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TIERVERSUCH/726: Sichtbare Erfolge (tierrechte)


Magazin tierrechte - Ausgabe 1/2017
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Sichtbare Erfolge

von Dr. Christiane Hohensee und Christina Ledermann


Auch wenn der Fortschritt aus Sicht der Tiere quälend langsam voranschreitet - aus wissenschaftlicher Sicht sind in den letzten zehn Jahren auf dem Gebiet der tierversuchsfreien Verfahren revolutionäre Entwicklungen in Gang gekommen - auch im Bereich der Tierversuche an Ratten.


Deutschland hat sich in der EU-Tierversuchsrichtlinie - wie alle anderen Mitgliedsstaaten - dazu bekannt, Tierversuche für wissenschaftliche- und Bildungszwecke vollständig zu ersetzen, sobald dies wissenschaftlich möglich ist. Außerdem haben sich alle EU-Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, die Weiterentwicklung alternativer Ansätze zu erleichtern und zu fördern. Dies ist jetzt sieben Jahre her. Die Zahl der in Tierversuchen eingesetzten Tieren ist aber mit rund 2,8 Millionen immer noch (fast) unverändert hoch. Das Problem: In Deutschland stehen nicht alle Wissenschaftler zu diesen Vereinbarungen. Sie "kleben" an der tierexperimentellen Forschung.

Ansätze für die Abschaffung spezieller Giftigkeitstests

Doch es gibt auch Signale dafür, dass es eine Bereitschaft zur Abschaffung beziehungsweise zur Reduzierung von Tierversuchen gibt. Auf Ebene der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) laufen derzeit mehrere Initiativen, um die Zahl der verwendeten Tiere im Bereich der Giftigkeitstests zu reduzieren. Zwei Forschergruppen haben 2016 festgestellt, dass der Giftigkeitstest über 28 Tage für gering-toxische Substanzen genug Aussagekraft hat. Deswegen können die Tierversuche zur Bestimmung der akuten und subchronischen Toxizität über 90 Tage wegfallen. Diese Erkenntnis muss nun zügig zur tatsächlichen Abschaffung dieser leidvollen Tests beitragen. Ein weiterer Einsparvorschlag kommt aus den USA und Canada: auch die sogenannten "Six-Pack"-Test (*) im Bereich der akuten Toxikologie sind in bestimmten Fällen gegenstandslos und können mit tierversuchsfreien Methoden durchgeführt werden.

Behörden reduzieren Tierversuche

Außerdem stellten sich viele Tests bei genauerem Hinsehen als verzichtbar heraus, weil der Mensch mit bestimmten Substanzen praktisch gar nicht in Kontakt kommt. So erübrigt sich beispielsweise die Giftigkeitsprüfung für die Aufnahme über den Mund, wenn der zu testende Stoff aufgrund seiner Konsistenz gar nicht oral aufgenommen werden kann. Ebenso verhält es sich mit Augenätzungs- oder Augenreizungstests und Hautsensibilisierungsprüfungen. Für diese sollen stattdessen abgestufte tierversuchsfreie Verfahren eingesetzt werden. Die Vorschläge beziehen sich zunächst zwar nur auf die Testung von Pestiziden, die Prinzipien können - und müssen - aber auch auf andere Chemikalien, Formulierungen und Materialien übertragen werden. Die europäische Validierungsbehörde (EURL ECAM) hat sich zudem für die Abschaffung einer Testrichtlinie ausgesprochen, die Schäden am Erbgut vorhersagen soll. Die benötigten Daten können auch aus anderen Tests bezogen werden.

Fehlen: Verfahren bei Langzeitgiftigkeit

Anders sieht es bei den Tests aus, die zeigen sollen, ob ein Stoff über längere Zeit giftig wirkt oder ob er sich schädlich auf die Nachkommen auswirkt. Im Bereich der regulatorischen, also gesetzlich vorgeschriebenen, Tests zur Langzeittoxizität und zur Reproduktionstoxizität gibt es noch keine anerkannten tierversuchsfreien Verfahren. Das Kernproblem bei der Entwicklung geeigneter tierfreier Testmethoden ist es, die komplexen Vorgänge und Wechselwirkungen im Körper nachzubilden. Zwar wurden schon zahlreiche in-vitro-Verfahren entwickelt. Doch nach Ansicht der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) reichen diese nicht aus, um umfassende Aussagen zur Wirkung der Substanzen beispielsweise bei der Verstoffwechslung zu machen. Vorhersagen zu Aufnahme, Verteilung, Stoffwechsel und Ausscheidung von Substanzen können jedoch schon jetzt mit Kombinationen aus mathematischen Modellen und in-vitro-Verfahren gemacht werden.

Entscheidend: Eine konsequente Förderung

Erfreulich ist, dass das europäische Förderprojekt "EU-ToxRisk" die Ergebnisse der Vorgängerprojekte "ReproTect" und "Seurat" aufgreift. Das Ziel ist, Machbarkeitsstudien und Umsetzungsmöglichkeiten jenseits des Tierversuchs zu erarbeiten. Dies wird die Entwicklung von tierfreien Verfahren auch in den Bereichen Langzeitstudien, Reproduktionstoxikologie und Inhalationstoxikologie entscheidend voranbringen. Und sind die Verfahren erst einmal entwickelt, können sie oft auch in Forschungsbereichen jenseits der Toxikologie dazu beitragen, Tierversuche abzulösen. Dies zeigt einmal mehr: Entscheidend für die Entwicklung leistungsfähiger tierversuchsfreier Verfahren ist und bleibt, dass in diesen Bereichen konsequent investiert wird.

