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BERICHT/004: Theaterkrise - Krisentheater (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010

Theaterkrise - Krisentheater

Von Johannes Kagerer/Alexander Schnorbusch


Schon vor der Finanzkrise waren die meisten kommunal getragenen Theaterbühnen gezwungen, am Existenzminimum zu wirtschaften. Heute aber sehen sie sich größeren Einsparungsbestrebungen gegenüber als je zuvor. Während die Theater also nun einerseits die Protagonisten der Krise - Banker, Arbeitslose und Hartz IV-Empfänger - auf die Bühne holen und ins Zentrum der Stücke stellen, drohen sie andererseits selbst zu einem weiteren prominenten Opfer zu werden.


Die Vergleiche zur Weltwirtschaftskrise von 1929 füllten die Wirtschaftsteile und Feuilletons der Zeitungen. Und auch die Spielzeitplaner brachten im letzten Jahr die Krise auf die Bühnen. Ein Name fällt dabei besonders oft: Bertolt Brecht. Nie war er von den Bühnen verschwunden, in der Krise aber scheinen die Stimmen seiner geplagten und gebrochenen Protagonisten besonders Gehör zu finden. Auffällig oft hallen von den Bühnen die Klagen der Chöre von Arbeitern und Arbeitslosen. Etwa in Kay Neumanns Ingolstädter Inszenierung der Heiligen Johanna der Schlachthöfe, die nicht nur der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne als "das Stück zur Krise" erscheint. Doch zwischen Klassikern und Brecht-Bearbeitungen ist auch viel Neues zu finden - und eine gemeinsame Tendenz.

Hamburger Schauspielhaus, Oktober 2008: 25 "echte" Hartz-IV-Empfänger treten einer nach dem anderen hinter dem Vorhang hervor und eröffnen in einem knapp 20-minütigen, chorischen Prolog Volker Löschs Marat, was ist aus unserer Revolution geworden (frei nach Peter Weiss). Sie sprechen (und rufen) aus, wer sie sind, was ihnen Angst macht, wie sie zu dem wurden was sie sind. Neben Marat, dem immer wieder scheiternden Revolutionär, spielt der Hartz-IV-Chor in Löschs Inszenierung die eigentliche Hauptrolle.

In München, Oktober 2009, eine ähnliches Bild: An den Kammerspielen bläst Schorsch Kamerun zum Konzert zur Revolution und wird dabei (wiederum chorisch) unterstützt von über 30 Münchner Attac-Organisierten. Während im Vordergrund Lieder und Texte aus der Zeit der Münchner Räte-Republik zum besten gegeben werden - Sepp Bierbichler spricht als Lenin zu den Münchner Genossen - helfen sie das Bühnenbild zu errichten und wieder einstürzen zu lassen.

Am Fürther Stadttheater ging man dann noch einen Schritt weiter und stellte am 1. Februar 2010 die Bühne gleich ganz den Bürgern zur Verfügung. Acht ehemalige Angestellte von Primondo/Quelle schaffen nur wenige Monate nach der Firmenpleite ein abendfüllendes Programm rund um die Fragen: Wie konnte es soweit kommen? Wer sind die Schuldigen? Wie habe ich die Entlassung erfahren? Wie gehe ich jetzt damit um? Das Haus ist bis auf den letzten Platz gefüllt.

Die Inszenierungen folgen einem Trend, von dem schon vor der Krise zu lesen war. Die Fachzeitschrift Theater der Zeit stellte einen "neuen Reality Trend auf den Bühnen" fest, als dessen "Protagonisten und Begründer" das Theater-Projekt Rimini Protokoll von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel gilt. Sie bringen Laien als "Experten des Alltags" auf die Bühne, um "ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen". Diese Perspektiven - sei es nun die eines Bankers oder Arbeitslosen - scheinen im Theater der Krise gefragter denn je. Und so ersetzen "echte" Menschen auf der Bühne zunehmend - ganz oder teilweise - die Schauspieler.

Der Intendant des Deutschen Theaters in Berlin, Ulrich Khuon bezeichnete das Theater als "Seismograph der Krise". Tatsächlich ist an diesen Beispielen das Bestreben von avantgardistischen Regie-Kollektiven bis hin zu kommunalen Stadttheatern zu erkennen, die Erschütterungen der Lebenswelt des Publikums zu registrieren und aufzuzeigen. Für eine solche direkte Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit sind gerade die Stadttheater durch ihre regionale Verwurzelung geeignet. "In Zeiten sich verflüssigender Werte braucht man ein eigenes, Identität stiftendes Theater vor Ort", so Khuon.


