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MUSIKTHEATER/005: Lebendige Operette - das ist das Ziel (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 7 vom 21. April 2009

Lebendige Operette - das ist das Ziel
Zwei TUD-Forscher sind Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Staatsoperette

Mit Prof. Walter Schmitz und Uwe Schneider sprach Martin Morgenstern


Die TU Dresden ist mit zwei Professuren in dem neu gegründeten "Wissenschaftlichen Beirat" der Staatsoperette vertreten. Gemeinsam wollen die Kulturforscher das Leubener Haus unterstützen, dem so oft gescholtenen Genre der Operette aus historisch-kritischer Sicht neues Leben einzuhauchen. Aber auch das Publikum darf dabei nicht auf der Strecke bleiben - eine Herausforderung...

Im Zuge der Vorbereitung für eine Premiere an der Dresdner Staatsoperette kam es im Dezember 2008 zu einer kleinen Sensation. Das verschollene und seit langem auf der ganzen Welt gesuchte originale Orchestermaterial der Operette "Im Weißen Rössl" aus dem Jahr 1930 wurde in Zagreb entdeckt. Am 19. Juni 2009 wird diese Fassung in der Staatsoperette Dresden nach über 60 Jahren zum ersten Mal wieder erklingen.

Aus diesem Anlass hat das UJ mit Walter Schmitz, Professor für Neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der TU Dresden und seit diesem Jahr Mitglied des neu gegründeten wissenschaftlichen Beirats, und dem Mediendramaturgen der Staatsoperette Uwe Schneider gesprochen.


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TUD: Herr Schneider, die Operette "Im Weißen Rössl" wird bis heute landauf, landab zumeist an kleineren Häusern gespielt. Wenn ich Sie richtig verstehe, gar nicht in der originalen Fassung?

UWE SCHNEIDER: Die bis heute erfolgreich laufende Fassung stammt aus den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Vom Original unterscheidet sie sich ganz erheblich. Das Original sprach aus dem Geist der Republik heraus: es gibt Modetänze, eine Jazzband, aber auch Volksmusik. Ein Zithertrio wird gegen die Jazzband ausgespielt. Es gab einige Rekonstruktionsversuche dieser Fassung, die jedoch mit Rechteproblemen zu kämpfen hatten. Die verschiedenen Rechteinhaber konnten sich nie einig werden.


TUD: An Text, Musik, Instrumentation und Gesamtkonzept des "Weißen Rössl" haben erstaunlich viele Autoren mitgewirkt; zuletzt instrumentierte Eduard Künneke den Klavierauszug in bombastischen Dimensionen. Gab es jemanden, der künstlerisch den Hut aufhatte?

UWE SCHNEIDER: Erik Charrell, der Choreograf und Regisseur, hatte das Sagen. Er hat das gesamte Material mehrfach verwertet und immer für die Orte adaptiert, an denen das Stück gegeben wurde. So existiert heute eine Pariser, eine Londoner und sogar eine Broadway-Fassung. Aber auch die ist verschollen.

WALTER SCHMITZ: Die Frage nach Autorschaft ist natürlich interessant. Fehlte hier eine große schöpferische Persönlichkeit? Man muss sich wohl von dem Gedanken lösen, dass ein gutes Werk das Werk eines Einzelnen sein soll. Die "Rembrandts", die wir alle verehrten, sind meistens Schülerarbeiten. Und von "Casablanca" wissen wir, dass der Autor der entsprechenden Erzählung von der Filmfassung tief enttäuscht war. Der Produzent hatte alles umgearbeitet - und ein Meisterwerk geschaffen.


TUD: Was hat es nun mit der in Zagreb gefundenen Fassung auf sich?

UWE SCHNEIDER: Die Staatsoperette Dresden plante, das Stück wieder in den Spielplan zu nehmen. Die bühnenpraktische Einrichtung haben Henning Hagedorn und Matthias Grimminger, zwei erfahrene Experten für die Musik jener Zeit, übernommen. Während diese mit der Arbeit anfingen, hat der Verlag Felix Bloch Erben weitergeforscht, ob nicht doch das Originalmaterial aufzufinden sei. In Zagreb ist dann eine Kopie aufgetaucht.


TUD: Die Zagreber Fassung von 1930 soll für über 200 Musiker eingerichtet sein.

UWE SCHNEIDER: Man muss sich schon fragen, wie da ein Sänger zu hören war, mit so einem Riesenorchester und in einem Saal, der ursprünglich für über 5000 Zuschauer Plätze bot. Vermutlich gab es auf der Bühne einzelne kleinere Gruppierungen: Einen Gesangsverein, der dem Kaiser im Stück ein Ständchen sang, eine Jazzband, eine Marschkapelle, Volksmusiker usw. Von diesen vermutlich 200 Musikern, die in der Literatur kursieren, muss man wieder auf ein normales Orchestermaß zurückkommen.


TUD: Erstaunlicherweise beschäftigen sich nur wenige Musikwissenschaftler mit der Operette. Das Genre gilt vielen immer noch als bloße Gebrauchsmusik.

