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TIERHALTUNG/609: Bauern, lasst den Kühen ihre Hörner, denn sie brauchen sie! (PROVIEH)


PROVIEH Ausgabe 04/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Bauern, lasst den Kühen ihre Hörner, denn sie brauchen sie!

von Volker Kwade



Milchviehbestände in Deutschland und Europa sind schleichend immer hornloser geworden, obwohl die Kälber mit intakten Hornanlagen zur Welt kommen. Nur vereinzelte Milchbauern haben noch behorntes Milchvieh. In der Landwirtschaft macht sich kaum noch jemand Gedanken, ob die schmerzhafte Zerstörung der Hornanlagen überhaupt nötig ist oder ob man sie vermeiden könnte, ohne dass dadurch die Unfallrisiken für Mensch und Tier steigen.


Gesetzliche Regelung

Nach § 5 (1) des Tierschutzgesetzes gilt: "An einem Wirbeltier darf ohne Betäubung ein mit Schmerzen verbundener Eingriff nicht vorgenommen werden." Doch in § 5 (2) werden die Ausnahmen aufgezählt. Zu ihnen zählt: "Eine Betäubung ist nicht erforderlich ... für das Enthornen oder das Verhindern des Hornwachstums bei unter sechs Wochen alten Rindern." In Nordrhein-Westfalen wird das Schicksal der Kälber schon gelindert: Ihnen muss seit Mai 2013 ein Schmerzmittel verabreicht werden, aber vor dem Eingriff darf weiterhin auf Sedation (Beruhigung, durch den Landwirt) und Betäubung (durch den Tierarzt) verzichtet werden.

Nur auf Bio-Betrieben ist es überregionale Vorschrift, dass der Tierarzt den Eingriff unter maximal möglicher Schmerzausschaltung vornimmt. Aber immer mehr konventionelle Landwirte folgen diesem Beispiel, denn sie sind in letzter Zeit sensibler geworden.


Praktische Durchführung der Enthornung mit
Schmerzausschaltung

Dem Kalb wird ein Sedativum (Beruhigungsmedikament) gespritzt. Am Hornansatz, wo der Nerv zur Hornanlage verläuft, wird zusätzlich ein Lokalanästhetikum (örtliche Betäubung) verabreicht. Erst wenn das Kalb liegt (schläft), drückt der Tierarzt den 500 °C heißen Brennstab fest auf die noch nicht sichtbaren Hornansätze oberhalb der Augen und zerstört sie auf diese Weise. Anschließend werden die schwarz verkohlten Stellen untersucht. Bluten sie nicht, so fand die Enthornung noch früh genug statt und mindert die Gefahr einer Infektion. Anschließend sollte eine Schmerzbehandlung mit sogenannten "nicht-steroidale Entzündungshemmern" (zum Beispiel Wirkstoff Meloxicam) durchgeführt werden.

Wie schmerzhaft es tatsächlich ist, Kälbern die Hornanlage zu zerstören, und ob nachträglicher Schmerz und Phantomschmerz auftreten, daran wird noch geforscht.


Bau und Funktion des Kuhhorns

Das Kuhhorn besteht aus lebenden und toten Anteilen. Zu den lebenden Anteilen gehört der innen liegende Knochenzapfen, der dem Stirnbein entspringt, und die Hornscheide (verdichtete Körperhaut), die dem Knochenzapfen aufliegt und für das Dickenwachstum des hornigen Anteils am Horn sorgt. Ist die Hornsubstanz ausgehärtet, ist sie tot und gefühllos wie unser Haar. Der Knochenzapfen wird stark durchblutet, sodass das Blut die Hornscheide mit Nährstoffen versorgt. Fließt das abgekühlte Blut aus dem Knochenzapfen zurück in den Körper, fließt es nahe am Gehirn vorbei und sorgt dort bei hohen Temperaturen für eine Abkühlung des arteriellen Bluts, das in einer benachbarten Ader zum Gehirn strömt. Bei Kälte kann dieser Kühleffekt vermieden werden, so dass das Gehirn nicht unterkühlen kann. Alle Stoffe, die das Blut vom Darmsystem aufnimmt und im Körper verteilt, können auch in die Adern des Knochenzapfens gelangen.

Bei Form und Größe der Rinderhörner wurde ein Zusammenhang mit der örtlichen Beschaffenheit von Klima und Energiegehalt der aufgenommenen Nahrung beobachtet. Rinder in sehr warmen Regionen mit karger Nahrungsgrundlage bilden mächtigere Hörner aus als rassegleiche Rinder in gemäßigten Zonen mit reichhaltiger Nahrungsgrundlage. Dieser Unterschied kann als Indiz gewertet werden, dass die Hörner eine stärkere Rolle für die Thermoregulation im Körper spielen als oft vermutet. In Demeterkreisen wird sogar diskutiert, ob die Hörner auch einen Einfluss auf die Verdauung und auf die Qualität der Milch haben. Diese Vermutungen bedürfen noch der Nachprüfung, denn auch die Futterqualität beeinflusst das Verdauungsgeschehen und damit die Qualität der Milch.


