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INTERVIEW/008: Das Künstlerkollektiv 'Die Azubis' über das Theaterprojekt 'Treffpunkt Borgfelde' (Teil 1) (SB)


Verwegene Theatermacher nutzen in 'Treffpunkt Borgfelde' einen ganzen Stadtteil als Bühne

von Julia Barthel


In wenigen Wochen beginnt in Hamburg die neue Spielzeit mit einer langen Theaternacht. Von klassischen Stücken über große Oper bis hin zum Ballett werden natürlich alle bekannten und beliebten Facetten des Kulturgenusses geboten. Doch die darstellenden Künste schöpfen ihre Energie nicht allein aus den Quellen der Tradition. Theater lebt von der ständigen Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen der Gegenwart und von den aufgewühlten Emotionen der Menschen, deren Kampf mit dem Dasein auf der Bühne verhandelt wird. Man kann das in einer griechischen Tragödie tun, in Shakespeares 'Romeo und Julia' die unsterbliche Macht der Gefühle erkunden oder sich von einem bezaubernden Tanzstück aus dem grauen Alltag entführen lassen. Aber wir leben in harten Zeiten und eine Theaterkultur, die sich auf metaphorische Dramen und schöne Künste beschränkt, würde der Realität der meisten Menschen nicht gerecht werden. Deswegen wenden sich viele Regisseure und Schauspieler inzwischen den Themen zu, die unsere Wirklichkeit ausmachen. Ob sie den Drahtseilakt wagen, ein Tabuthema wie die hohe Suizidrate unter älteren Menschen mit dem gebotenen Ernst, aber auch mit einer Portion schwarzem Humor anzugehen, in einem ausrangierten Bus Stücke über Flucht und Migration spielen oder durch moderne Installationen einen Ort verwandeln, so ist es doch immer eine Form von Theater.

An festen Schauspielhäusern und in der freien Szene hat in den letzten Jahren ein Wandel stattgefunden. Bei der Hamburger Theaternacht 2011 werden einige Gruppen mitwirken, die das feste Format des klassischen Bühnenstücks total sprengen. In ihren Produktionen heben sie die Trennung zwischen traditionellen Texten, Tanz, Gesang und Performance auf. Wir haben uns im Vorfeld der Spielzeiteröffnung mit drei besonders spannenden Gruppen getroffen, die an der Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Spannungsfeldern, medialer Kunst und Theater arbeiten.

'Die Azubis' gehören zu jenen Vertretern der Menschheit, die schwierige Themen und widrige Arbeitsumstände als Herausforderung betrachten. Der diplomierte Schauspieler und Regisseur Christopher Weiß und der Kulturwissenschaftler Kai Fischer lernten sich während eines Weiterbildungsstudiums an der 'Was Ihr Wollt-Akademie' in Brandenburg kennen. Noch während sie dort gemeinsam an Theaterproduktionen arbeiteten, gründeten die beiden Querdenker das Künstlerkollektiv 'Die Azubis'. Unter diesem Titel befassen sie sich vorzugsweise mit aktuellen und brisanten gesellschaftlichen Themen. Inzwischen haben sie sich in Hamburg niedergelassen und bereichern die freie Schauspielszene mit ihren avantgardistischen Projekten. Furchtlos stürzten sie sich in der letzten Spielzeit auf das Tabuthema 'Suizid im Alter', ohne den Freitod pauschal zu verurteilen. In ihrer Eigenschaft als Theatermacher legen sie großen Wert darauf, auch das heißeste Eisen mit einer Mischung aus Offenheit und Naivität anzupacken.

