Schattenblick →INFOPOOL →TIERE → TIERSCHUTZ

TIERHALTUNG/578: Muttersauen - von Nestbau und Verhaltensstau (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 04 / 2012
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Muttersauen - von Nestbau und Verhaltensstau

Von Stefan Johnigk



Was ist wichtiger für das Wohlergehen eines Tieres: Wie sein Stall gebaut ist oder wie es sich darin im Alltag leben lässt? Auf diese vermeintlich einfache Frage gibt es keine einfachen Antworten. Ob bei den Verhandlungen über neue Eckwerte zur Putenhaltung oder in der Diskussion um ein Ende des Schnabelkürzens bei Puten und Legehennen, ob beim Einsatz für mehr Weidegang bei Milchkühen oder den Bemühungen, den Schweinen ihren Ringelschwanz zu lassen: Tatsächlich muss PROVIEH in seiner Tierschutzarbeit immer wieder abwägen, an welchen Punkten sich die Lebensbedingungen für die Nutztiere am wirksamsten verbessern lassen. Es reicht nicht, den Tieren lediglich mehr Platz im Stall zu erstreiten, wenn sie in ihm ihre angeborenen Verhaltensweisen nicht angemessen ausleben können. Und ein Ende der heutzutage üblichen Verstümmelungen am Tier ist per Verordnung nicht zu erzwingen, solange die Tierhalter keine wirtschaftliche Perspektive sehen, verhaltensbedingte Verletzungen ihrer Tiere anders als bisher zu vermeiden. Die Kampagnenarbeit von PROVIEH beschränkt sich also nicht nur auf Forderungen, sondern ist auch praxisnah und kreativ. Seit nunmehr 39 Jahren gibt unser Verein Denkanstöße und zeigt neue Wege auf, Tierquälerei in der Nutztierhaltung zu bekämpfen. So auch in der Sauenhaltung.

Vögel bauen Nester, das lernen wir schon im Kindergarten. Dass aber auch Sauen Nester bauen, wenn man sie lässt, weiß kaum jemand. Wie stark der Nestbautrieb auch bei unseren Zuchtschweinen noch ausgeprägt ist, zeigt folgende Anekdote: Auf einem Bauernhof in Norddeutschland stallte ein Schweinebauer seine Jungsauen um. Sie sollten zum ersten Mal in ihrem Leben Ferkel gebären und wurden nacheinander aus ihrem Gruppenstall in die Abferkelbuchten geführt. Doch einer Sau schmeckte das offenbar nicht. Als sie das Tageslicht durch die offene Stalltür erblickte, schubste sie die Beine des Mannes zur Seite und sprintete los. Ehe der verdutzte Bauer sich versah, war die werdende Mutter im Schweinsgalopp auf und davon. Die ganze Hofgemeinschaft machte sich fieberhaft auf die Suche. Doch auch mit Hilfe von Nachbarn und Freunden war das flüchtige Tier nicht wieder aufzustöbern. Es blieb verschwunden. Das war nicht nur ein herber Verlust für den kleinen Betrieb. Den Halter und seine Familie quälten auch Sorgen um das Wohlergehen der Jungsau und ihrer Ferkel.

Einige Tage später entdeckte eine Joggerin in einem nahe gelegenen Wäldchen einen frisch aufgeschütteten Haufen aus Laub, Ästen und Grasbüscheln. Wer lädt denn da seinen Kompost mitten im Wald ab? Neugierig nahm sie den kleinen Hügel näher in Augenschein. Darin raschelte etwas! Und an der Seite ragte eine steckdosenförmige Schnute heraus. Unverkennbar. Die Sportlerin verständigte den Schweinebauern. Als der mit seinen Helfern anrückte, um das verloren geglaubte Hausschwein auf den Hof zurück zu holen, bot sich ihnen ein wahrhaft anrührendes Bild. Die freiheitsliebende Jungsau hatte ihren Ausflug genutzt, um das zu tun, was allen werdenden Schweinemüttern angeboren ist: Sie hatte eine Mulde im Waldboden gescharrt, mit Grasbüscheln und Laub ausgepolstert und alles mit einem Haufen aus Blattwerk und Ästen überdacht. Dann vergrub sie sich in ihrem frisch gebauten Nest, bis nur noch der Rüssel zu sehen war, und brachte ihre Jungen zur Welt. Als die Helfer den Hügel abtrugen - sehr zum Unwillen der Sau - fanden sie zehn kerngesunde, wohlgesäugte Ferkelchen. Der Bauer freute sich.

Fatal wäre es für die Ferkel gewesen, wenn sie draußen im Wald ohne den Schutz eines Nestes zur Welt gekommen wären. Ferkel lieben und brauchen Wärme, ohne sie gehen sie schnell zu Grunde.

