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KOMMENTAR/264: Olympia - Lohn und Strafe beleben das Geschäft ... (SB)



Neudeutsche Wörter wie "Prekariat", "Working Poor" oder "Vertafelung der Gesellschaft" künden zwar davon, daß die soziale Spaltung in Deutschland trotz aller Egalitätsversprechen rapide voranschreitet, doch das scheint den neoliberalen Wettbewerbsstaat nur noch mehr anzuspornen, Gelder in den Klassenkampf von oben zu investieren. Während der Breitensport in der Bundesrepublik chronisch unterfinanziert ist, überall im Land die Mittel für die Sanierung und den Bau von Turn- oder Schwimmhallen fehlen, buttert der Staat immer mehr Steuergelder in den elitären Spitzensport, um die Fassade einer glorreichen Sportnation aufrechtzuerhalten, auf die sich Arm und Reich, verbrüdert im patriotischen Sportgeiste, etwas einbilden sollen. Damit das euphorisierende wie betäubende Dauergeschwafel in den Medien über deutsche Medaillenerwartungen und -erfolge auch weiterhin durch die Köpfe der Bürger dröhnen kann, soll die Bundessportförderung, die zur Zeit bei etwas mehr als 170 Millionen Euro liegt, erheblich aufgestockt werden. Von bis zu 100 Millionen zusätzlich ist die Rede. "Es handelt sich dabei um eine grobe Schätzung dessen, was im gesamten Bereich des Leistungssports künftig wohl erforderlich sein könnte, und zwar aus Mitteln von Bund, Ländern und Kommunen und auch der zahlreichen weiteren Partner des Sports", teilte der DOSB-Vorstandsvorsitzende Dirk Schimmelpfennig im Oktober vergangenen Jahres mit. [1] Aufgrund der langwierigen Regierungsbildung sind zur Zeit noch keine gültigen Zahlen über das künftige Ausmaß der Spitzensportförderung veröffentlicht.

Bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang führte Schimmelpfennig als "Chef de Mission" eine Mannschaft aus 154 deutschen Athletinnen und Athleten an, die zu etwa 70 Prozent aus Militärs, Polizisten und Grenzschützern bestand. Von den 31 Medaillen (14 G, 10 S, 7 B), die Deutschland in Südkorea errang, gingen allein 16 auf das Konto der Bundeswehr - neben dem Innenministerium einer der größten Förderer des Elitesports in Deutschland. Die wider besseren Wissens mit aller Macht fortbehauptete Vorbildfunktion des Spitzensports haben sich nicht nur Politik, Medien und Wirtschaft auf die Fahnen geschrieben, sondern auch das Verteidigungsministerium, das sich unlängst als "offizieller Ausbilder von Vorbildern" präsentierte und mit dem Slogan "Wir kämpfen für die Freiheit. Und um Medaillen" warb. Vor dem Hintergrund, daß die Regierungskoalition den Etat für die Bundeswehr von 38,5 Milliarden Euro auf 42,4 Milliarden im Jahr 2021 anzuheben plant, um den US- bzw. NATO-Forderungen nach einer Zwei-Prozent-Erhöhung gemäß dem Bruttoinlandsprodukt näherzukommen, sollte die Vereinnahmung des medaillengoutierenden Sports für Werbeziele des Verteidigungsministeriums schon zu denken geben.

Dirk Schimmelpfennig führte nicht nur die Athleten in den immer mehr humane und materielle Ressourcen verbrauchenden Medaillenkrieg der Nationen, sondern bestätigte auch das Richtmaß, an dem sich die TeilnehmerInnen zu messen hätten. Wie der ehemalige Tischtennisfunktionär gegenüber dem Deutschlandfunk erklärte, seien Medaillen nun einmal "der Maßstab" - und zwar nicht nur "dafür, dass man sagt, man ist wieder unter den Spitzennationen zurück". Auch für die Athleten sei es wichtig, "etwas Handfestes für die erbrachten Leistungen zu bekommen - und da sind die Medaillen sicherlich auch für die Athleten immer noch die Währung". [2]

Soziale Währung, um Rangfolgen, Privilegien und Klassen abzustecken, zu verfestigen und fortbestehen zu lassen, sollte man hinzufügen. Die Spaltung und Klassifizierung der Athleten findet nicht nur über den bewährten Hebel von Leistung und Konkurrenz statt. Sie drückt sich auch in der Mehr- oder Minderprivilegierung von potentiellen wie tatsächlichen Medaillengewinnern aus. So bestätigte Dirk Schimmelpfennig im Deutschlandfunk, daß "potentielle Medaillenkandidaten" in der Businessclass nach Pyeongchang fliegen durften, da der DOSB ihnen die Möglichkeit geben wollte, "besser ausgeschlafen und besser ausgeruht nach Korea zu kommen" bzw. "um schneller in die Vorbereitung und die Wettkämpfe einsteigen zu können". Vorteile oder Chancen, die minderprognostizierten Olympiateilnehmern, die es vielleicht viel nötiger gehabt hätten, nicht gewährt wurden.