Christopher Weiß und Kai Fischer machen sich Borgfelde zu eigen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Christopher Weiß und Kai Fischer machen sich Borgfelde zu eigen
Foto: © 2011 by Schattenblick

Widrige Arbeitsumstände konnten sie auch nicht davon abhalten, mit Borgfelde einen ganzen Stadtteil zur Bühne zu machen. In Privatwohnungen, im Bunker und beim Bäcker nebenan inszenierten sie die Geschichten der Bewohner für kleine, geführte Gruppen von Zuschauern. Das gewagte Konzept entstand in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Madeleine Königs, einer Mitstreiterin aus der Zeit der gemeinsamen Ausbildung. Diese ehrgeizige Aufführung möchten 'Die Azubis' für die Hamburger Theaternacht noch einmal zum Leben erwecken. Wohin es dann in Borgfelde gehen wird und welche Überraschungen an Straßenecken oder in unbekannten Räumen auf das Publikum warten, bleibt natürlich ein Geheimnis. Wir trafen Christopher Weiß und Kai Fischer im nämlichen Teil der Stadt zum Interview, wie der Titel ihres Stücks 'Treffpunkt Borgfelde' es verlangt. Unter wolkenverhangenem Himmel in einem kleinen Café erzählten die beiden uns von ihrer spannenden Arbeit. Beim anschließenden Spaziergang gaben sie uns noch eine kleine Kostprobe davon, wie leichtfüßig sie die Zuschauer als begnadete Fabulanten von der Realität ins Reich der Phantasie und wieder zurück führen können. Wir haben uns bestens unterhalten gefühlt.


'Die Azubis' über Kunst im öffentlichen Raum und sozial brisante Themen im Theater (1)

Bei Cappucino und Apfelsaft sitzen wir uns in einem kleinen Café im Hamburger Stadtteil Borgfelde gegenüber. Der Himmel draußen ist mit grauen Wolken bedeckt, aber Christopher Weiß und Kai Fischer lassen mit ihrem sonnigen Gemüt das schlechte Sommerwetter schnell vergessen.

Auf die Frage nach ihrem Werdegang als Künstler und wie es zur Gründung der 'Azubis' kam, stürzt sich der Theatermacher und Kulturwissenschaftler Kai Fischer gleich ins Gespräch.

Kai Fischer: Ja, ich bin Kulturwissenschaftler, das ist die Bezeichnung, unter der ich in Hildesheim studiert habe. Ich bin 36 Jahre alt und habe schon vor dem Studium viel Theater in Hamburg gemacht. Vor allen Dingen auf Kampnagel als Regieassistent und Schauspieler. Parallel habe ich viel mit anderen Medien gearbeitet, mich mit Videokunst, Puppen- und Objektheater beschäftigt. Im Anschluß an mein Diplom konnte ich dann an einer Begabten/Nachwuchsförderung an der 'Was Ihr Wollt-Akademie Brandenburg' teilnehmen. Dort habe ich den Christopher kennen gelernt. Da haben wir dann ein Team gebildet und arbeiten seitdem auch kontinuierlich zusammen.

SB: Habt ihr euch eigentlich gleich an der Akademie als das Künstlerkollektiv 'Die Azubis' zusammengetan?

Christopher Weiß: Ja. Was auf jeden Fall an der 'Was Ihr Wollt-Akademie' in Brandenburg stattgefunden hat, war das Ausprobieren von verschiedenen Theaterformaten und innovativen Formen. Der Kai und ich haben uns auch schon während der Akademie als 'Die Azubis' benannt. Das Projekt 'Treffpunkt Borgfelde' haben wir noch gemeinsam mit der Regisseurin Madeleine Koenigs umgesetzt, die auch auf der 'Was Ihr Wollt-Akademie' war. Das ist alles aus dieser Zeit heraus entstanden.

KF: Die Einrichtung nennt sich ja 'Was Ihr Wollt-Akademie'. Das bezieht sich natürlich zum einen auf den Shakespeare-Titel und darüber hinaus stellt sie auch die Frage an junge, ausgebildete Künstler: Wo wollt ihr jetzt hin mit eurer Kunst? Wollt ihr weiterhin das machen, was man euch vorsetzt oder wollt ihr die Fragen, die euch interessieren, selber bearbeiten? Das war eben auch ein Prozess, den man dort kennen gelernt hat. Zu sagen: Ich nabel mich auch bewußt vom Stadttheater ab, um dann in der freien Szene meine Themen zu bearbeiten, die mich beschäftigen.