UWE SCHNEIDER: Tatsächlich erstaunlich ist, dass es bisher kaum philologische Forschung in der Richtung gab. Man hätte ja versuchen können, an Zensurakten der Oiginalfassung zu kommen. Auch die damalige Tagespresse ist bisher nicht tiefgreifend ausgewertet worden. Man hat, was in der Operette allgemein üblich ist, die überlieferten Anekdoten sehr gerne geglaubt. Das geht hin bis zum "Weißen Rössl am Wolfgangsee", der Verfilmung von 1960 - man tat fast so, als hätte das alles tatsächlich stattgefunden.


TUD: Herr Prof. Schmitz, lassen Sie uns beim Stichwort "Legendenbildung" anknüpfen. Wie wird, wie wurde Operette überliefert? Sind spätere Wiederaufführungen in einem Genre, das satirisch die Tagespolitik aufs Korn nimmt und sich inhaltlich am Zeitgeschehen reibt, nicht mehrheitlich zum Scheitern verurteilt?

WALTER SCHMITZ: Blicken wir doch einmal zurück. In den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist die Operette die Leitform des Kleinbürgertums, sozusagen die Oper für diejenigen, die aus Schwellenangst, von der sozialen Grenzziehung her, nicht in die großen Opernhäuser gehen. Man muss hier auch die DDR einbeziehen: Jeder Teilstaat hat seine Operettengeschichte. Wie viele Hybridgattungen droht die Operette heute zwischen den Wissenschaften verlorenzugehen. Die Musikwissenschaft konzentriert sich auf den Werkcharakter, auf die musikalische Ausgestaltung. Aber es gibt kaum Fachleute für die Libretti und deswegen kaum neue Editionen.


TUD: Spätestens in den siebziger Jahren ist die einst so spritzig-sarkastische Operette im absolut Trivialen angekommen. Die Werke wurden völlig gegensätzlich zu ihrer ursprünglichen Anlage wahrgenommen, liefen in gekünstelten, bieder arrangierten Formen im Fernsehen.

WALTER SCHMITZ: Ja, damals lief die Operette über Identifikationsfiguren: Peter Alexander, Ivan Rebroff, Marika Rökk. Solche Typen gibt es heute gar nicht mehr. Die Operette fügte sich in den großen Rahmen der Entertainmentindustrie. Was ist da eigentlich passiert? Zum Anfang des 19. Jahrhunderts sah man sich einer immer unübersichtlicher werdenden Kultur gegenüber. Die Trivialliteratur entstand, vor allem auch in den darstellenden Künsten. Ludwig Tieck warf in Dresden frustriert sein Dramaturgenamt hin, weil nur französische Dutzendware gespielt wurde. Das Bündnis von Kultur und Konsum war geschmiedet. Und man importierte viel. Die Bewegung ging dabei immer von Westen nach Osten: das Wiener Volkstheater kopierte die Pariser Massenspektakel. Die Linien gingen auch nach Berlin und von dort aus in die Provinz. Damit ging eine Vervolkstümlichung einher. Auch die Operette ist davon betroffen.


TUD: Gab es diese populäre Form der kulturellen Belustigung nicht schon vorher? Ich denke an Mozarts Da-Ponte-Opern.

UWE SCHNEIDER: Die Anfänge sind fließend, aber vergessen Sie nicht: Da-Ponte-Opern sind immer noch auch an die Herrschenden gerichtet.

WALTER SCHMITZ: Diese ganze Dynamik hat die Kulturgeschichte noch nicht in den Blick genommen. Es ist eine große Hektik im 19. Jahrhundert, weil alles neu ist!


TUD: Noch einmal zurück zu den Fassungen. Wie vieles ist in der Operettengeschichte gedruckt überliefert, was muss man sich zusammenreimen?

UWE SCHNEIDER: Bei der Operette haben wir es mit kleinen Nummernfolgen zu tun, die sehr schnell austauschbar sind. Ein ureigenes Phänomen sind die tagesaktuellen Strophen, die Couplets. Sie wurden zu hunderten geschrieben und nach Belieben verwendet. Deswegen ist es heute so schwer, die Urform eines Werkes zu rekonstruieren.

WALTER SCHMITZ: Man muss dabei auch die Probleme einmal benennen: der wissenschaftliche Zugriff ist bei der Operette immer ein Akt der Musealisierung. Deswegen sollten wir nicht nur die Urfassungen rekonstruieren, sondern auf Kontexte setzen, die Werke in etwas einbetten. Da muss man heute auch neue Formen finden, wenn man diese Lebendigkeit des Werkes nicht doch wieder unter Glas stellen will.

UWE SCHNEIDER: Und nicht vergessen: die Operetten wurden von Volksschauspielern gesungen, die meist keine klassische Gesangsausbildung hatten! Das ist eine völlig andere Ästhetik und hat sicher auch Einfluss auf die Orchestergrößen gehabt. Da ist es sinnvoll zu fragen: wie bekommt man heute dieselbe Intensität hin?

