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KOMMENTAR/294: Wer andern eine Grube gräbt ... (SB)



"Brittney ist ein politisches Pfand." [1]
(Cherelle Griner, Ehefrau der bis zum 8.12. in Russland inhaftierten US-Basketballspielerin Brittney Griner, Anfang Juli 2022)


Wenn es darum geht, kurz vor den Kongresswahlen in den USA bei der sportpatriotischen Bevölkerung Punkte zu sammeln und Russland inmitten des Ukrainekrieges als Hort einer Willkürjustiz erscheinen zu lassen, dann kann man sich als amtierender US-Präsident auch mal für eine schwarze, lesbische und überaus prominente US-Sportlerin wie Brittney Griner einsetzen. So erklärte Joe Biden nicht nur, was "die Welt" angeblich schon wüsste, nämlich dass Russland die Basketballspielerin "zu Unrecht" festhalte, sondern er versicherte auch, dass seine Regierung "unermüdlich arbeiten und alle Möglichkeiten ausschöpfen" würde, um Brittney so bald wie möglich sicher nach Hause zu holen. [2] Dies ist inzwischen geschehen. Wie die Außenministerien von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten mitteilten, habe es am 8. Dezember unter Vermittlung der beiden Länder einen Gefangenenaustausch gegeben. Im Gegenzug für Brittney Griner wurde der russische Waffenhändler Viktor Bout ausgetauscht, der in den USA eine 25jährige Haftstrafe absitzen sollte.

Die zweimalige Olympiasiegerin im Frauenbasketball, die in der Nebensaison für größeres Geld beim russischen Topklub Jekaterinburg gespielt hatte, war Mitte Februar auf dem Flughafen in der Nähe von Moskau verhaftet worden, nachdem in ihrem Gepäck E-Zigaretten-Patronen mit einer kleinen Menge Haschisch-Öl gefunden worden waren. Wegen Drogenbesitzes und versuchten Schmuggels wurde sie zu einer drakonischen Strafe von neun Jahren Haft in einem russischen Gefängnis verurteilt. Die 32jährige bekannte sich schuldig, bestritt aber, wissentlich gegen das russische Gesetz verstoßen zu haben. Das Haschisch-Öl, das in den USA legal ist, habe sie lediglich für medizinische Zwecke verwendet und sei eher zufällig beim Packen in ihrer Tasche gelandet.

International löste das Urteil, das mit den harten russischen Anti-Drogen-Gesetzen in Einklang steht, verständlicherweise eine Welle der Solidarität mit Brittney Griner aus. Schaut man sich aber an, wer alles auf den Solidaritätszug aufgesprungen ist und mit welchen Statements, dann kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass einmal mehr die Heuchler und Weggucker die mediale Oberhand haben.

Natürlich sollte kein Mensch, bei dem, wie offenbar bei Griner, 0,5 Gramm einer illegalen Droge gefunden wurden, für neun Jahre hinter Gitter wandern - auch nicht für einen Monat. Doch gerade der Hochleistungssport ist kein Beispiel für Verhältnismäßigkeit. So ist es im internationalen Sport üblich, dass Athleten bereits für weitaus geringere Mengen, mitunter sogar nur Spuren einer verbotenen Substanz mit Berufsverbot von bis zu vier Jahren belegt und bei Mehrfachverstößen sogar lebenslänglich gesperrt werden können - was unabhängige Kritiker des Sportzirkus als vollkommen überzogen monieren. Seit 2015 ist laut deutschem Anti-Doping-Gesetz sogar der Besitz und Erwerb von nicht geringen Mengen an Dopingmitteln strafbar, wenn der Athlet damit beabsichtigt, sich in einem sportlichen Wettkampf ohne medizinische Indikation einen Vorteil zu verschaffen. Ein Verstoß kann mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Die gewerbsmäßige Herstellung oder der Handel mit Dopingmitteln stellt ebenso wie die Abgabe an Jugendliche ein Verbrechen dar mit einem Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.

Im Fall von Brittney Griner soll das Cannabis-Öl ärztlich verordnet gewesen sein, da sie aufgrund früherer Verletzungen unter "chronischen Schmerzen" gelitten habe, wie ihr Anwalt reklamierte. Cannabis als Schmerzmittel ist in den US-Profiligen ziemlich verbreitet, weil es der Sportindustrie hilft, die Funktionstüchtigkeit und Anpassungsbereitschaft der Spielerinnen und Spieler trotz Gesundheitsproblemen und Verschleißwirkungen aufrechtzuerhalten. Nicht nur "Weed" in ihrer Freizeit konsumierende, sondern auch verletzungs- und schmerzgeplagte US-Profis sprechen sich immer öfter für eine Freigabe aus. Zudem sind viele Stars bereits geschäftliche Teilhaber und Werbefiguren der boomenden Cannabinoid-Industrie in den USA geworden. Große US-Ligen wie die National Football League (NFL) oder die National Basketball Association (NBA), die nicht unter die strengeren Vorschriften der World-Anti-Doping-Agentur (WADA) fallen, haben ihre Restriktionen hinsichtlich Cannabis und Sport in den vergangenen Jahren gelockert, zumal inzwischen rund 20 US-Bundesstaaten Gesetze zur Entkriminalisierung des Marihuanakonsums erlassen haben.