Bei den 'Azubis' gibt ein Wort das andere ... - Foto: © 2011 by Schattenblick

Bei den 'Azubis' gibt ein Wort das andere ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Ihr schreibt ja auch eure Texte selbst und konzipiert ganz eigene Stücke. Auf dem Weg dorthin habt ihr euch aber auch intensiv mit klassischen Stücken beschäftigt?

CW: Also, ich komme ja ursprünglich aus der Schauspielerei. Ich habe in Hannover an der Hochschule für Musik und Theater studiert und war dann fünf Jahre am Göttinger Stadttheater, wo man mit klassischen Texten umgegangen ist. Dort habe ich aber auch schon meine eigenen Stücke geschrieben und eigene Ideen ausprobiert. Deswegen wollte ich auch in die 'Was Ihr Wollt-Akademie', um Inhalte umsetzen zu können, die man vielleicht nicht in den klassischen Texten findet. Da nimmt man sich dann erstmal ein Thema vor, statt mit dem Text anzufangen und sucht dafür Ausdrucksmöglichkeiten. Das können dann eben Texte sein, das können szenische Arrangements sein, Schattentheater, Puppentheater, je nachdem, was der Inhalt erfordert...

KF: Da können dann aber auch wieder klassische Texte mit einfließen. Dann kommt vielleicht der Punkt, wo wir sagen: Hey, wir brauchen jetzt Hamlet! Wir werden ihn so verändern, dass wir ihn auf unsere Art erzählen, aber dann kommt der auch wieder mit rein. Also, wir schließen das nicht konsequent aus oder verneinen das, sondern ordnen nur erstmal alles unserem Thema unter.

SB: Welche Bedeutung hat denn der Name 'Die Azubis' für euch?

KF: Das hat natürlich damit zu tun, dass man sich als jemand begreift, der noch lernt. Obwohl wir ja eigentlich schon mehrere Ausbildungen gemacht haben, stellen wir doch immer wieder fest: Wenn wir uns ein neues Thema greifen, sind wir auf dem Gebiet einfach ein Neuling. Wir hatten jetzt zum Beispiel 'Alterssuizid' als Motiv für unser letztes Stück 'Nimmermeer'. Also, ich kann darüber jetzt aus dem Stehgreif vielleicht ein paar blöde Kommentare abgeben, aber ich bin einfach ein Neuling. Auch in Borgfelde bin ich eine Art Anfänger gewesen, weil ich diesen Ort überhaupt nicht kannte. Das heißt, man arbeitet sich in die Themen immer wieder wie ein guter Azubi mit viel Spaß und viel guter Laune einfach erstmal ein.

CW: Es geht eben auch darum, nicht gleich zu Lösungen zu kommen, damit man Spannungsfelder aufmachen kann. Dass man sich einem Thema annähern kann, aber auch das Dilemma beschreibt. Denn das sind ja die interessanten Themen, die eben nicht zu klären sind, wo man keine Moral zeigt, wo man nicht sagt: Das ist die Lösung! Wo man sich sozusagen heran arbeitet und Widersprüche entdeckt und mit diesen dann auf der Bühne umgehen kann. Das ist für uns ganz wichtig, dass man eben nicht zur Meisterklasse hochsteigt.

SB: Was erwartet die Zuschauer in der Theaternacht am 10. September bei 'Treffpunkt Borgfelde'?

CW: Wir wollen wieder etwas im Bunker machen und auch in der Bäckerei 'Das Rettungsbrot' eine Geschichte inszenieren. Für das Ganze werden wir dann etwa eine halbe Stunde Zeit haben.

KF: Es wird natürlich einen kleinen Spaziergang durch Borgfelde geben, wenn das Wetter nicht völlig miserabel ist. Wir werden den Stadtteil mit einem Augenzwinkern vorstellen und mit theatralen Mitteln überhöhen. Dazu gehören auch unsere Scouts, die den Zuschauer auf der Erkundungstour begleiten werden. Letztes Mal hatten wir da ein sehr charmantes Mädchen dabei, das immer alle Passanten sehr nett gegrüßt hat. Da haben alle Leute automatisch zurückgewunken und so entstand der Eindruck, dieses Mädchen würde einfach jeden kennen. Wir werden versuchen, so jemanden in der Theaternacht wieder dabei zu haben.

