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KOMMENTAR/232: Hunger-, Ernährungselend und Verwertungsperversionen (SB)


Neue "Darth-Vader"-Kampagne von UNICEF: Kinder, die sich nicht bewegen, lassen andere hungern


In der hiesigen Berichterstattung wird bereits darüber spekuliert, ob es sich bei dem, was das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen aus der Taufe gehoben hat, um eine Real-Satire oder gar eine Fake-Meldung handelt. Schaut man sich jedoch die offizielle Website der UNICEF-Kampagne "Kid Power" sowie die Postings mit begeisterten Teilnehmerinnen und Teilnehmern, Eltern, Lehrern oder Promisportlern aus den USA an, wo die Kampagne ihren Anfang nahm, dann scheint hier tatsächlich ein Massenmobilisierungsprogramm am Start zu sein, das Fitneßtrends, Sozialmarketing und kindliche Welterklärungsschemas auf eingängige Weise mit modernen Überwachungstechniken der Selbstoptimierung verbindet.

So hat UNICEF ein weltweites Programm ins Leben gerufen, das tendenziell übergewichtige Kinder aus reichen Ländern dazu animieren soll, sich mehr zu bewegen, um dadurch Essensrationen für Kinder in ärmeren Ländern freizuschalten. In Anspielung an den Kino-Blockbuster "Krieg der Sterne" wird US-amerikanischen Kids und ihren Eltern mit vollmundigen Slogans allen Ernstes suggeriert, daß Kinder die Macht oder Kraft hätten, durch eigene körperliche Aktivitäten die globale Unterernährung zu beenden und Leben zu retten ("Kids have the power to end global malnutrition by getting active to save lives!"). [1] Bezeichnenderweise ist der Disney-Konzern, der mit dem Star Wars-Epos Milliarden einspielte und im vergangenen Sommer die Kampagne "Force-for-Change" (Macht zur Veränderung) [2] zugunsten von UNICEF und des eigenen Merchandisings initiierte, prominenter Unterstützer von "Kid Power". Das Projekt wurde bereits in Bosten, Dallas und New York erprobt und soll nun auch auf andere Städte bzw. Industrieländer ausgeweitet werden.

Elektronische Fitneßarmbänder in blauer Farbe ("wearable-for-good") geben Auskunft, ob die Kinder oder Schülergruppen ausreichend Bewegungspunkte gesammelt haben, damit aus einer "Welt des Überflusses", wie stolze Teilnehmer in offenkundiger Verkennung der weit verbreiteten Armut in den USA berichten, "lebensrettende Nahrung" an Kinder in armen Ländern versandt werden kann. Je mehr Aktivitäten gezählt werden, desto mehr Nahrungspakete für Kinder in Entwicklungsländern finanzieren die Sponsoren.

Zwar könnten die Pakete auch direkt an die Bedürftigen geschickt werden, doch dann gäbe es die perfide Simplifizierung und karitative Pädagogisierung der Armuts-, Ernährungs- und Bewegungsprobleme in der Welt nicht. Wieder einmal müssen Kinder dafür herhalten, was sich die Erwachsenen so ausgedacht haben. Ob Schulkindern wohl die ganze Bedeutung des brutalen UNICEF-Mottos "get active. save lives." bewußt ist? Für Erwachsene liegt sie auf der Hand: Je weniger sich (dicke) Kinder bewegen oder von ihren Eltern angetrieben werden, desto weniger Nahrungspakete werden in Armutsländer versandt - was nichts anderes heißt, als daß die dortigen Kinder hungern oder sterben müssen. Sehen so die "Hunger Games" im Online-Zeitalter aus? Müssen sich Jugendliche wie in dem Bestsellerroman und Kinohit "Die Tribute von Panem" wirklich wie Gladiatoren gegenseitig bekämpfen oder reicht es nicht vollkommen aus, daß sich (dicke) Kinder auf die Jagd nach Bewegungspunkten machen, damit die reichen Sponsoren ihre Wohltätigkeit demonstrieren und dazu noch das Volk in Atem halten können?