Hoffnungen liegen auf Multi-Organ-Systemen

Die größten Hoffnungen liegen berechtigterweise auf den Multi-Organ-Systemen, bei denen die wichtigsten Organe des Menschen auf einem Mikrochip nachgebildet werden. Die Industrie testet bereits den 4-Organ-Chip, bestehend aus Haut, Darm, Niere und Leber. Zwar lassen sich mit der Chiptechnologie die Auswirkungen auf die Nachkommen nicht direkt simulieren, wohl aber künftig die Auswirkung auf die Fortpflanzungsorgane und die Entwicklung von Organen. Deswegen wird der 4-Organ-Chip bereits als Krankheitsmodell genutzt. Das Berliner Unternehmen TissUse arbeitet derzeit schon an einem 10-Organ-Chip, der auch das Hormon- und Immunsystem nachbilden wird. Die Validierungsstudie soll schon 2018 beginnen. Diese Organsysteme wären dazu geeignet, die noch bestehenden Lücken der vorhandenen Verfahren in Langzeitgiftigkeitstests zu schließen. Perspektivisch wird es auch möglich sein, den Organismus eines alten Menschen, der an mehreren Erkrankungen leidet, auf dem Chip zu simulieren. Bisher werden in diesem Bereich in präklinischen Versuchen noch gesunde junge Ratten eingesetzt.

Hautzellen testen Schädlichkeit für Nachkommen

An einem Testverfahren, das die Auswirkungen von Substanzen auf das sich entwickelnde Gehirn im Frühstadium des Fötus im Mutterleib tierversuchsfrei feststellen kann, wird derzeit am Leibniz Institut für umweltmedizinische Forschung (IUF) an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf geforscht. Das neue Verfahren, das mit verschiedenen Nervenzelltypen aus Nervenvorläuferzellen arbeitet, soll zukünftig in Kombination mit anderen Tests Tierversuche mit unzähligen Ratten beenden.

Miniorgane können Tierversuche ersetzen

Ein weiterer vielversprechender Ansatz auf Basis von Einzelorganen sind die sogenannten Organoide. Dies sind kugelige Gebilde, die alle Zelltypen besitzen, die auch im Originalorgan des Menschen vorhanden sind, beispielsweise Minilebern. Doch diese Modelle sind für Langzeitgiftigkeitstests noch nicht ausreichend entwickelt. Besser sieht es im Bereich der Inhalationstoxizität aus, die die schädliche Wirkung von eingeatmeten Substanzen erforscht. Wissenschaftlern von der Harvard-Universität in Boston ist es gelungen, eine "Mikrolunge auf dem Chip" zu entwickeln. Das Chipmodell arbeitet mit menschlichen Bronchialzellen und stellt sogar die Flimmerhärchen und den Schleim in den Bronchien nach. Dieses Modell könnte vielleicht bald die leidvollen Tierversuche in diesem Bereich ersetzen.

Hühnerei statt Ratte

Bisher wird eine Substanz an lebenden Tieren getestet, wenn Tests an Bakterien (Ames-Test, OECD 471) oder an Säugetierzellen (OECD 476) ergeben haben, dass der Stoff das Erbgut verändert. Die europäische Validierungsbehörde hat vor Kurzem einen Hühnerei-Mikrokern-Test (HET-NM) validiert und schlägt vor, ihn in eine Teststrategie mitaufzunehmen. Statt an der Ratte oder der Maus soll dann am Ei überprüft werden, ob eine Substanz gefährlich für das Erbgut ist.

Krankheitsmodelle in der Petrischale

Auch bei der Erforschung der Wirksamkeit von Arzneimitteln werden zunehmend Krankheitsmodelle in der Petrischale verwendet. Heute ist es beispielsweise möglich, aus einer Hautzelle eines Patienten ein völlig anderes Organgewebe herzustellen und damit in-vitro-Untersuchungen durchzuführen. So wie die sogenannte CRISPR/Cas9-Technik genutzt wird, um transgene Tiere herzustellen, lässt sich diese Technik auch nutzen, um damit aus Stammzellen krankes Gewebe in der Petrischale oder auf dem Mikrochip zu produzieren. Beispiele sind die Erforschung der Schizophrenie mittels eines Gehirn-on-a-Chip-Modells, in-vitro-Studien zur nicht-alkoholischen Fettleber oder in-vitro-Lungenkrebsstudien.

Die Abkehr vom Tierversuch hat begonnen

Auch wenn die tierversuchsfreien Methoden ihr gesamtes Potenzial noch nicht zeigen konnten, die Abkehr vom Tierversuch hat - wissenschaftlich wie politisch - begonnen. Ein unschätzbarer Vorteil ist, dass auch die Industrie aus ökonomischen Gründen ein großes Interesse an humanspezifischen Verfahren hat. Große Erfolge gibt es unter anderem im Bereich der Stammzellforschung, der Chiptechnologie und der bildgebenden Verfahren. Diese werden zu einer Beschleunigung der Entwicklung im Sinne der Tiere beitragen.


(*) Die sogenannten "Six-Pack"-Tests umfassen Inhalationstoxikologie, orale Toxikologie, Hautätzung, Hautreizung, Hautsensibilisierung und Augenätzung.

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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 1/2017, S. 10-11
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2017

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