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TIERHALTUNG/439: "Milchkühe" und ihre (Aus-) Nutzung (tierrechte)


tierrechte 2.08 - Nr. 44, Mai 2008
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

"Milchkühe" und ihre (Aus-) Nutzung

Von Hannelore Jaresch


Milch und Milchprodukte stehen bei den Verbrauchern hoch im Kurs. Nach Gammelfleisch und anderen Hiobsbotschaften aus der industriellen Fleischproduktion ist das Vertrauen der Konsumenten in das Produkt Milch nach wie vor ungebrochen. Dass erwachsene Menschen Babynahrung brauchen, um gesund zu bleiben, redet uns eine offensive Werbung seit Langem ein. Macht aber Milch wirklich müde Männer munter? Und kommt die Milch tatsächlich von Kühen, die auf grünen Almwiesen grasen? tierrechte widmet den Schwerpunkt dieser Ausgabe den sogenannten Milchkühen - denn was die Milchproduktion für sie bedeutet, ist noch viel zu wenig bekannt.

Deutschland ist in der Sprache der Marktanalysten der größte Milcherzeuger der EU. Rund vier Millionen 'Milchkühe' stehen derzeit in Deutschlands Ställen, Tendenz in den letzten Jahren leicht fallend, denn immer weniger Kühe liefern immer mehr Milch. Das geht allerdings nicht ohne gravierende gesundheitliche Folgen für die Tiere.


Das Leben einer modernen "Hochleistungskuh"

Als "Milchkühe" werden weibliche Hausrinder bezeichnet, die zur "Produktion" von Milch gehalten werden. Die Kuh "gibt Milch", heißt es so schön. Wem sie die Milch geben darf, ihrem Kalb oder dem Verbraucher, entscheiden wir Menschen. Damit die Kuh ständig Milch liefert, muss sie jedes Jahr ein Kalb zur Welt bringen. Die "Milchleistung" der Kuh steigert sich nach der Geburt des Kalbes in den ersten sechs Wochen und fällt dann langsam wieder ab. Diese Zeit wird als Laktation bezeichnet. Schon wenige Wochen nach der Geburt des Kalbes wird das Muttertier erneut trächtig - fast immer wird es zu diesem Zweck künstlich besamt. Die Trächtigkeit dauert, ähnlich wie die Schwangerschaft beim Menschen, neun Monate. In dieser Zeit wird die Kuh weiter gemolken. Erst sechs bis acht Wochen vor der Geburt wird sie - oft mit Medikamenten - "trockengestellt", also nicht mehr gemolken, damit sich das Euter etwas erholen kann und Entzündungen ausheilen.

Das Kalb wird der Mutter in der Regel gleich nach der Geburt weggenommen. Nur in den ersten Tagen bekommt das Kalb die Milch seiner Mutter - das sogenannte Kolostrum. Danach wird es mit einem Milchersatz, dem "Milchaustauscher" gefüttert. Hin und wieder kommt es vor, dass Mutter und Kind einige Tage zusammenbleiben dürfen. Die Bindung ist dann rasch sehr eng und die anschließende Trennung für beide noch traumatischer. Auf dem Land ist ihr verzweifeltes Rufen ein vertrauter Klang, der - außer von einigen sensiblen Städtern - als gottgegeben hingenommen wird.


Keine Milch ohne "Kalbfleischproduktion"

Die weiblichen Kälber werden meist als zukünftige "Milchkühe" aufgezogen. Die männlichen Tiere werden dagegen an Mastbetriebe in ganz Europa verkauft. Mutterlos aufgezogene Kälber können ihr Saugbedürfnis nie befriedigen und zeigen deshalb oft Verhaltensstörungen. Sie besaugen einander oder auch Teile der Stalleinrichtung. Bekommen sie zu wenig Raufutter, wie Gras oder Heu, leiden sie an Eisenmangel. Ihr Fleisch ist dann weiß bis hellrosa, was viele Verbraucher irrtümlicherweise als Garant für Zartheit halten. Auch ihr großes Bewegungsbedürfnis können die Kälber weder in der bis zum Alter von acht Wochen erlaubten Einzelhaltung noch in Buchten auf rutschigen Spaltenböden befriedigen.


Hatten Kühe mal Hörner?

So wie Stadtkinder bisweilen meinen, Kühe seien lila, wird es bald in Vergessenheit geraten, dass Rinder von der Natur mit Hörnern ausgestattet sind. Nach Schätzungen werden bereits bis zu 70 Prozent der Kälber "enthornt". Die Landwirte werden dazu von den Berufsgenossenschaften, vom Bauernverband und den "Viehvermarktern" gedrängt, mit der Begründung, nicht enthornte Tiere stellten eine Unfallgefahr für den Tierhalter dar und könnten sich auch gegenseitig verletzen. Tatsächlich begann die Enthornung der Kälber mit der Einführung der Laufställe, wo es bei Platzmangel, fehlenden Ausweichmöglichkeiten und schlechter Betreuung der Herde zu Auseinandersetzungen zwischen rangniederen und ranghöheren Tieren kommen kann.