Krise auf und hinter der Bühne

Doch ist es nicht leicht vorstellbar, dass sich unter den "echten" Arbeitslosen auf der Bühne auch ein gerade entlassener Schauspieler befindet? In keiner anderen Institution bedingen sich ästhetische und praktische Fragen so sehr, wie im Theater.

"Das Theater befindet sich in der Defensive", schreibt der Germanistik-Professor Ludwig Stockinger in der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne. Einsparungen waren durch Kostendeckelung und Tariferhöhungen im Theater Alltag. "Dieses Gefühl verdichtet sich aber gegenwärtig zu einer Gewissheit angesichts der konkreten Kürzungen der Zuwendungen aus öffentlichen Etats in der Folge der 'zweiten Wirtschaftskrise', die gegenwärtig als akute Bedrohung des deutschen Modells eines staatlich oder kommunal finanzierten Literatur- und Bildungstheaters sichtbar wird." Die Münchner Unternehmensberatung actori bestätigt in einer aktuellen Studie diese dramatischen Einbußen durch "Kürzungen der öffentlichen Trägerfinanzierung, Einbruch beim Sponsoring und teilweise rückläufige Eigeneinnahmen".

Auch renommierte Häuser scheinen von Kürzungen bis hin zu Schließungen nicht mehr ausgenommen. Prominentestes Beispiel war im letzten Jahr die Auseinandersetzung um das Wuppertaler Schauspielhaus. Hier zeigt sich exemplarisch die Komplexität der Situation.

Bei allen Einsparungsforderungen bleiben die großen Aushängeschilder der Kulturszene unangetastet. Die Finanzierung für das weltberühmte Tanztheater von Pina Bausch ist für die nächsten Jahre gesichert, der Terminplan voll und die Aufführungen ausgebucht. Finanziert wird das Tanztheater durch die Kommune und das Land Nordrhein Westfalen. Doch diese Erfolge wären nie möglich gewesen, hätte Pina Bausch nicht über Jahre hinweg auch gegen massive Widerstände ihre eigene Ästhetik in dem kommunal finanzierten Theater erst entwickeln können. Die Sprache ihres Tanztheaters wird heute weltweit verstanden, ihr Werk gilt als einmalig. Eine Kulturpolitik, die sich mit einer solchen Spitzenförderung begnügt, kann sich zwar des Applauses sicher sein, doch ebenso sicher ist, dass die nächste Pina Bausch ihre Erfolge anderswo feiern wird.

Nicht anders verhält es sich mit der Theaterpädagogik. Viel beachtete Projekte, wie Rythm is it der Berliner Philharmoniker, werfen ein Schlaglicht auf die Erfolge dieser Arbeit. "Aber da ist es mit einem medienwirksamen Prestigeprojekt nicht getan, das muss dauernd überall stattfinden. Und das deutsche Theater mit seiner einmalig breiten Aufstellung im ganzen Land hat dazu die ideale Infrastruktur. Gerade sehen wir, wie sie kaputt gemacht wird." So pessimistisch fasst es Detlef Brandenburg, Chefredakteur der Deutschen Bühne zusammen.

Das entscheidende Dilemma kultureller Institutionen besteht darin, dass ihre Finanzierung unter den sogenannten "freiwilligen Ausgaben" mit Freibädern, Musikschulen und auch Kindergärten konkurriert. Es ist ein wiederkehrendes Argument klammer Kämmerer, dass Bildung und Soziales Vorrang vor Kultur hat. Doch geht es jenen, die gegen die Kürzungen protestieren nicht darum diese Bereiche gegeneinander auszuspielen. Der Direktor des Deutschen Bühnenvereins, Rolf Bolwin, erklärt gegenüber dem Tagesspiegel: "Wir wollen nicht ständig eine Sonderrolle für die Kultur einfordern, wir sehen die Not der Kommunen." Diese Not, das sind Gewerbesteuerausfälle und gleichzeitig ansteigende Sozialausgaben, hinzu kommen die Belastungen aus dem "Wachstumsbeschleunigungsgesetz". Bolwin fordert daher eine Diskussion über die kommunale Finanzierung. "Wir können doch nicht den kulturellen Niedergang der Städte akzeptieren, während gleichzeitig Milliarden zur Sicherung von Banken ausgegeben werden. Welche Infrastruktur erwarten wir in einer Stadt - in der Bildung, im Sozialen, in der Kultur - und wie finanzieren wir sie?" In Wuppertal wurde eine erste mögliche Antwort schon gegeben. Sollte das Schauspielhaus schliessen, so steht nebenan die günstige Alternative schon längst bereit: ein Multiplex-Kino.