Die Auf- und Abwertung der TeilnehmerInnen nach Medaillenerfolgen setzte sich auch auf dem Heimflug fort. Denn nur die MedaillengewinnerInnen sollten die Annehmlichkeiten der Businessclass erfahren dürfen. Sportfachliche Gründe, sofern sie nicht ohnehin teilweise vorgeschoben waren, dürften zumindest auf dem Rückflug kaum eine Rolle gespielt haben als vielmehr die Botschaft an die zurückgesetzten Athleten, sich beim nächsten Mal gefälligst mehr anzustrengen, damit sie nicht in der "Holzklasse" mit eingeschränktem Serviceangebot landen. Was wunder, daß aus Sicht eines Sportwissenschaftlers wie Schimmelpfennig "die Problematik" nicht etwa in der sozialen Deklassierung von mindererfolgreichen Athleten liegt, sondern darin, daß der DOSB offenbar nicht mit dem Erfolg der deutschen Eishockeymannschaft gerechnet hatte (Silber nach überraschender Finalteilnahme), so daß "wir weniger Businessplätze haben als Medaillengewinner". Zur Rechtfertigung dieser Verfahrensweise führte er u.a. die Leistungssportreform an, die auch zwischen Olympia-, Perspektiv- und Nachwuchskadern differenziere. "Das ist der Grundgedanke. Und deshalb waren die Eishockeyspieler zu dem Zeitpunkt halt noch nicht auf dem A-Kader-Niveau", so Schimmelpfennig. Bei den nächsten Winterspielen in Peking 2022, entsprechendes Leistungsniveau vorausgesetzt, könnten die Eishockeyspieler "dann eben auch ausgeruhter und frischer zu den Spielen nach Peking" befördert werden.

Wer Medaillen oder Endkampfplazierungen vorzuweisen hat, dem wird gegeben, so das verkürzte Credo der Leistungssportgesellschaft. So werden die Prämien der Deutschen Sporthilfe streng nach Plazierung ausgeschüttet: Für Gold gibt es 20.000 Euro, für Silber 15.000 Euro, für Bronze 10.000 Euro. Platz vier bekommt 5.000 Euro, Platz fünf 4.000 Euro, Platz sechs 3.000 Euro, Platz sieben 2.000 Euro, Platz acht 1.500 Euro. Warum die Pyramide nicht umkehren und dem Letzten das meiste vom Kuchen geben? Haben es die Mindererfolgreichen nicht am nötigsten? Solcherlei Fragen scheinen geradezu tabu zu sein, was auch nicht weiter verwundert, steht doch hinter der Sportelitenförderung eine private Stiftung, die sich selbst aus gesellschaftlichen Eliten zusammensetzt. So schöpft die Deutsche Sporthilfe nicht nur ihre Gelder aus der Wirtschaft, sondern wird auch von einem Kuratoren-Netzwerk reicher Einflußnehmer repräsentiert, die in der Selbstdarstellung "eine Elite unseres Landes mit Leistungsträgern aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik" verkörpern. [3]

Daß sich die Minderklassifizierten mit Sicherheit genauso angestrengt haben wie die Edelmetallgewinner, zählt in dieser Oben und Unten determinierenden Weltsicht nicht - was zählt, ist der selektive Maßstab, über den sich die Menschen in die hierarchische Ordnung des kompetitiven Vergleichs und der fortgesetzten sozialen Unterscheidung einbinden lassen.

