gespräch vertrat der hofierte Radprofi die Meinung, daß die Athleten zur größeren Abschreckung auch nachts kontrolliert werden sollten, etwa wenn der Verdacht des Mikrodopings z.B. mit Hilfe geringer Mengen von EPO bestehe. Allerdings sei seine Zunft noch schwer davon zu überzeugen, "daß das was ist, was den Sport sauberer macht". [6]

Damit antizipierte Degenkolb gewissermaßen eine scharfrichterliche Diskussion, die dieser Tage richtig Fahrt aufgenommen hat. In Frankreich, wo die Nationalversammlung gerade ein schier unglaubliches Gesetzespaket verabschiedet hat, welches den Geheimdiensten, Polizeibehörden und dem Premierminister umfangreiche Kompetenzen hinsichtlich der Überwachung der Bürger unter Ausschaltung der Gerichtsbarkeit einräumt, wurden die Ergebnisse eines angeblich von der WADA unterstützten, zunächst geheimgehaltenen Experiments lanciert, das die leistungssteigernde Wirkung von Mikrodoping während der Nachtzeit unter Beweis stellen sollte. Sofort verlangte die deutsche NADA, Dopingtests auch in den Nachtstunden durchzuführen. Die hoheitliche Möglichkeit dazu hat die private Dopingpolizei bereits, in der Praxis wurde jedoch bislang darauf verzichtet, um die arg malträtierten Freiheitsrechte der Athleten (und Familienmitglieder, die ebenfalls aus dem Schlaf gerissen würden) nicht noch weiter einzuschränken. Doch nach dem jüngsten Experiment, das für die Angst und Anpassung befördernde Botschaft der Überwachungsgesellschaft an die Bürger steht, daß sie niemals, nirgendwo und zu keiner Zeit - auch im Schlaf nicht - sicher sein dürfen, von Kontrolleuren unbehelligt zu bleiben, haben die Dopingjäger und ihre päpstlichen Organe (siehe die Stellungnahmen von Sörgel, Franke etc.) wieder Oberwasser. Auch der DOSB kündigte an, Nachttests auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen.

Die Studie zeige, "dass wirklich kriminelle Energie notwendig ist, um Doping in dieser Form zu betreiben", hieß es in einer Stellungsnahme der NADA auf Facebook. Die Art des Dopings zeige, "dass Kontrollen - in verhältnismäßiger Anzahl - auch zwischen 23 Uhr abends und sechs Uhr morgens durchgeführt werden müssen, damit hier keine Lücke vorhanden ist". [7] Die Bonner Agentur, die sich unter dem Euphemismus "Intelligence & Investigations" zu einer Art Doping-Geheimdienst entwickelt, hatte sich auch für das Anti-Doping-Gesetz stark gemacht. Kürzlich bat der Bundesrat darum, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob im Antidopinggesetz auch "eine Möglichkeit zur Datenübermittlung seitens der Stiftung Nationale Anti-Doping Agentur Deutschland an die Strafverfolgungsbehörden geregelt werden sollte". [8] Damit würden Kaderathleten, deren Bewegungsprofile und Biodaten progressiv erfaßt werden, Gefahr laufen, in erweiterte Verdachts- und Verfolgungsraster zu geraten. Die behördliche Aufwertung der privaten Datenkrake NADA, die wiederum mit dem Überwachungsmoloch WADA verbunden ist, dient dem Ziel, Informationsaustausche und Kooperationen zwischen sporthoheitlichen und staatlichen Instanzen zu legalisieren. Sportforensische Testergebnisse, aber auch Verdachtshinweise, Anschwärzungen oder durch Strafnachlässe geköderte Kronzeugenaussagen von zweifelhaftem Gehalt könnten dann Ermittlungsbehörden auf den Plan rufen, zum Beispiel verdeckte Überwachungsoperationen gegen Athleten und ihre mutmaßlichen "Hinterleute" (Familien, Freunde, Trainer, Ärzte, Pressevertreter etc.) durchzuführen.

Wie es scheint, gibt es nichts, was die Kontrollfanatiker in ihrem unheilvollen Streben nach einem "sauberen Sport" noch aufhalten könnte, denn schon bei der Pseudo-Diskussion um das Anti-Doping-Gesetz, das zahlreiche Grundrechte einschränkt, liefen kritisch eingestellte Experten aus Datenschutzorganisationen, Rechtswesen und Wissenschaft gegen eine Wand aus Ignoranz, Berufsopportunismus und Fachidiotentum. Wenn selbst die Eisschnellläuferin Claudia Pechstein, die wie keine zweite des Dopings bezichtigte Athletin in Deutschland durch die Kloaken von Sport, Medien, Politik und Dopinganalytik gezogen wurde, in einem Interview erklärt, "ich war immer gegen Doping und dafür, dass Doper bestraft werden. Ich habe nichts zu verbergen, und von mir aus kann ich täglich kontrolliert werden" [9], dann hat sich der Druck auf die Athleten (und Funktionäre), sich kontrolldevot, überwachungsaffin und sozial regressiv zu verhalten, um gesellschaftlich anerkannt zu werden, zu einer Normalität geradezu totalitären Ausmaßes verdichtet. Daß der "saubere Sport" damit zum Totengräber bürgerlicher Freiheitsrechte wird, dürfte die Sorge der vom Sportgewerbe profitierenden Kräfte und Instanzen nicht sein. An der "neuen Generation" unvermindert erfolgshungriger Radsportler kann man studieren, daß das Experiment Leistungssport in ein neues Stadium repressiver Vergesellschaftung übergetreten ist.

Fußnoten:

[1] http://www.abendblatt.de/sport/article131523189/Der-Mehrkaempfer-der-neuen-Radsport-Generation.html. 23.08.2014

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek171.html
"Sauberer Sport" - Jens Voigt empfiehlt sich für den Sheriff-Stern

[3] http://www.welt.de/newsticker/news1/article135985414/ARD-uebertragt-Tour-de-France-2015.html. 04.01.2015.

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek217.html.
Bis zum Startschuß an die Leine ...

[5] http://www.insidethegames.biz/articles/1027077/exclusive-cycling-chief-cookson-supports-calls-for-doping-to-be-criminalised. 02.05.2015.

[6] http://www.deutschlandfunk.de/radsport-erfolge-ohne-doping-sind-moeglich.892.de.html?dram:article_id=318201. 26.04.2015.

[7] https://www.facebook.com/NADA.Deutschland?fref=ts

[8] http://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2015/0101-0200/126-1-15.pdf?__blob=publicationFile&v=1. 18.04.2015.

[9] http://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/claudia-pechstein-im-interview-der-tag-meiner-rehabilitierung-wird-kommen-12995857-p2.html. 17.06.2014.

8. Mai 2015


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