Obwohl der Großteil der 50 US-Bundesstaaten den Gebrauch von Marihuana zu medizinischen Zwecken gestattet, gibt es im Sport dennoch keine Einheitlichkeit. Während z.B. die National Women's Soccer League (NWSL) ihren Spielerinnen erlaubt, Cannabinoide zur Schmerzbehandlung zu verwenden und Tests auf Cannabis vernachlässigt oder ganz eingestellt hat, wäre Brittney Griner in ihrer eigenen Liga, der Women's National Basketball Association (WNBA), getestet und bestraft worden.

Natürlich nutzte Russland die Causa Griner auch als politisches Faustpfand um zu zeigen, dass der Welthegemon USA, der Russland nicht nur auf dem Schlachtfeld in der Ukraine besiegen, sondern auch als souveränes Land zerschlagen will, nicht allmächtig ist. Die USA mögen zwar außerrechtliche Hinrichtungen in anderen Ländern betreiben, Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) ignorieren oder sogar Sanktionen gegen die Chefanklägerin des Gerichtshofs, Fatou Bensouda, verhängen, weil sie mutmaßliche Kriegsverbrechen von US-Militärs untersuchen wollte, doch Russland will demonstrieren, dass der extralegale Arm der USA nicht bis in russische Gerichtssäle reicht.

Interessant ist aber, wie deutsche Medien, die mit der grünen Außenministerin Annalena Baerbock d'accord gehen, dass Russland ruiniert werden müsse, in Zeiten allumfassender Kriegspropaganda auf den Fall Griner reagierten.

"Ein überzogenes Urteil nach westlichen Standards, ein gängiges in Russland, wo eine rigorose Drogenpolitik verfolgt wird und die Verurteilungsquote bei 99 Prozent liegt", urteilt "Die Zeit", ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie z.B. die "Standards" in den Vereinigten Staaten aussehen, wo nach neuesten Erhebungen alle fünf Minuten ein Mensch an einer tödlichen Überdosis Drogen stirbt. [3] Dass die Rekordzahlen auch mit der katastrophalen Sozial-, Gesundheits- und Drogenpolitik in den USA zusammenhängen, wird im Mainstream ebensowenig erwähnt, wie, dass sich in den Staaten ein gefängnisindustrieller Komplex etabliert hat, der ein milliardenschweres Geschäft mit der Ausbeutung von Gefangenen betreibt, die zum Teil wegen geringfügigster (Drogen-)Vergehen einsitzen.

Sämtliche Medien, die das überzogene Urteil gegen Griner kritisieren, um Russland dämonisieren zu können, unterlassen es tunlichst zu erwähnen, dass die USA die größte "Gefängnisbevölkerung" der Welt haben und hohe Strafen insbesondere gegen Schwarze auch bei Bagatellvergehen verhängen. Jeder fünfte Häftling in den USA verbüßt eine lange Haftstrafe wegen Drogendelikten, die mit keiner Gewalttat verbunden waren. Frauen sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe unter den Inhaftierten: 219.000 Frauen sitzen in den Vereinigten Staaten in Gefängnissen und Haftanstalten. Von den Männern sind es gut zwei Millionen. Nach Angaben der American Civil Liberties Union (ACLU) wurden in den USA allein im Jahr 2018 mehr als 600.000 Menschen wegen des Besitzes von Cannabis festgenommen. Der "War on Drugs", wie ihn US-Präsident Richard Nixon vor rund 50 Jahren ausrief, ist nicht einfach nur gescheitert, sondern hat die Lebensperspektiven von unzähligen Menschen regelrecht verwüstet. Fast 75 Prozent der jährlich 650.000 aus der Haft entlassenen Personen sind nach einem Jahr immer noch arbeitslos, weil sie aufgrund ihrer Vorstrafen und der Verweigerung von Lizenzen keinen Job finden. Bei Afroamerikanern sind die negativen Auswirkungen eines Vorstrafenregisters auf ein Vorstellungsgespräch um 40 Prozent größer als bei weißen Amerikanern mit einer ähnlichen Vorgeschichte, wie die ACLU berichtet. [4]

In Anbetracht der sozialen Verheerungen und der anstehenden Zwischenwahlen kam auch US-Präsident Biden nicht umhin, sich zumindest für eine Begnadigung von Verurteilten auszusprechen, die wegen des Besitzes von Marihuana nach Bundesrecht schuldig gesprochen worden sind (was aber nur einen kleinen Teil ausmacht). Zudem wies der Präsident das Justiz- und das Gesundheitsministerium an, die Einordnung von Cannabis beschleunigt zu prüfen. Gleichzeitig setzt er aber den Krieg gegen die Drogen und die Law-and-Order-Politik fort, indem er neue harte Strafen für Fentanyl-Delikte fordert. Das künstliche Opioid, das auch als Schmerzmittel eingesetzt wird, bescherte den Vereinigten Staaten die tödlichste Drogenwelle ihrer Geschichte.