"Die Prinzipien des Sports stärken unser Land", behauptet die Sporthilfe, obwohl strahlende deutsche Medaillenerfolge wie in Pyeongchang kaum noch darüber hinwegtäuschen können, daß sich die Reichtumseliten immer mehr Gelder zu Lasten einer wachsenden Armutsbevölkerung in die eigenen Taschen wirtschaften. Selbst die Bertelsmann-Stiftung, die 2005/06 eine der größten, eng an sportlichen Konnotationen siedelnden Social-Marketing-Kampagnen ("Du bist Deutschland") in der Geschichte der Bundesrepublik losgetreten und an der Agenda 2010 mitgewirkt hatte, konzediert inzwischen weitverbreitete Armut schon bei den Kleinsten und Schwächsten. "Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand. Wer einmal arm ist, bleibt lange arm. Zu wenige Familien können sich aus Armut befreien", so Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. [4] Die Spaltung der Gesellschaft ist schon so weit fortgeschritten, daß die obersten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung mehr als die Hälfte des Nettovermögens auf sich vereinen, während der ärmeren Hälfte gerade einmal ein Prozent bleibt. [5]

Um die Verhältnisse im Land zu verschleiern, macht es für die privaten und staatlichen Elitenförderer schon Sinn, in deutsche Medaillenerfolge zu investieren. Die Absicherung der "dualen Karriere" von Topathleten liegt der Sporthilfe seit neustem besonders am Herzen. "Wir empfinden die duale Karriereförderung auch als Präventionsarbeit. Mündige und selbstbewusste Athleten mit guten beruflichen Perspektiven sind gegen Versuchungen wie Doping resistenter als solche, die zu hundert Prozent auf Medaillenerfolge angewiesen sind", so Michael Ilgner, Vorstandsvorsitzender der Sporthilfe. [6]

Fehlt eigentlich nur noch der Modebegriff der "Resilienz" (psychische Widerstandsfähigkeit), um die Irreführung komplett zu machen. Tatsächlich sind Eliteathleten immer zu hundert Prozent auf Medaillenerfolge angewiesen, Dopingversuchungen hin oder her. Denn das gesamte, von Staat, Politik und Sportbürokratie vorgegebene Spitzensportsystem - in weiten Bereichen ein Relikt des Kalten Krieges, der inzwischen immer unverhohlener mit nationalen Standortargumenten und pauschalen Dopingbezichtigungen gegen rückständige Länder fortgeführt wird, verfolgt das ausdrückliche Ziel, die Medaillenerträge zu steigern. Diesem Ziel ist auch die von BMI und DOSB angeschobene "Neustrukturierung der Spitzensportförderung" verpflichtet. "Sportpolitisches Förderziel des Bundes ist es, dass sich Deutschland als Sportnation noch besser präsentiert - erfolgreicher, aber zugleich fair und sauber", heißt es aus dem Bundesinnenministerium. Athletinnen und Athleten, die in diesem System ihr Talent in die Waagschale werfen, liefern sich mit Haut und Haaren dem Benchmarking staatlich orchestrierter Medaillenhuberei aus. "Wir brauchen die Reform nicht nur, um uns nach oben zu orientieren, sondern auch um nicht nach unten abzurutschen", erklären die ministeriellen Sportbürokraten mit starrem Blick auf den Medaillenspiegel. [7]

Bis zum 15. Juli 2018 will die PotAS-Kommission (Potenzialanalysesystem) für den Bereich des Wintersports die Aufteilung der Sportarten in Exzellenzcluster, Potentialcluster und Cluster mit wenig oder keinem Potential abgeschlossen haben, wie der Kommissionschef Prof. Urs Granacher kürzlich im Bundestagssportausschuß bekanntgab. [8] Aus der Einstufung ergeben sich später die staatlichen Zuwendungen. Zwar räumen die PotAS-Potentaten inzwischen ein, daß das auch in der Kriminalistik zur Anwendung kommende Softwareprogramm nicht in der Lage sei, "individuelle Leistungsentwicklungen zu prognostizieren"; es gehe vielmehr darum, "die Rahmenbedingungen zur Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit zu verbessern", wie es nun heißt. Doch dabei handelt es sich um reine Augenwischerei. Fördergewährung oder -entzug mit Hilfe von "Mustererkennung und Leistungsklassifizierung" durch das mit Algorithmen arbeitende PotAS-2.0-Programm, auf dessen Ergebnisse sich dann die Expertenkommissionen in ihren anschließenden Strukturgesprächen und Förderentscheidungen stützen, trifft die Athleten immer ganz direkt und persönlich. Ebenso wie A-Kader-Athleten mit günstigem Medaillenscore in der Businessclass fliegen dürfen, bleibt Athleten mit minderer Prognose nur die "Holzklasse" in der Sportförderung.