Theater unter der Erde im Bunker von Borgfelde - Foto: © 2011 by Schattenblick

Theater unter der Erde im Bunker von Borgfelde
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Warum habt ihr euch für dieses öffentliche Raumprojekt gerade Borgfelde ausgesucht?

CW: Wir sind eigentlich durch die Ausschreibung 'Anstiften - 50 Impulse für Hamburg' darauf gekommen. Uns wurde klar, dass kein Mensch Borgfelde kennt, obwohl es einer der zentralsten Stadtteile von Hamburg ist. Wir wollten das Viertel mal bekannt machen, als einen Ort, der sich den Besuchern durch einen Theaterparcours öffnet. Eigentlich ein sehr schlichter, aber spannender Auftrag.

KF: Es ist natürlich auch von Vorteil, dass Borgfelde ein verhältnismäßig kleiner und kompakter Raum ist. Ein solcher Theaterabend wäre zum Beispiel in einem größeren Stadtteil wie Rahlstedt gar nicht möglich. Da wäre man drei Nächte lang unterwegs. Wir sind dann hier spazieren gegangen, um uns die interessanten Aspekte des Ortes anzugucken...

CW: Es gibt ein Theater, Internetradio, eine Schule, ein Frauenhaus, das Pressglasmuseum und alles auf diesem kleinen Raum! Es ist verrückt, was in so einem Stadtteil alles zu finden ist.

SB: Im Alltag kriegt man ja von seinem Lebensraum nicht wirklich viel mit. Man läuft einfach nur seine gewohnten Wege ab und hat dabei förmlich Scheuklappen auf.

CW: Das finde ich eben so faszinierend an diesen öffentlichen Raumprojekten. Da geht es um Lebensraum. Man geht in Privatwohnungen oder in einen Bunker und findet dabei heraus, wo man eigentlich lebt. Hinterher hat man eine ganz andere Verbindung zu dem Ort, weil man so viel darüber erfahren hat.

SB: Das hast du ja auch schon auf der Pressekonferenz zur Theaternacht angedeutet. Da sagtest du: Hinter jedem Fenster steckt eine Geschichte. Der Satz macht einfach neugierig.

CW: Ja, es hat schon einen Effekt, hinter die Kulissen zu gucken. Dahinter befinden sich Geschichten und Menschen! Uns ist auch schon bei dem Innenstadt-Projekt 'Nightbreezers' aufgefallen, wie stark unsere Wahrnehmung vom eigenen Lebensraum reglementiert ist. Man geht immer wieder bestimmte Wege, zum Beispiel von der Wohnung zum Supermarkt und wieder zurück. Da ist es schön, wenn man für sich einen Anlaß findet, seinen eigenen Stadtteil mal zu entdecken und nicht nur in seiner privaten Welt hängen bleibt. Das schlägt sich nämlich auch auf den Umgang mit den Nachbarn nieder.

Rettungsbrot für die Seele - Foto: © 2011 by Schattenblick

Rettungsbrot für die Seele
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Gerade für eure Arbeit ist es sehr wichtig, möglichst unvoreingenommen auf jede neue Situation zuzugehen. Stellt sich bei all den Projekten, die ihr schon gemacht habt, nicht mit der Zeit eine gewisse Routine ein?

KF: Man hat natürlich, wenn man so ein Thema auf dem Tisch liegen hat, immer gleich ein paar Ideen. Das können auch Rückgriffe auf Sachen sein, die man schon mal gemacht hat. Aber weil wir zwei Leute sind, haben wir durchaus mal unterschiedliche Meinungen, was Themen angeht. Das heißt, irgendwann streitet man sich dann mal darüber und sagt: Oh, da müssen wir etwas Neues für dieses Projekt machen, damit es wieder zum Thema passt. Klar gibt es einen gewissen Stil, den wir uns angeeignet haben, sowohl im innerlichen, dramaturgischen Vorgang wie auch in den Stilmitteln. Trotzdem glaube ich, dass wir auch durch die Vorgabe des Raumes und der Mitspieler immer wieder etwas Neues schaffen.

