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TIERHALTUNG/615: Wenn Milchkühe auch Mütter sein können (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 375 - März 2014
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Wenn Milchkühe auch Mütter sein können
Kälberaufzucht an der Milchkuh ist ungewöhnlich, erfährt aber gerade ziemliches Interesse

von Claudia Schievelbein



Klar, hätten die Leute immer schon nachgefragt, wie das denn wäre, mit den Kälbchen und den Kühen und der Trennung nach der Geburt. Florian Gleißner betreut die Milchviehherde des Demeterhofs Domäne Fredeburg. Jahrelang hat er auch dort, wie überall üblich, mit Nuckeleimern Kälber großgezogen. "Wir haben dann immer gesagt, dass Rinder ja Nestflüchter sind, gleich aufstehen und loslaufen aber natürlich auch, dass es da nichtsdestotrotz diesen Konflikt gibt", erinnert sich Gleißner. Die Domäne Fredeburg liegt an der Durchgangsstraße von der Till-Eulenspiegel-Stadt Mölln zur alten Hansekönigin Lübeck, direkt am Abzweig nach Ratzeburg mit seinem Dom von Heinrich dem Löwen gebaut und dem See mit der Goldachter-Ruderakademie. Hier gibt es überall pittoreske Landschaft, Wasser, Knicks, Hügel, Geschichte in Backstein und dementsprechend auch einige Sommerfrischler. Viele davon gucken in Fredeburg in die Ställe, kaufen selbstgemachten Käse. Aber es waren nicht unbedingt die Fragen der Besucher angesichts der süßen Kälbchen, die schon nach einem Tag von ihren Müttern fort mussten, die Gleißner bewogen haben etwas ändern zu wollen. Die Beobachtung von Kälbern, die sich gegenseitig besaugten, habe ihn vor zwei Jahren anfangen lassen sich mit dem Thema einer "muttergebundenen Kälberaufzucht", so der fachlich-technische Terminus, auseinander zu setzen. Viele praktische Erfahrungen gab und gibt es auch nach wie vor nicht, ein paar vornehmlich biologisch-dynamisch wirtschaftende Biobetriebe eher in Süddeutschland, ein paar mehr Betriebe und eine überschaubare Experten- und Publikationslandschaft in der Schweiz.


Mütter im Kindergarten

Gleißner probierte ein bisschen herum und besuchte ein Seminar auf dem Hofgut Rengoldshausen, einem Demeterbetrieb am Bodensee. Dort hatte Mechthild Knösel, die zuständige Frau im Kuhstall, 2006 ihre Meisterarbeit zum Thema geschrieben und auch praktisch die Nuckeleimer in die Ecke gestellt. Aus ihren Erfahrungen, zum Beispiel der, dass Kühe, deren Kälbchen bei ihnen saugten, nur einen Teil ihrer Milch beim Melken aus dem Euter freigeben, entwickelte Gleißner einen Plan. In Rengoldshausen war aus der reinen Mutter/Kalb-Konstellation eine Mutter/Ammen-Aufzucht geworden. So wachsen nun auch in Fredeburg die Kälber die ersten drei Wochen ganz bei der Mutter heran, lediglich zweimal am Tag zum Melken wird die Kuh aus der Box geholt. Danach wechselt die Mutter zurück in die Kuhherde, die Kälber gehen für rund vier Monate in einen Kindergarten. In den werden jeweils nach dem Melken die Mütter gelassen, allerdings nur ungefähr halb so viele, wie Kälber. Immer wenn ein neues, drei Wochen altes Kalb in den Kindergarten wechselt, rückt auch seine Mutter in die "Muttergruppe" nach, dafür verlässt die Kuh mit dem ältesten Kalb im Kindergarten die Gruppe. Ihr Kalb hat längst auch "quer gesoffen" wie Gleißner sagt, also auch bei anderen Kühen getrunken. "Je früher sie damit anfangen", so Gleißner, "desto cooler sind die Kälber im Umgang mit der Situation." Natürlich erfordert diese Mischung aus Mutter- und Ammenhaltung mehr und eine genauere Beobachtung der Tiere, gleichzeitig spart sie die Arbeit des Hantierens mit den Eimern und hat positive Auswirkungen auf die Kälbergesundheit. Dies ist im wesentlichen das Ergebnis der Meisterarbeit Mechtild Knösels gewesen, welches von Florian Gleißner bestätigt wird. "Bedrohliche Kälberdurchfälle, futterbedingte Ausfälle oder Hygieneprobleme sind kein Thema mehr", sagt Gleißner, "und ob die Kühe wirklich weniger Milch geben, bezweifele ich." Natürlich bleibe der Interessenskonflikt, aber es mache viel mehr Spaß Kälber so aufwachsen zu sehen, so Gleißner.


Tierwohl als Welle

Selbst immer noch in der Phase des Erfahrungen sammelns traf er immer wieder auf das Interesse von Berufskollegen, so dass er sich entschloss, jetzt im Winter eine Veranstaltung dazu zu organisieren. Obwohl nur im überschaubaren Rahmen verbreitet, war der Zulauf immens, nicht nur Bäuerinnen und Bauern kamen, sondern auch Wissenschaftler, zum Beispiel vom Thünen-Institut für Ökolandbau in Trendhorst, wo schon seit vielen Jahren Grundlagenforschung betrieben wird. "Es ist eine richtige Mode gerade, man hat den Eindruck diese Art der Kälberaufzucht wird von der ganzen Tierwohldebatte als Welle vor sich hergeschoben", versucht Gleißner das Interesse zu erklären. Auch er nimmt wahr, dass die Besucher in Fredeburg genauer nachfragen und kann inzwischen eine sehr am Tier orientierte Verfahrensweise als Zusatz nutzen zum Milchprodukt im Hofladen verkaufen. Aber er sagt auch, dass man vorsichtig sein sollte und sich bei aller gesellschaftlicher Sensibilisierung eben "nicht nur vom Verbraucher die Methode diktieren lassen sollte." Man müsse, so Gleißner, es auch wirklich selber wollen, nur dann mache es Sinn.

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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 375 - März 2014, S. 7
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2014