Die subtile Bezichtigung, durch das eigene Bewegungsverhalten schuld daran zu sein oder zumindest Anteil daran zu haben, daß Kinder in armen Ländern hungern müssen, beginnt allerdings schon sehr viel früher. Nämlich dort, wo Kindern (und ihren Eltern) aus Geberländern weisgemacht wird, sich selbst in einer körperlich höchst defizitären Lage zu befinden, die durch Aktivitätssteigerungen unbedingt ausgeglichen werden muß. Unter Ausblendung wesentlicher sozialer Faktoren, genetischer Dispositionen sowie gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse, die für adipöses Übergewicht, Bewegungsmangel oder minderwertige Nahrung verantwortlich sind, wird den Trägern von Fitneßarmbändern beigebracht, sich auf das quantitativ Meßbare zu beschränken. Das Individuum soll nicht die gesellschaftlichen Besitz- und Gewaltverhältnisse in Frage stellen, sondern sich selbst - am besten jederzeit und allerorten. Sogar Schlaf und Sex können mit Hilfe von Aktivitätstrackern noch auf höhere Effizienzwerte getrimmt werden. Die Körpermaschine muß laufen; nur wer täglich das Bewegungssoll erfüllt und sein Eßverhalten bis auf die letzte Kalorie abgerechnet hat, darf ruhigen Gewissens glauben, den Idealen von Gesundheit, Fitneß, Schlankheit oder Wohlgefühl ein Stück nähergekommen zu sein. Leider nur ein bißchen, denn die Endlosschleife der Selbstvermessung hält die Quantifizierer unablässig an der Kandare des Vergleichs, manifestiert durch die Zahl, die es zu erreichen oder zu überbieten gilt. Daß der Mensch in seinem Streben nach Identität und Selbstvergewisserung so töricht ist, aus der Zahl den eigenen sozialen Wert, Rang oder Vitalfaktor abzuleiten, läßt das Ausmaß seiner Fremdbestimmung und -verfügbarkeit erahnen.

So kann auch die UNICEF-Kampagne gar nicht platt genug sein, um die zu Datenträgern degradierten Massen in Bewegung zu setzen. In einem erstaunlich unkritischen Bericht über "Kid Power" schwärmt Heise-Online vom pädagogischen Effekt, der über die Motivation zur Bewegung hinausgehe: "Die aktiven Kinder können sich selbst als positive Kraft erleben. Anstatt lediglich Hilfsempfänger zu sein, können sie selbst anderen helfen, häufig zum ersten Mal in ihrem Leben. Im begleitenden Unterricht erfahren sie außerdem etwas über die Welt außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika." [3]

Wer sich die Werbevideos und Erfahrungsberichte zu "Kid Power" im Netz anschaut, hört und sieht vor allem zu Lebensrettern mutierte Kinder, die die Win-Win-Phrasen der Erwachsenen nachreden und auf spielerisch-sublime Weise den selbstverständlichen Umgang mit Aktivitätstrackern antrainiert bekommen. Im vergangenen Jahr hatten Schulen in den USA bereits damit begonnen, den Kindern das Tragen von elektronischen Pulsmessern vorzuschreiben, um ihre Fitneßarbeit und Leistungsbereitschaft vollständiger überwachen und besser benoten zu können. [4]

Daß den Power Kids im Unterricht "die dunkle Seite der Macht" eröffnet wird, z.B. mit welchen "Darth Vader"-Strategien US-amerikanische Lebensmittelkonzerne sowie Saatgut-, Pestizid- und Gentechnikmultis die ärmeren Länder als Ressourcen-, Absatz- und Produktionsräume gefügig machen und mit welch plakativen Scheinaktionen die reichen Industriestaaten vorgeben, die weltweit 805 Millionen Menschen, die regelmäßig an Hunger leiden, aus Armut und Elend zu befreien, steht indessen nicht zu erwarten.

Dann schon lieber Schritte zählen, Pulsschlag messen und Bewegungspunkte sammeln, die dazu berechtigen, das gute Gewissen in Nahrungspakete verpackt gen Afrika oder Asien zu schicken. Für Geld sollen künftig Teilnahmetickets an der Bewegungskampagne auch über Apps zu ordern sein. Der kleine Schönheitsfehler in der Planung: Apple und Google behalten 30 Prozent dieser Beträge ein. Das sei der allgemein übliche Satz. Ausnahmen für karitative Organisationen gäbe es keine, zitiert Heise-Online Rajesh Anandan, den Vizepräsidenten des UNICEF U.S. Funds, der als Kampagnenverkäufer durch die Medien tingelt. Sollte die IT-Industrie, die mit der digitalen Selbst- und Fremdüberwachung ein Bombengeschäft macht, der UNICEF preislich noch etwas entgegenkommen, können sich bald alle in dem schönen Gefühl sonnen, als "Jedi"-Lebensretter auf der "hellen Seite der Macht" zu stehen.

Fußnoten:

[1] http://unicefkidpower.org/

[2] http://www.starwars.com/force-for-change

[3] http://www.heise.de/newsticker/meldung/Fitness-Armband-von-UNICEF-hilft-armen-Kindern-2672686.html. 02.06.2015.

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek215.html
KOMMENTAR/215: Vermessungsjoch und Leistungszwang

14. Juni 2015


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