Übertragen auf den Stall heißt das: Ein abgeteiltes "Ferkelnest" mit Heizung und Schutz vor Zugluft muss zur Standardeinrichtung eines jeden Sauenstalls gehören. Doch im Stall baut nicht die Sau, sondern der Bauer das Nest. Das klingt bequem für die Schweinemütter, ist für sie aber eine wahre Qual. Denn eine Sau kann nur gut gebären, wenn sie vorher selbst ein Nest für ihre Jungen gebaut hat. Andernfalls wehrt sich ihr Mutterinstinkt gegen die Geburt. Sie versucht nach Kräften, den Zeitpunkt der Geburt möglichst weit hinauszuzögern - sehr zum Schaden der Ferkel. Sie werden schließlich doch geboren, aber die Sau bleibt innerlich zutiefst aufgewühlt und unruhig. Das ist ein hohes Risiko für die Ferkel, denn sie laufen verstärkt Gefahr, von ihrer Mutter versehentlich erdrückt zu werden. Um diese Verluste zu vermeiden, werden Schweinemütter in den allermeisten Betrieben in sogenannte "Ferkelschutzkörbe" eingesperrt, das sind käfigartige Gestelle in der Abferkelungsbucht. Aus dem Verhaltensstau entsteht also weiteres Leid für die Muttertiere: Sie können sich im "Ferkelschutzkorb" fast nicht mehr frei bewegen und werden zudem daran gehindert, ihre Ferkel zu bemuttern.

In einer streng wirtschaftlich orientierten Schweinehaltung ist es fast unbezahlbar, jede Sau ein naturnahes Nest bauen zu lassen. Das gelingt selbst in vorbildlichen Bio- und Neuland-Betrieben kaum. Doch in neun von zehn konventionellen Betrieben bekommen die eingesperrten Sauen nicht einmal genug Material, um ihren Nestbautrieb ansatzweise ausleben zu können. Das muss sich ändern, findet PROVIEH, und begab sich auf die Suche nach Lösungen. Besuche in der Schweiz, wo das "freie Abferkeln" mittlerweile zum Schweinealltag gehört, Gespräche mit erfahrenen Sauenhaltern und das Studium wissenschaftlicher Arbeiten aus Europa haben unser Fachteam überzeugt: Jeder konventionelle Ferkelzüchter kann schon mit wenig Aufwand seinen Sauen helfen, dass sie ihre Ferkel mit deutlich weniger Leidensdruck als bisher auf die Welt bringen.

Dafür sind keine teuren Investitionen oder aufwändigen Umrüstungen der Stalltechnik notwendig. Schon ein ausreichend großes Stück Jutematerial kann Wunder wirken. Die werdende Schweinemutter kann in das Material reinbeißen und daran zerren, es schieben und ziehen, falten, schütteln und zu einem Haufen formen, bis sie ihren Nestbautrieb gestillt hat und zufrieden ist.

Wie wirksam diese einfache Methode ist, zeigen Untersuchungen aus den Niederlanden: Die Dauer der Geburt verkürzte sich um ein Drittel, die Sauen waren messbar ruhiger und entspannter, und sie erdrückten im Vergleich zu ihren Artgenossinnen, die unter Verhaltensstau litten, deutlich weniger Ferkel. Auch für die Kleinen erwies sich das Nestbaumaterial als Bereicherung. Befestigte der Halter das von der Sau intensiv bearbeitete Stück Jutestoff unter der Wärmelampe im "Ferkelnest", kuschelten sich die Neugeborenen aus eigenem Antrieb da gern hinein, und das schon gleich nach dem Stillen ihres ersten Durstes. Vielleicht, weil das Nest so gut "nach Mama riecht". PROVIEH will nun auf Grundlage dieser Erkenntnisse ein "Nestbau-Set" entwickeln und es durch Schweinespezialisten und Wissenschaftler an Lehr- und Versuchsanstalten auf Verhaltensgerechtigkeit und Wirksamkeit prüfen lassen.

Zwischen dem Nestbau einer Sau draußen im Wald und dem Austoben der angeborenen Triebe mit einem Stück Jutestoff liegen Welten. Und ein vollgesabberter Jutestoff würde wohl von kaum einem Menschen als "Schweinenest" angesehen werden. Doch für die Tiere der Nutztierhaltung zählen eben nicht das Aussehen oder die Maße ihres Stalles, sondern vor allem nur eines: Wie lässt es sich alltäglich im Stall leben. Und dabei machen manchmal schon kleine Dinge einen großen Unterschied.

*

Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 04/2012, Seite 34-37
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen
tierquälerische Massentierhaltung e.V.
Küterstraße 7-9, 24103 Kiel
Telefon: 0431/248 28-0
Telefax: 0431/248 28-29
E-Mail: info@provieh.de
Internet: www.provieh.de
 
PROVIEH erscheint viermal jährlich.
Schutzgebühr: 2 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2013