Hörner beeinflussen das Wesen und das Verhalten der Kuh

Auch für das soziale Leben spielen die Rinderhörner eine wichtige Rolle, und diese Rolle ist sicherlich noch wichtiger als die der Thermoregulation. Rinder sind Herdentiere und schaffen in dieser eine komplexe Sozialstruktur mit ausgeprägter Rangordnung. Hierbei spielen die Hörner eine wichtige Rolle, denn behornte Kühe senden viel klarere Signale aus als Unbehornte. Daher kann in einer behornten Herde die Herdenordnung viel wirksamer hergestellt und anschließend beibehalten werden als in einer unbehornten Herde. Mit den Hörnern können die Rinder auch den Individualabstand zu den Nachbarn regeln, dafür genügen oft unscheinbare Kopfbewegungen oder ein leichtes Berühren mit der Hornspitze. Beobachtungen haben gezeigt, dass Rinder ihre Hörner sensibel und bewusst einsetzen. Kommt es bei Rangkämpfen zum Kopfdrücken, können die Hörner ein gefährliches Abrutschen verhindern. Rinder können sich natürlich mit ihren Hörnern auch gegenseitig verletzen, aber mehr als Ratscher sind kaum zu erwarten, während Kämpfe bei enthornten Rindern vor allem zu inneren Verletzungen wie Quetschungen führen können. Schließlich werden die Hörner auch zur Fellpflege im Rückenbereich eingesetzt.

Als Alternative zur Zerstörung der Hornanlagen wird zurzeit viel Energie in die Zucht genetisch hornloser Rinderrassen gesteckt. Genetisch hornlos ist zum Beispiel das Galloway Rind, eine alte schottische Rasse, die bei uns oft zur Pflege von Schutzgebieten eingesetzt wird. Aber ob genetisch hornlose Milchviehrassen gezüchtet werden können, deren Milchertrag dem der heutigen Milchkühe entspricht, ist noch zweifelhaft. Ergiebiger könnten Forschungen sein, ob Stressvermeidung unter behornten Milchrindern nicht die bessere Möglichkeit zur Vermeidung von Unfällen sein könnte. Diese Rinder müssten im Stall jedoch mehr Platz haben als die enthornten Kolleginnen.

Zum Verletzungsaspekt der Landwirte kann ich aus eigener Erfahrung Folgendes hinzufügen: Ist der Stall den Bedürfnissen behornter Kühe angepasst, sodass behornte Kühe im Stall genug Platz zum Ausweichen haben, und hat der Landwirt einen auf Respekt und Vertrauen aufbauenden umsichtigen Umgang mit seinem Milchvieh, so ist die Verletzungsgefahr nicht größer als in Ställen mit hornlosen Kühen.

Zum Schluss bleibt noch die Frage: Dürfen wir die Nutztiere einfach nach unseren Bedürfnissen zurechtstutzen, oder sollten wir nicht lieber den Stall, das Futter, und unser Verhalten an die Verhaltensweisen der Kuh anpassen? Die zweite Möglichkeit ist natürlich teurer als die erste. Aber wir Landwirte, wir Verbraucher und wir Verarbeiter und Verkäufer von Milch und Milchprodukten können viel für eine wesens-und artgemäßere Haltung der Milchkühe tun, wenn der Mehraufwand an Arbeit auch angemessen preislich entlohnt wird. Ist es nicht an der Zeit, nun endlich auch den Milchkühen unseren Respekt entgegen zu bringen?

Eine gesunde und leistungsfähige Kuh besitzt häufig kräftige, gut ausgebildete Hörner, und ein Landwirt, der seine Kuh liebt, ist stolz auf sie. Ich jedenfalls freue mich jeden Morgen aufs Neue auf meine Limpurger Kühe mit ihrem prachtvollem Kopfschmuck.


INFOBOX

Absurd!?

Im Jahre 1988 klagten einige Demeter Bauern aus Schleswig-Holstein vor dem Sozialgericht in Lübeck gegen den Bescheid der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft, dass die Milchkühe zu enthornen seien. Als Grund wurden Sicherheitsaspekte angegeben. Erst nach der 2. Verhandlung in Schleswig wurde letztendlich den Demeter Bauern ihr Recht zugesprochen, und seitdem dürfen Demeter Milchkühe auch rechtlich ihre Hörner behalten.

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Quelle:
PROVIEH Ausgabe 04/2013, Seite 16-19
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2014