Vielleicht wäre es ehrlicher, gleich das China-Modell des Social Scorings in der deutschen Spitzensportförderung zu übernehmen, zumal der gläserne Athlet ohnehin schon einem rigiden Disziplinarregime unterworfen ist, in dem sportliche Leistungsbeweise alles und bürgerliche Freiheiten wenig zählen. Wer im Reich der Mitte, das die totale Datentransparenz der Bevölkerung anstrebt, als staatlich geförderter Athlet Medaillen für sein Land holt, bekommt auf seinem Konto Pluspunkte gutgeschrieben. Je mehr Pluspunkte man sich durch (folgsames, leistungsorientiertes, sauberes) Wohlverhalten verdient, desto höher steigt man im Ranking: Oben die A-Klasse-Bürger, die mehr Wettbewerbsvorteile, Privilegien und Annehmlichkeiten bekommen, unten die D-Klasse, die gesellschaftliche Nachteile oder Sanktionen für ihre Schwächen, Sozialsünden oder gesetzlichen Verfehlungen in Kauf nehmen muß. Sämtliche Lebensäußerungen, sofern sie nur quantifizierbar und in Daten übersetzbar sind, werden zur Berechnung des "Citizen Score" herangezogen. Ähnliche Herrschaftskonzepte ("Smart City") sind unter den Euphemismen "E-Government" oder "E-Democracy" auch in Deutschland auf dem Vormarsch.

Auch die neue, potentialorientierte Fördersystematik in Deutschland, die im Ergebnis der Abfrageroutinen auf eine geschichtlich beispiellose Datentransparenz und Zentralkontrolle des vom Bund alimentierten Sports hinausläuft, analysiert und bewertet die Sportarten oder Disziplinen auf der Grundlage unterschiedlichster Leistungselemente (sog. Attribute), Umfeld- und Strukturbedingungen, um sie schließlich bestimmten Förderklassen zuzuordnen. Die leistungsstärksten bzw. perspektivreichsten A-Kader-Athleten (mit Medaillenpotential) sollen das Prädikat "Olympiakader" erhalten und auch die meisten Zuwendungen, Privilegien und Annehmlichkeiten bekommen, damit sie noch mehr leisten ("4-8 Jahre zum Podium"). Die Erfassung, Verarbeitung und Speicherung der Verbandsdaten erfolgt online über das PotAS-Datenmanagementsystem, in das sich autorisierte Sportdirektoren bzw. Verbandsuser einloggen können. Sämtliche Hinweise und Informationen zur potentialorientierten Fördersystematik sowie zukünftige Bewertungsergebnisse werden auf der PotAS-Website (www.potas.de, im März noch im Aufbau) öffentlich dokumentiert, heißt es. Hier können Funktionäre und Athleten später ablesen, wie es um ihren Förder-Score bestellt ist. Da die Eliteathleten schon daran gewöhnt sind, sich jederzeit und allerorten kontrollieren sowie medizinisch, psychologisch und leistungsdiagnostisch einstellen zu lassen, dürften die Medaillen-Kommissare kein Problem haben, ihr streng nach Effektivitäts- und Effizienzgesichtspunkten ausgerichtetes Elitefördersystem durchzusetzen. Damit der Preis für die funktionale Einpassung der Athleten nicht zu hoch erscheint, bedarf es allerdings der Sozialwährung, sprich des Medaillenrausches. Erfolgreiche Athleten werden dann mit jener Münze belohnt, um deren willen sie der Staat durch die Knochenmühlen des Hochleistungssports, die Schuldschöpfungssysteme der Dopingbekämpfung und die Selektionsprogramme der Potentialanalysen gejagt hat. Mit einem Wort: Vorbildlich!

Fußnoten:

[1] https://www.sport.de/news/ne2936411/sportfoerderung-es-fehlen-100-millionen/. 16.10.2017.

[2] http://www.deutschlandfunk.de/olympia-bilanz-von-dirk-schimmelpfennig-medaillen-sind-der.1346.de.html?dram:article_id=411620. 24.02.2018.

[3] https://www.sporthilfe.de/foerderer/kuratorium/?ActiveID=1085

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/soziales/psarm249.html. 23.10.2017.

[5] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/deutschland-ein-zehntel-besitzt-52-prozent-des-vermoegens-a-1073677.html. 25.01.2016.

[6] https://www.sporthilfe.de/ueber-uns/medien/pressemitteilungen/rekord-in-pyeongchang-2018-deutsche-sporthilfe-schuettet-ueber-750000-euro-olympia-praemien-aus/. 25.02.2018.

[7] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/faqs/DE/themen/sport/sport-liste.html

[8] https://www.bundestag.de/presse/hib/2018_02/-/544302. 21.02.2018.

9. März 2018


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