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POLITIK/660: Zehn Jahre Tierschutz im Grundgesetz - und nichts begriffen? (tierrechte)


tierrechte Nr. 60, Juni 2012
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Zehn Jahre Tierschutz im Grundgesetz - und nichts begriffen?

Von Eisenhart von Loeper



Am 17. Mai 2002 beschloss der Deutsche Bundestag mit Zweidrittelmehrheit die Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz, die mit Zustimmung des Bundesrats am 1. August 2002 in Kraft trat. Damals gelang es dem Bundesverband Menschen für Tierrechte und einer großartigen Bürgerbewegung, schließlich auch die Konservativen zu überzeugen: Ein Meilenstein für die Rechtsentwicklung zugunsten der Tiere. Aber wie sieht die Bilanz zehn Jahre später aus?


Der neue Verfassungsauftrag, neben dem Umweltschutz auch "die Tiere" zu schützen, richtet sich an alle staatlichen Instanzen, also an die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und an die Rechtsprechung. Aber was nützen den Tieren Gesetze, wenn es für sie keine anerkannten Treuhänder gibt, die dem gesetzlich gewollten Tierschutz in der Praxis Geltung verschaffen können? Der Bundesgesetzgeber hätte daher als Erstes die Tierschutz-Verbandsklage einführen müssen, denn nur durch sie können Tierschutzverbände den in Not geratenen Tieren nachhaltig helfen. Zudem würde schon die Existenz des Klagerechts vorbeugend wirken und zum tierfreundlichen praktischen Einsatz der Amtstierärzte beitragen. Gerade für Verfassungsgüter ist ein wirksamer Rechtsschutz unabdingbar. Dass aber ausgerechnet beim Schutz der Schwächsten, der wehrlosen Tiere, mit Ausnahme einzelner Bundesländer, gegen dieses Prinzip verstoßen wird, ist unerträglich.

Das Staatsziel Tierschutz soll allerdings nicht nur den Schutz der Tiere verbessern, sondern auch Verschlechterungen der gesetzlichen Standards verhindern. Doch das Gegenteil ist der Fall: Vor zehn Jahren waren kleinräumige Hennenbatteriekäfige bereits verboten, weil das Bundesverfassungsgericht zuvor entschieden hatte, den Hennen müsse - wie auch allen anderen Tierarten - die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse ermöglicht und ihnen "Wohlbefinden im weit verstandenen Sinn" gewährt werden(1). Doch dann ließ Horst Seehofer (CSU) die tierquälerischen Kleingruppenkäfige wieder zu. Daraufhin musste ein zweites Mal das Bundesverfassungsgericht angerufen werden, diesmal vom Land Rheinland-Pfalz. Erneut hob das höchste deutsche Gericht, diesmal gestützt auf das Staatsziel Tierschutz, diese Regelung auf(2). Dennoch will Seehofers Nachfolgerin Ilse Aigner das Leiden der Hennen in den verfassungswidrigen Käfigen bis ins Jahr 2035 fortschreiben. Sie beweist damit eine schockierende Missachtung des Verfassungsguts Tierschutz.

Die Leitlinie für die Lösung von Konflikten mit anderen Verfassungsgütern muss, wie die Gerichte es nennen, eine "praktische Konkordanz" sein, das heißt ein möglichst schonender Ausgleich zwischen den Rechtsgütern. Wenn nun aber trotz tierversuchsfreier Alternativen und der gebotenen strengeren Prüfung ihrer Unerlässlichkeit und ethischen Vertretbarkeit Tierversuche wieder zunehmen, wird eben diese praktische Konkordanz mit Füßen getreten. Gleiches gilt für eine tierschutzgerechte Regulierung der Stadttaubenpopulation. Hier steht ein gerichtlicher Härtetest zur Verfassungsfrage an. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof wird demnächst über meinen Antrag entscheiden, ob die Stadt Nürnberg endlich die Aufstellung tierschutzgerechter Taubenhäuser ermöglichen muss, die zugleich die umliegenden Gebäude bewiesenermaßen vor Taubenkot schützt. Das Grundgesetz fordert einen derartigen Interessenausgleich, der sowohl den Kommunen wie dem Schutz der Tauben vor unnötigem Leid dient. Doch dass derartige Konflikte überhaupt, und nötigenfalls bis in die höchste Instanz ausgetragen werden müssen, zeigt, wie sehr wir noch daran zu arbeiten haben, bis das Verfassungsgut Tierschutz den Tieren tatsächlich zugutekommt.

Um dies zu erreichen ist zum einen die Einführung der Tierschutz-Verbandsklage dringend notwendig. Zugleich wird es darauf ankommen, den achtsamen Umgang mit Tieren als fühlende Mitlebewesen auf allen Ebenen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch mehr als bisher voranzubringen. Wie könnten wir sonst vor uns selbst bestehen?


(1) Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 06.07.1999, BVerfGE 101, S. 1,36 ff.
(2) Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12.10.2010, BVerfGE 127, S. 92-97

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Quelle:
tierrechte - Nr. 60/Juni 2012, S. 10
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
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Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2012