WALTER SCHMITZ: Deshalb ist gut, dass es den Wissenschaftlichen Beirat für die Staatsoperette gibt und nicht nur eine Forschergruppe. Es ist ja nichts gewonnen, wenn wir sagen: stellt euch mal vor, wie aufregend das früher war. Man muss neue Formen finden. Wie sieht Operette im 21. Jahrhundert aus? Die Rekonstruktion von Originalen wird immer dann spannend, wenn man sie mit gegenwärtigen Möglichkeiten kontrastiert.


TUD: Bei manchen heutigen Operetteninszenierungen vermisse ich einen Mindestanspruch. Es werden oft nur relativ einfache Bedürfnisse befriedigt.

UWE SCHNEIDER: Operette war immer etwas für die breite Masse. Das ist eine Grundvoraussetzung, ein Leitbild: verständliches Theater zu machen. Da ist es nur natürlich, wenn man das mit dem heutigen Regietheater in Beziehung setzt und große Unterschiede findet.

Das ist einfach etwas, dem sich das Leubener Haus und die Operette nicht verschrieben haben, weil es aus der Tradition keinen Sinn macht. Die Frage ist eher: was ist der Weg, Transformationsprozesse zu entwickeln, die das Alte in der Gegenwart verständlich machen?

WALTER SCHMITZ: So ein Haus wie die Leubener Operette hat natürlich auch Zwänge und Schwierigkeiten. Zu dem von Herrn Schneider angemahnten Weg gehört auch ein neuer Ort. Wenn wir sagen, Operette ist eine großstädtische Form, muss man auch Wege finden, diesen Übergang zu schaffen. Zum Überzeugen braucht man Argumente und Material. Beides haben wir seit zwei, drei Jahren begonnen zu sammeln. Eine Aufführung wie die des Radiohörspiels "Leben in dieser Zeit" von Erich Kästner und Edmund Nick, das hätte es früher in Dresden nicht gegeben.

UWE SCHNEIDER: Die auffälligste Entwicklung des Leubener Hauses in den letzten Jahren besteht sicherlich in der Entwicklung bestimmter musikalischer Sprachen. Man bemüht sich um historisch informierte Spielweisen. Dass aktuelle Produktionen dann auf der Bühne einen in Relation dazu befindlichen Entwicklungsweg gehen, finde ich sehr erfreulich.


TUD: Werke wiederzubeleben, die in Inhalt und Ausruck so eng an die Zeit der jeweiligen Uraufführung gebunden sind, bringt natürlich besondere dramaturgische Herausforderungen mit sich.

UWE SCHNEIDER: Ich finde es sehr schade, dass es im Musiktheater die Entwicklung gibt, dass man sich nicht mehr für das Publikum interessiert. Es gibt unter Umständen eine tolle Kritik in der "Frankfurter Allgemeinen", aber das Publikum wird nicht mehr erreicht. So etwas wollen wir garantiert nicht. Im Übrigen ist eine solche Qualitätseinteilung ein Kind des 20. Jahrhunderts: Johannes Brahms soll einmal in einem Café um ein Autogramm gebeten worden sein, weil man ihn für Johann Strauss hielt. Brahms fühlte sich geehrt, mit so einem angesehenen Komponistenkollegen verwechselt worden zu sein!

WALTER SCHMITZ: Natürlich muss sich solch ein Haus auch refinanzieren. Sie sehen, die Aufgabe ist nicht leicht. Leichtigkeit, Heiterkeit, Ironie, das ist das Schwierigste! Das Haus handelt klug, sich ein Spektrum zu bewahren und Akzente zu setzen, die zeigen, wo es hin will. Und dann muss man sehen, wo es Unterstützung gibt. Deswegen ist auch der geplante Umzug so wichtig.


TUD: Durch einen Wissenschaftlichen Beirat will die Staatsoperette Anschluss an die internationale Forschung finden.

WALTER SCHMITZ: Nur für Sachsen hat das, was in Leuben entsteht, einfach zu viel Potenzial. Man muss es auch in überregionale Medien schaffen, das sollte das Ziel sein. Da müsste mehr Vernetzung gelingen. Wir werden uns überlegen müssen, was wir da von Seiten der Universität und der Musikhochschule sinnvoll tun können. Wenn Herr Schneider sagt, viele Dokumente zum "Rössl" seien noch nicht untersucht, sollten wir erst einmal Kleinprojekte angehen. Der Beirat muss sich dann überlegen, ob er antragsfähig wird für gewichtigere Projekte. Und dann müssen wir sehen, dass wir Studenten einbinden. Wir haben in unserem Master-Programm die Ebene des Projektstudiums. Dort bieten wir zukünftig verstärkt Projekte mit der Staatsoperette an. Es geht auch um Kompetenzen, die man sammeln kann. Dramaturgie, Öffentlichkeitsarbeit, wie funktioniert ein Theater? Das kann man an der Operette beispielhaft lernen. Grundlagenwissen, Projektentwicklung und Präsentation - das muss mit einem Partner passieren. Es wird dauern, aber es wird sich einspielen.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 20. Jg., Nr. 7 vom 21.04.2009, S. 10
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2009