Laut Tierschutzgesetz ist es "grundsätzlich" verboten, Körperteile von Wirbeltieren zu entfernen oder zu zerstören. Gleichzeitig werden aber Ausnahmen erlaubt, wie die Kastration und die Enthornung. Bei Kälbern unter sechs Wochen darf die Hornanlage sogar ohne Betäubung zerstört werden. Dazu gibt es zwei Verfahren: Bei der Brennmethode wird ein spezieller Elektrobrenner, oft aber auch einfach ein Lötkolben, auf die Hornanlage gesetzt und hin und her gedreht, bis das Gewebe über dem Knochen weggebrannt ist. Oder es werden Atzstifte oder -pasten mit säurehaltigen Substanzen verwendet, welche auch die Augen verätzen können.

Beide Methoden sind für die Tiere äußerst schmerzhaft, weshalb auch Tierärzteverbände eine Betäubung und nach dem Eingriff schmerzstillende Mittel fordern, bisher allerdings vergeblich.

Rinder haben jedoch nicht durch Zufall Hörner. So sind sie zum Beispiel wichtig für die Festlegung der Rangordnung in einer Rinderherde. Ihre Amputation weist somit auf eine nicht tiergerechte Gestaltung des Stalles und Mängel bei der Betreuung der Tiere durch den Tierhalter hin.


Laufstall statt Anbindung

Genaue gesetzliche Regelungen zur Rinderhaltung fehlen in Deutschland und in der EU. 60 bis 70 Prozent der Kühe leben heute in Deutschland in sogenannten Laufställen, vor allem in Norddeutschland und in den neuen Bundesländern. In den traditionell kleineren Ställen in Süddeutschland mit oft unter 40 "Milchkühen" ist die Anbindehaltung noch weit verbreitet. Hier stehen die Kühe ihr Leben lang angebunden auf einer Stelle, sofern sie nicht wenigstens in den Sommermonaten auf die Weide geführt werden, was immer seltener der Fall ist. Schwere Klauen- und Gelenkerkrankungen sind oft die Folge. In der Natur legen Rinder täglich viele Kilometer zurück. Ihr Bewegungsbedürfnis haben auch die seit mehreren Tausend Jahren domestizierten Rinder nicht verloren. In Anbindehaltung wird jedoch jeder echte Sozialkontakt und jede Bewegungsmöglichkeit verhindert. Da der Hals fixiert ist, können die Tiere nicht einmal Juckreiz auf dem Rücken beseitigen, so dass sie sich bisweilen mit Futterwerfen behelfen.

Obwohl der sogenannte Laufstall seit einigen Jahrzehnten von größeren Betrieben mit 60 bis zu mehreren Hundert Kühen nur aus arbeitstechnischen Vorteilen eingeführt wurde, wächst dennoch langsam die Einsicht, dass die dauerhafte Anbindung von Kühen nicht tiergerecht ist. Laut Leitlinien für die "Milchkuh"-Haltung in Niedersachsen ist die Anbindehaltung in Neubauten nicht mehr zulässig. Der Bauernverband und Bundesminister Horst Seehofer als sein Sprachrohr sehen dagegen keinerlei Handlungsbedarf. Bayern will sogar für Ökobetriebe mit bis zu 35 "Milchkühen" durchsetzen, dass die Anbindehaltung auch zukünftig erlaubt ist, wenn die Ställe vor dem Jahr 2000 errichtet wurden.

In den Laufställen können die Kühe ihr natürliches Bewegungsbedürfnis und ihr Sozialverhalten grundsätzlich besser ausleben. Es kommt aber sehr darauf an, wie viel Platz die Tiere haben, wie die Laufgänge, der Liegebereich und die Böden beschaffen sind. Vollspaltenböden sind immer noch erlaubt. Rangniedere Tiere leben im Dauerstress, wenn sie nicht die Möglichkeit haben auszuweichen, ungestört zu ruhen, ausreichend zu trinken und Nahrung aufzunehmen. Außerdem kommen die immer größeren Kuhherden aus Laufställen kaum mehr auf die Weide. An den Stall angegliederte Auslaufflächen, sogenannte Laufhöfe, gibt es nur selten.