CW: Wenn man ein neues Thema hat und wirklich versucht, sich selber inhaltlich und künstlerisch zu befragen, dann ist es schwer, eine Routine abzuliefern. Da ist es eben kein Handwerksberuf. An der Stelle wird's künstlerisch und man macht sich selbst zum Thema. Das ist nicht immer angenehm. Im Nachhinein ist es natürlich schön, weil das Ergebnis aus einem selbst kommt, aber während des Prozesses manchmal auch sehr belastend. Man muß viele Fragen aushalten.

SB: Aber durch diese Auseinandersetzung entsteht eben auch kein Standardprodukt, sondern etwas Neues mit Ecken und Kanten....

CW: Genau.

KF: Wir stellen auch immer wieder fest, dass die erste Idee, die wir haben, in die man sich dann auch verliebt hat, es nie bis zum Ende schafft. Man produziert ja immer ungefähr ein Dreiviertel für die Tonne. Deswegen glaube ich, gibt es immer wieder neue Sachen, die einen noch überraschen. Wo man sagen muß: Das Stück hätte ich mir am Anfang völlig anders vorgestellt.

Es gab viel zu lachen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Es gab viel zu lachen
Foto: © 2011 by Schattenblick

SB: Wie war das bei der Produktion von 'Treffpunkt Borgfelde? Ist da irgendwas vollkommen anders gelaufen, als ihr es euch vorgestellt habt?

KF: Da war dieser alte Mann in der Kirche, in den wir uns eigentlich verliebt haben, ein neunzigjähriger Orgelspieler. Der spielt hier in der Borgfelder Kirche immer noch ab und zu Orgel. Er ist einer der erfahrensten Orgelkenner überhaupt in Deutschland und hat auch Bücher geschrieben. Eine ganz spannende Person, die von A bis Z nur erzählt und zwar mit viel Witz. Wenn man sagt: "Mensch, dass Sie das jetzt hier noch machen, Sie sind ja auch schon 90", antwortet er: "Was heißt hier überhaupt schon!" Jemand, der einem auch immer klarmacht, dass man in seinen Augen ein Jungspund ist. Der dann vom Ersten Weltkrieg, vom Zweiten Weltkrieg, von der Wirtschaftskrise erzählt und immer wieder zwischendurch Orgel spielt. Wir dachten, das ist natürlich absolut super, so jemanden dabei zu haben. Wie spannend der erzählen kann! Der war ganz lieb und nett, hat uns immer in seinen Terminkalender eingetragen, der absolut leer war. Wo er jedes Mal sagte: "Ich muß mal gucken, ob ich noch einen Termin frei habe." Und er hat es trotzdem immer wieder vergessen. Er ist einfach nicht mehr zu den Proben gekommen. Nachher mußten wir einfach sagen: Wir können dieses Risiko nicht eingehen, dass der irgendwann verschwindet oder nicht da ist. An diesem Punkt ist es wichtig, dass wir ein künstlerisches Projekt machen. Es ist kein sozialpädagogisches Projekt.

Kai Fischer über spannende Begegnungen im Lebensraum Borgfelde - Foto: © 2011 by Schattenblick

Kai Fischer über spannende Begegnungen im Lebensraum Borgfelde
Foto: © 2011 by Schattenblick

CW: Da hatten wir einfach eine Verantwortung gegenüber der Produktion. Dann konnte man das leider nicht mehr tragen. Wir hatten einfach einen relativ komplexen Parcours, wo die Leute durchgeführt wurden. Bei sieben Gruppen ist auch der Zeitplan ziemlich kompliziert. Wenn dann eine Szene ausgefallen wäre, wär ich gestorben, glaube ich. Da mußten wir leider sagen: Das können wir nicht riskieren.

