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POLITIK/781: Gutachten belegt - Deutschland unterschreitet EU-Tierschutz-Niveau (tierrechte)


tierrechte 2.16 - Nr. 75, Mai 2016
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Gutachten belegt: Deutschland unterschreitet EU-Tierschutz-Niveau


Wir erinnern uns: Die neue EU-Tierversuchsrichtlinie wurde 2010 beschlossen und 2013 per Tierschutzgesetz sowie erstmals in einer Tierschutz-Versuchstierverordnung in deutsches Recht umgesetzt. Ein Gutachten belegt nun 18 Verstöße gegen die EU-Richtlinie - zu Lasten der Tiere.


Schon 2012 war klar, dass die Umsetzungsentwürfe der Bundesregierung gravierende Fehler enthielten. Einerseits, weil sie das Tierschutzniveau der Richtlinie unterschritten und andererseits, weil sie die Rechtsvorgaben des Tierschutzgesetzes zurückschraubten. Dies bestätigte schon damals ein Rechtsgutachten, das wir gemeinsam mit fünf weiteren Organisationen in Auftrag gegeben hatten. Die EU-Kommission prüft derzeit noch eine Beschwerde aus 2014, die die nicht korrekte Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie in deutsches Recht bemängelt. Im März 2016 hat Nicole Maisch, Sprecherin für Tierschutzpolitik der Grünen Bundestagsfraktion, ein weiteres Gutachten zu den Verstößen des deutschen Tierschutzgesetzes gegen die EU-Richtlinie vorgelegt. Gutachter ist Dr. Christoph Maisack. Danach bleibt Deutschland in mindestens 18 Punkten hinter der Richtlinie zurück und nutzt den Spielraum für mehr Tierschutz nicht aus.


Anzeige statt Genehmigungen

So dürfen entgegen dem EU-Tierversuchsrecht die deutschen Behörden keine eigenständige Schaden-Nutzen-Analyse durchführen. Tierversuche zur Aus-, Fort- und Weiterbildung können laut Richtlinie zwar einem vereinfachten Prüfverfahren unterzogen werden, aber keinesfalls einem Anzeigeverfahren. Trotzdem stuft Deutschland diese Versuche als anzeigepflichtig ein - mit schweren Konsequenzen: Die Behörde hat lediglich 20 statt 40 Tage zur Sichtung des Antrags Zeit. Am Tag 21 darf der Anzeigende mit dem Versuch beginnen, ohne die Rückmeldung der Behörde abzuwarten. Die Tierversuchskommissionen erhalten die Anträge nicht zur Bewertung. Die im EU-Recht vorgesehenen Sammelgenehmigungen für gleichartige Versuche, die von demselben Durchführenden zu regulatorischen Zwecken beantragt werden, werden als Sammelanzeigen zurückgestuft. Auch hier gilt - ebenso wie bei Versuchen zur Ausbildung - die Genehmigungsfiktion ab dem 21. Tag nach der Anzeige.


Weitere Tierschutzabsenkungen

Der Hinweis, dass behördliche Kontrollen auch ohne Vorankündigungen zu erfolgen haben, fehlt in Deutschland. Auch vereinfachte Verfahren können einer rückblickenden Bewertung unterzogen werden, sagt die EU-Richtlinie. Das deutsche Recht sieht das nicht vor. Schwerbelastende Tierversuche sind nach EU-Recht nur ausnahmsweise und vorläufig zuzulassen, in Deutschland werden diese Einschränkungen nicht genannt. Die EU verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Entwicklung und Validierung von tierversuchsfreien Verfahren. Diese Verpflichtung fehlt in Deutschland. Darüber hinaus sieht die Richtlinie vor, eine absolute Obergrenze für Schmerzen und Leiden einzuführen und die Versuche an Primaten einzuschränken. Eine weitere Tierschutzchance, die Deutschland ungenutzt ließ! Anlässlich des Internationalen Tages zur Abschaffung der Tierversuche am 24. April forderten die Grünen im Rahmen eines Offenen Briefes, den auch unser Bundesverband unterzeichnete, eine schnelle Änderung des Tierschutzgesetzes, um die gravierenden Missstände zu beheben.


Fazit und Ausblick

Zusammenfassend bleibt zu sagen: Das Rechtsgutachten untermauert auf 125 Din A4 Seiten, dass Deutschland die Bestimmungen der EU-Richtlinie überhaupt nicht oder nur unzureichend in deutsches Recht umgesetzt hat - zum Schaden der Tiere! Für einen Rechtsstaat, der seit 2002 den Tierschutz zum Staatsziel erhoben hat, ist das ein sehr schweres Vergehen. Die Rechtsvorgaben der EU-Tierversuchsrichtlinie müssen so in deutsches Recht umgesetzt werden, dass das höchstmögliche Tierschutzniveau, das die EU-Richtlinie zulässt, verwirklicht wird. Spätestens zur nächsten Bundestagswahl ist die Wählbarkeit der Parteien daran zu messen, wie glaubwürdig sie die Novellierung des Tierschutzgesetzes durchsetzen wollen. Dennoch, die Schmerzen und Leiden der Tiere, die aufgrund der schlampigen Umsetzung der Richtlinie im Experiment gelandet sind, können durch nichts wieder gut gemacht werden.


Internationaler Tag zur Abschaffung der Tierversuche

Anlässlich des Internationalen Tages zur Abschaffung der Tierversuche am 24. April forderte der Bundesverband menschliche Krankheitsmodelle statt leidvolle Tierversuche. Dazu stellte er zwei herausragende tierversuchsfreie Technologien in den Mittelpunkt, die das Potenzial haben, Tierversuche drastisch zu reduzieren: Dies waren humanspezifische "Krankheitsmodelle in der Petrischale" und die sogenannte "Human-on-a-Chip" Technologie. Die klare Botschaft an die Bundesregierung war: Wir brauchen mehr Gelder für Validierungsverfahren und den politischen Durchsetzungswillen zur Aufnahme der neuen Verfahren in die Prüfvorschriften. Im Hinblick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen in 2017 wies der Verband zudem darauf hin, dass die Regierung noch immer über keinerlei Masterplan verfüge, um die europäischen Vorgaben zur Beendung der Tierversuche zu erfüllen.

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Quelle:
tierrechte 2.16 - Nr. 75/Mai 2016, S. 15
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2016

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