Leistung ist alles

In den letzten 100 Jahren wurde die Milchleistung der Kühe um das Zehnfache gesteigert. Durch einseitige Zucht auf Milchmenge und eine ausgeklügelte Fütterung mit Kraftfutter wird eine moderne "Hochleistungskuh" der Rasse Holstein-Friesian heute dazu gezwungen, jährlich zwischen 8000 und 11000 Liter Milch zu produzieren. "Spitzentiere" geben bis zu 14000 Liter pro Jahr. Bei einer Menge von 50 Litern pro Tag vollbringt ihr Organismus die Stoffwechselleistungen eines Dauermarathons. Allein zur Produktion von einem Liter Milch müssen 500 Liter Blut durch die Milchdrüsen des Euters fließen. Dieser Zwang zur Höchstleistung wird mit zahlreichen Erkrankungen und einem frühen Tod erkauft. Meist schon nach zwei bis drei Kälbern sind "Hochleistungskühe" ausgezehrt und gehen in jugendlichem Alter von vier bis fünf Jahren in den Schlachthof. Dabei könnte eine Kuh gut 20 Jahre und älter werden.

Noch ist ein Ende der Zucht auf Höchstleistung nicht in Sicht. Der Konsum von Milchprodukten in Deutschland steigt weiter, vor allem bei Käse. Die sogenannte Milchquote, also die garantiert abgenommene Milchmenge pro Betrieb, sollte zu einer Beschränkung der Milchproduktion innerhalb der EU führen. Sie ist jedoch vor Kurzem erhöht worden und soll spätestens im Jahr 2015 ganz abgeschafft werden. Das bedeutet künftig eine unbegrenzte Milchproduktion, auch für den Export in außereuropäische Länder. Milch und Milchprodukte werden damit an Millionen Menschen verkauft, die zum Teil traditionell bedingt keinen Milchkonsum kannten.


Übrigens sind auch die Kühe selbst ein Exportschlager. Mehr als 77000 hochträchtige Jungkühe wurden im letzten Jahr mit Exportsubventionen aus Steuergeldern per Lkw und Schiff in 32 verschiedene Länder ausgeführt, darunter Russland, die Ukraine und Marokko. Der quälerische Ferntransport und ihr weiteres Schicksal interessieren hierzulande niemanden.


Vom heiligen Tier zum Produktionsfaktor

In Indien gilt die Kuh als die Mutter des Lebens und alles, was von ihr stammt, als heilig. Auch in den Mythen Vorderasiens und Europas galt die Kuh als eine der sanftmütigsten, gütigsten und erhabensten Kreaturen. Schimpfwörter wie "du dumme Kuh" zeigen bereits, dass von der hohen Wertschätzung dieses Tieres im neueren Europa nicht viel übrig geblieben ist.

Im hochmodernen Kuhstall erfolgen die Fütterung, Tränkung, das Melken und die Güllebeseitigung automatisch. Der "Betriebsleiter", wie der Bauer heutzutage genannt wird, verbringt mehr Zeit vor dem Computer - zur Milchdatenanalyse, Futtermittelbestellung etc. - als bei den Tieren. Der räumlichen und damit auch emotionalen Entfremdung des Tierhalters von seinen Tieren entspricht das Unwissen der Konsumenten über die Herkunft der Produkte, die sie konsumieren. Um die 60 Cent für einen Liter Milch, kaum mehr als sie für Mineralwasser zahlen, ist vielen Verbrauchern schon zu viel.

In der industriellen Tierhaltung ist die Kuh nur noch ein Produktionsfaktor, der sich den Erfordernissen des Marktes anzupassen hat, und die Milch nur ein Rohstoff, der beliebig vermehrt und bis zur Unkenntlichkeit denaturiert im Supermarktregal liegt. In Zukunft könnte die Kuh durch gentechnische Manipulation auch noch zu einer Art "Bioreaktor" werden, d.h. die Milch hat, wenn sie aus dem Euter kommt, bereits die von der Industrie gewünschten Eigenschaften: Sie ist milchzuckerfrei, enthält geeignete Proteine für bestimmte Joghurt- oder Käsesorten, für Speiseeis etc.

Schöne neue Zukunft? Designer-Kühe für Designer-Produkte? Wegwerf-Kühe für eine Wegwerf-Gesellschaft? So wie wir mit den Tieren umgehen, so gehen wir mit uns selbst um. Es ist Zeit einiges zu ändern!


Das charakteristischste Merkmal des Hinduismus ist die Hochachtung, mit der die Kuh behandelt wird. Die Kuh zu beschützen, scheint mir eine der bewundernswertesten Äußerungen des menschlichen Fortschritts zu sein. Für mich ist die Kuh die Verkörperung der gesamten infrahumanen Welt; sie versetzt den Gläubigen in die Lage, seine Einheit mit allem Leben zu erfassen. Es ist in meinen Augen eine Wahrheit, die sich von selbst versteht, dass die Kuh die natürliche Wahl als Symbol dieser Einheit sein muss ... Die Kuh ist ein Gedicht der Nächstenliebe ... Sie zu beschützen, heißt alle stummen Geschöpfe Gottes zu beschützen.
(MAHATMA GANDHI)


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Quelle:
tierrechte - Nr. 44/Mai 2008, S. 4-6
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2008