SB: Wie lange haben die Proben zu 'Treffpunkt Borgfelde' denn gedauert? Es klingt jetzt so, als hätte das Ganze doch einen recht langen Zeitraum in Anspruch genommen.

CW: Die Proben selber nicht. Es war viel Organisation, die Mitspieler zu aquirieren, über den Stadtteil zu recherchieren und den Einwohnern das Ganze überhaupt zu vermitteln. Es ist natürlich komisch, wenn jemand zu dir kommt, bei dir klingelt oder dich anruft und sagt: Wir möchten in deine Wohnung rein und wir wollen da ein Theaterprojekt machen. Das war ziemlich schwierig.

KF: Manchmal geht es den Leuten auch nicht darum, dass du mit denen künstlerisch zusammen etwas entwickeln möchtest, sondern sie möchten vielleicht einfach nur ihren Club vorstellen. Das ist nicht in unserem Interesse, denn natürlich ist die künstlerische Überhöhung der wertvolle Teil an unserem Projekt.

SB: Es muss sich auch dem Publikum vermitteln, dass es immer noch Theater ist.

KF: Es ist halt kein Stadtrundgang, sondern ein Theaterstück. Natürlich spielt die Authentizität der Menschen eine große Rolle, aber es kann nicht darum gehen, einfach nur etwas abzurufen und vorzustellen, sondern es muß die Überhöhung haben, dass jeder für sich als Zuschauer auch feststellen kann, wo er sich wiederfindet.

CW: Man muß auch herauskristallisieren, wo die Geschichte einer Person zu einem eigenen, allgemeineren Thema werden kann. Da muß auch eine Vermittlung stattfinden, wenn man mit Laien arbeitet.

KF: Das war ähnlich mit dem Frauenhaus. Da mußte man auch überlegen, wie mache ich sowas, ohne einen Voyeurismus zu bedienen. Oder feststellen, dass der Voyeurismus eben da ist und dann herausfinden, wie man den benutzen kann. Wie entlarve ich damit die Zuschauer, die halt draußen stehen und neugierig sind? Wie arbeite ich mit einer 'Schauspielerin', die eigentlich von sich nichts preisgeben möchte? Denn genau das muß sie machen, damit das nachher auch einen Wert für den Zuschauer hat.

CW: Das ist aber auch die Qualität dieser Arbeit, dass man sozusagen szenische Arrangements findet, die denjenigen, der da ist, nicht spielen lassen müssen. Diese Frau, von der Kai eben gesprochen hat, ist dafür ein gutes Beispiel. Vor der Aufführung haben wir ein Interview mit ihr gemacht, das sie im Aufenthaltsraum des Frauenhauses zeigt. Da hat sie über das Frauenhaus geredet und über sich. Als wir dann später den Zuschauern das Interview gezeigt haben, saß diese Frau als echter Mensch dabei.

Das ist so, als ob ich einen Dokumentarfilm gucke und plötzlich taucht die Person, um die es geht, direkt neben mir auf. Das ist natürlich toll! Da kann man sich auf einmal nicht mehr distanzieren. Man setzt jemanden in Szene und gleichzeitig schafft man ein künstlerisches Arrangement, in dem die Person aber nicht spielen muß. Dann wird es kein Laientheater und auch keine pädagogische Arbeit, sondern eine künstlerische Installation.

SB: In diesem Punkt setzt ihr euch also gezielt vom Laientheater und vom dokumentarischen Theater ab?

CW: Das ist so eine komische Mischung, denn irgendwie sind wir auch dokumentarisch oder starten ganz oft von dem Blickwinkel. Wir gehen einfach oft spielerisch damit um. Zum Beispiel kann man im Fall von Borgfelde sagen: Eine Geschichte, die wir erzählen, ist real, es geht um Borgfelde und das hier sind alles reale Menschen. Dann stellt man aber gleichzeitig jemanden hin, der alles Mögliche behaupten kann und der Zuschauer glaubt das dann, weil ja vorher gesagt wurde, es ist alles wahr. Das ist natürlich super! Beispielsweise höre ich erst eine reale Geschichte und plötzlich gehe ich an einer Wiese vorbei und sehe eine Frau, die das Gras staubsaugt! Da frage ich mich natürlich: Was ist denn hier jetzt los? Mit der Erwartungshaltung des Zuschauers zu spielen ist für uns wichtig.