Für das Theater kämpfen

Das Unverständnis, dass zur Rettung selbstverschuldeter Bankenpleiten Milliarden aufgeboten werden, während Kultureinrichtungen mit Millionenkürzungen konfrontiert werden, vereint viele unter den Kulturschaffenden. "Die Frage, wie viel Geld für die Kultur noch übrig ist nach dem Aderlass zugunsten schlecht geführter Banken und Unternehmen, ist eine Frage politischer Prioritäten und nicht jener Sachzwänge, hinter denen sich die Politik gerne versteckt." So formuliert Detlef Brandenburg den neuen Widerstandsgeist in der Kulturszene und fordert dazu auf, "für die Theater" zu kämpfen.

Tatsächlich regt sich Widerstand gegen die Sparmaßnahmen. Dabei sind für die Protagonisten vor allem die Relationen entscheidend. Die Einsparziele liegen beispielsweise in Hamburg bei 10 Mio. Euro, in Stuttgart bei 5 Mio. Beträge, die vor dem Hintergrund der Ausgaben zur Bankenrettung geradezu marginal wirken. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann fasst das Unverständnis zusammen: "Die Kulturausgaben der Kommunen, der Länder und des Bundes betragen laut Kulturfinanzbericht des Statistischen Bundesamtes gerade einmal 1,6% der öffentlichen Ausgaben. Selbst wenn man jetzt viele Kultureinrichtungen kaputt spart, werden die Schuldenberge nicht sichtbar abschmelzen." Seine Forderung ist unmissverständlich: "Der Kulturbereich muss jetzt auf die Straße gehen und den Sparkommissaren die Rote Karte zeigen."

Genau das ist im letzen Jahr passiert. In Hamburg und Stuttgart demonstrierten Kulturschaffende zum ersten Mal - und das ist das besondere - gemeinsam. In ihrem Stuttgarter Appell betonen sie, dass die Kulturlandschaft für eine Großstadt wie Stuttgart besonderen Nutzen hat. Sie sei in erster Linie nicht Kostenfaktor, sondern Standortvorteil. Im taz-Interview erklärt Ulrich Khuon, dass die Städte davon leben, "dass es in ihrem Gemeinwesen einen interessensfreien Diskurs gibt. Wirtschaft und Politik vertreten ihre Interessen, Kunst und Kultur benötigen den Raum, um sich auf diese Interessen zu beziehen, der aber auch geschützt sein muss."

Und auch die ehemalige Kulturstaatsministerin Prof. Dr. Christina Weiss unterstützt den Stuttgarter Appell: "Ausgaben für Kultur sind keine Subventionen, sondern sie sind Investitionen in die Zukunft. "

Gleiches ist im Wuppertaler Appell zu lesen, der unter dem Titel "Theater macht reich!" betont, dass Deutschland "eine der reichsten Bühnenlandschaften der Welt besitzt" und das für nur 0,2% der Gesamtausgaben von Bund Ländern und Gemeinden.

Kleine Erfolge lassen sich durchaus schon feststellen: In Stuttgart wurden die Kürzungen zusammengestrichen, die Theater werden verschont - vorerst. Doch da, wo Kulturschaffende und Kulturinteressierte zum ersten Mal gemeinsam demonstrierten, ist der Protest längst aufgegangen in der Protestbewegung gegen Stuttgart 21. Ihre bekanntesten Gesichter: der Schauspieler Walter Sittler und der Regisseur Volker Lösch. Letzterer lässt gerade in seiner Hamburger Inszenierung von Hänsel und Gretel Kinder aus Mümmelmannsberg im Chor von ihrem Alltag singen und nach der Premiere eine Resolution des Schauspielensembies verlesen. Eine Antwort auf die "Kampfansage" des Hamburger Senats, der den Etat des Schauspielhauses gerade halbierte. Sie wollen kämpfen, für ihr Theater. Und so weht weiter ein Hauch von Weimar von den Bühnen.


Johannes Kagerer (* 1985) studiert Politik und Komparatistik an der LMU München und ist Stipendiat der FES.
kagerer@kleine-lichter.de

Alexander Schnorbusch (* 1986) studiert Philosophie in München und ist Stipendiat der FES.
alex_Schnorbusch@web.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2010, S. 72-75
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2010