Obwohl es zahllose Einzelschicksale von Menschen in den USA gibt, die in den US-Knästen wegen kleiner Drogenvergehen regelrecht verrottet sind, wird so getan, als ob es eine politische Justiz nur im "bösen" Reich Putins gäbe. Den Vogel einseitiger Kriegspropaganda schoss die russophobe Frankfurter Allgemeine Zeitung ab, die das Urteil im Fall Griner in den gewohnten Zusammenhang stellte:

"Verglichen mit den Verbrechen, die Russland Tag für Tag in der Ukraine begeht, erscheint das Urteil gegen die amerikanische Basketballspielerin Griner wie Kleinkriminalität. Doch auch in diesem Fall offenbart Putins Diktatur ihr wahres Gesicht. Von einer unabhängigen Justiz kann in Russland schon lange nicht mehr gesprochen werden. Sie hat sich freiwillig in Putins Dienste gestellt oder ist dazu gezwungen worden. In einem solchen System brauchen die Staatsanwälte und Richter keine expliziten Befehle mehr; sie üben sich in vorauseilendem Gehorsam." [5]

Natürlich hätte die russische Justiz auch Milde walten lassen können. Doch zur halben Wahrheit über die mutmaßlichen russischen Verbrechen in der Ukraine gehört auch, dass die Bellizisten in den USA von keinem anderen Kaliber sind. Oder hat sich jemals ein US-Präsident für die Freilassung des Wikileaks-Gründers Julian Assange eingesetzt, der gegenwärtig im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh unter folterähnlichen Bedingungen festgehalten wird? Bei einer Auslieferung in die Staaten droht dem Australier eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren, weil er 2010 Kriegsverbrechen des US-Militärs im Irak und in Afghanistan öffentlich gemacht hatte. Die vermeintlich unabhängigen Staatsanwälte und Richter in den USA werden wohl kaum Milde walten lassen ... Selbst der Supreme Court, das oberste Gericht der USA, ist politisch nicht unabhängig, wie der Streit um die Besetzung der Richterstühle je nach Parteibuch und politischer Einstellung zeigt. Zur Zeit besitzen die "konservativen Richter" am höchsten US-Gericht eine Mehrheit von 6:3 Sitzen, wie das Handelsblatt berichtete. Und ist es etwa ein Ausdruck von juristischer und politischer "Unabhängigkeit", wenn auch in Deutschland aus Gründen des "Staatswohls" eine Aufklärung darüber verweigert wird, welcher "Freund" in einem beispiellosen Terrorakt die Ostsee-Pipelines gesprengt hat?

Wer glaubt, Brittney Griner hätte es in Russland hart getroffen und die Rechtsprechung dort sei "politisch motiviert", der sollte sich zumindest anflugsweise die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Staaten vergegenwärtigen und nicht über die Millionen Frauen, Männer und Jugendlichen schweigen, die hinter Mauern und Stacheldraht im gefängnisindustriellen Komplex der USA eingekerkert sind, oft für Jahrzehnte, nicht selten sogar lebenslang. Erst Ende September sind in den Gefängnissen des US-Bundesstaates Alabama Tausende von inhaftierten Arbeitern in den Streik getreten, um gegen brutale Haftbedingungen, Übergriffe von Gefängnispersonal, rassistische Gerichtsurteile und die unbezahlte Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zu protestieren. Alabama ist nur einer von sieben Bundesstaaten, in denen Inhaftierte nicht für Zwangsarbeit bezahlt werden. Für die Betroffenen seien die Zwangsarbeit im Knast und die überproportionale Anzahl von Schwarzen "die Fortsetzung der Sklavenarbeit unter anderem Namen", wie die Basisorganisation "Free Alabama Movement" (FAM) erklärte. Der Streik richte sich deshalb "gegen die Institution der Neosklaverei". [6] Haben diese Berichte über die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung jemals dazu geführt, dass westliche Medien zum Ausschluss von US-AmerikanerInnen bei internationalen Sportveranstaltungen aufgerufen hätten?

Fußnoten:

[1] https://www.derstandard.de/story/2000137257115/brittney-griner-basketballstar-als-pfand-in-putins-hand. 07.07.2022.

[2] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2022/08/04/statement-by-president-joe-biden-on-the-sentencing-of-wrongfully-detained-american-brittney-griner/. 04.08.2022.

[3] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/drogentote-usa-101.html. 12.05.2022.

[4] https://www.aclu.org/issues/smart-justice/mass-incarceration

[5] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/der-fall-brittney-griner-zeigt-reisen-nach-russland-sind-riskant-18224908.html. Von Berthold Kohler. 05.08.2022.

[6] https://www.jungewelt.de/artikel/436276.rassistische-ausbeutung-historischer-knaststreik.html. 10.10.2022.


19. Dezember 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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