Das ist jetzt kein rein dokumentarisches Theater, wir nutzen nur gerne dieses Sprungbrett, um dann spielerisch und weitgreifend damit umgehen zu können. Das ist, glaube ich, auch der Unterschied zwischen uns und einem Schauspieler, der vorgibt, etwas zu sein. Wir versuchen vielmehr, einen Ausdruck für unsere Themen zu finden.

KF: Du kannst dich dem als Zuschauer auch nicht so leicht entziehen. Also, wenn du dir zum Beispiel das Stück 'Romeo und Julia' ansiehst, gehst du anschließend nach Hause und hast eine Aufführung gesehen. Wenn man dagegen in einem Projekt wie 'Nimmermeer' sehr viel über Suizid im Alter spricht und dem Publikum immer wieder bewußt macht: Ihr alle habt Eltern, ihr alle habt eine Oma, die vielleicht bald sterben wird oder sterben möchte und wir auch von unserer Oma sprechen, die gestorben ist, kannst du danach nicht einfach rausgehen wie aus einem normalen Theaterstück. Du mußt dich damit auseinandersetzen. Das ist eine Möglichkeit, den Leuten sehr viel mehr mit auf dem Weg zu geben als mit einem Stück, was dann in der hundertsten Interpretation vielleicht doch nicht mehr berührt. Damit will ich natürlich nichts gegen das Theater sagen. Wir verfolgen einfach nur einen anderen Ansatz.

SB: Es fällt auch auf, dass ihr die Menschen in euren Stücken mit viel Feingefühl darstellt, ohne dabei gönnerhaft zu sein oder einen Voyeurismus zu bedienen. Wie schafft ihr das?

CW: Ich glaube, da kommen uns unsere vielen Ausbildungen mal zugute. Zum Beispiel arbeiten wir beide auch mit Jugendlichen, ich unterrichte, habe auch pädagogische Projekte gemacht... Das hilft uns in so einem Theaterprojekt natürlich, weil wir um bestimmte Grenzen bei den Menschen wissen. Gleichzeitig sind viele unserer Mitspieler auch einfach extrem gut in ihrer Art, sich darzustellen. Bei 'Treffpunkt Borgfelde' hat zum Beispiel ein behinderter Schauspieler vom Theater Klabauter mitgewirkt, der sich selbst extrem zum Thema macht, aber auch einen ausgezeichneten Umgang mit Sprache hat. Man kann auch auf vieles zurückgreifen, um den Menschen zu schützen und gleichzeitig sein Thema zu bearbeiten.

Taktgefühl hat für die 'Azubis' oberste Priorität - Foto: © 2011 by Schattenblick

Taktgefühl hat für die 'Azubis' oberste Priorität
Foto: © 2011 by Schattenblick

KF: Wir lassen unsere Arbeit auch immer wieder durch einen Dramaturgen von außen überprüfen. Bei der Szene mit dem behinderten Schauspieler haben wir am Ende viele Veränderungen vorgenommen, um die Behinderung nicht als ausschlaggebendes Element zu benutzen. Deswegen wurde auf der Bühne in der Hauptsache eine ganz andere Geschichte erzählt, die etwas mit der Traumwelt des Darstellers zu tun hatte.

SB: Am Ende wurde dabei auch die Frage in den Raum gestellt: Was würdet ihr in meiner Lage vorziehen, das wahre Leben oder die Bühne? Damit können sich sicher viele Menschen identifizieren, die selbst in einer schwierigen Lebenssituation sind.

Fortsetzung folgt in Teil 2...

Im Gespräch ein kreativer Seitensprung ... - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Gespräch ein kreativer Seitensprung ...
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4. August 2011