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GEFAHR/010: Brandsatz Fukushima - ausgeblendet ... (SB)


Der "Knochenbrecher" zieht übers Land

Gefährliche Sekundärfolgen - Bei Räumungsarbeiten am Akw Fukushima Daiichi wurde radioaktiver Staub aufgewirbelt und vom Wind in bislang wenig kontaminierte Regionen Japans getragen

Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Die Titel wissenschaftlicher Abhandlungen sind meist so nüchtern gehalten, daß sich auf den ersten Blick nicht erschließt, was sie verbergen. Das gilt beispielsweise für die Studie, die eine Arbeitsgruppe um den österreichischen Forscher Georg Steinhauser jetzt im Fachjournal "Environmental Science & Technology" der American Chemical Society veröffentlicht hat und überschrieben ist mit "Post-accident sporadic releases of airborne radionuclides from the Fukushima Daiichi nuclear power plant site" (Sporadische Freisetzung radioaktiver Staubteilchen vom Gelände des Kernreaktors Fukushima Daiichi nach dem Unfall). [1]

Durch den schweren Reaktorunfall des Akw Fukushima Daiichi, das am 11. März 2011 von einem Erdbeben erschüttert und anschließend einer vierzehn Meter hohen Flutwelle getroffen wurde, ging in weiten Teilen Japans radioaktiver Fallout nieder. Die Stadt Minamisoma blieb zunächst weitgehend verschont, obgleich sie keine 20 Kilometer von dem havarierten Akw entfernt und damit innerhalb der von der Regierung festgelegten Evakuierungszone liegt. Doch zweieinhalb Jahre später, im August 2013, registrierte eine Monitoringstation in Minamisoma plötzlich einen 30fachen Anstieg an Cäsium-137. Und nicht nur das. Nachdem die Forscher ihre Modellrechnungen mit den registrierten Windverhältnissen sowie der für den Fukushima-Fallout typischen Radionuklid-Zusammensetzung abgeglichen hatten, führten sie Vor-Ort-Untersuchungen durch, bei denen sie abgesehen von sehr hohen Cäsium-137-Werten auch Strontium-90 nachwiesen.

Strontium-90, das schwerflüchtig ist und deshalb meist nur in der Nähe von Strahlenquellen entdeckt wird, wird als "Knochenbrecher" bezeichnet. Denn wenn das Radionuklid inkorporiert wird, lagert es sich vorzugsweise im Knochengewebe an und kann Osteoporose auslösen.

Den Ermittlungen der Forscher zufolge hatte die Akw-Betreibergesellschaft TEPCO am 19. August 2013 auf dem Gelände des Akw Fukushima Daiichi Baggerarbeiten durchgeführt und dabei in Kauf genommen, daß erstens größere Mengen radioaktiven Staubs aufgewirbelt wurden - man hätte mit Hilfe von Abdeckplanen, Wasser oder Bindemitteln die Staubentwicklung erheblich reduzieren können - und zweitens ein kräftiger Wind wehte, der den Staub weit über die Grenzen des Betriebsgeländes hinausgetragen hat.

Während der Süden und Westen Minamisomas innerhalb der dauerhaften Sperrzone lag, war zu dem Zeitpunkt das Zentrum schon freigegeben worden. Dessen Bewohner wähnten sich in Sicherheit und waren diesen Sekundärfolgen nahezu schutzlos ausgeliefert.

Knapp ein Jahr nach dem dreifachen Fukushima-GAU (und damit 17 Monate vor dem durch Baggerarbeiten ausgelösten radioaktiven Staubvorfall) veröffentlichte die "Südwest Presse" einen Stimmungsbericht aus Minamisoma, an dem im nachhinein der eklatante Widerspruch zwischen dem Versuch der Bevölkerung, Normalität einkehren zu lassen, und der Mißachtung des Rechts auf gesundheitliche Unversehrtheit der Menschen durch den Konzern abgelesen werden kann. Polizisten bewachten die Sperrzone:

"Doch ein Jahr, nachdem der Atomunfall in Japan die Welt in Schrecken versetzt hat, herrscht hier reger Verkehr. '300 bis 400 Autos passieren unseren Posten täglich', erzählt ein Polizist. Arbeiter fahren in die Sperrzone, um aufzuräumen. 'Aber auch immer mehr Bewohner der Sperrzone sind darunter, die kurz die verlassenen Häuser oder Gräber ihrer Familien besuchen', sagt der Polizist. Schutzkleidung oder Atemmasken trägt niemand. 'Inzwischen wissen alle, wo es gefährlich ist und welches Risiko sie eingehen.'

Auch in Minami-Soma ist das Leben zurückgekehrt. In Sichtweite des Checkpoints trocknen Bewohner Wäsche auf den Balkonen. Rosa Fahnen eines Gebrauchtwagenhändlers knattern im Wind. Auf einem Platz sechs Kilometer nördlich trainieren Mittelschüler für die Baseballsaison. 'Wir können sie nicht aus Angst vor Strahlung für immer im Haus festhalten, dann ersticken sie ja', sagt ihr Coach.

Minami-Soma ist eine Art Testlabor für eine neue Normalität - für das Leben mit der Strahlung." [2]

Zu dem Zeitpunkt konnte der Autor nicht wissen, wie sehr er mit dem Begriff "Testlabor" ins Schwarze getroffen hat. Der japanische Polizist indes irrte mit seiner Behauptung, daß inzwischen alle Einwohner wüßten, an welchen Stellen es gefährlich ist, denn er hatte nicht bedacht, daß von dem Akw Fukushima Daiichi weiterhin eine akute Gefahr ausgeht und daß einmal als unbelastet freigegebene Flächen im nächsten Moment schon radioaktiv kontaminiert sein können. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

"Unsere Berechnungen zeigen, dass infolge dieser Erdarbeiten im August 2013 beinahe 300 Gigabecquerel an Cäsium-137 freigesetzt wurden", sagte Steinhauser, der eine Professur für Radioökologie und Strahlenschutz an der Technischen Universität Hannover innehat, laut der österreichischen Zeitung "Der Standard". [3]

Auch wenn das "nur" 1/50.000stel dessen ist, was an Radioaktivität durch Fukushima freigesetzt wurde, sei das noch eine atemberaubende Menge, wird Steinhauser zitiert. Der Forscher hatte schon kurz nach dem Unfall Japan besucht und Untersuchungen zum Fukushima-Unfall durchgeführt. Bauern aus der Gegend von Minamisoma hatten ihm berichtet, daß ihre Reisfelder nach dem Unfall im Jahr 2011 kaum Strahlung ausgesetzt waren, aber daß durch die Kontamination im August 2013 der zulässige Grenzwert für den weiteren Anbau von Reis stellenweise überschritten wurde.

Ergänzend zu der Studie seien hier einige Fragen aufgeworfen: Wenn in etlichen Kilometern Entfernung bereits gefährlich hohe Strahlenwerte gemessen werden, wie hoch müssen sie dann erst für die Bauarbeiter auf dem Gelände selbst gewesen sein? Wieviel Staub haben sie eingeatmet? Was wurde aus den Arbeitern? Findet überhaupt irgendeine medizinische Nachsorge statt, um drohende Krankheiten wie Knochenkrebs frühzeitig zu erkennen?

In den viereinhalb Jahren seit Beginn der Fukushima-Havarie summieren sich die hier beispielhaft an den Räumarbeiten vom August 2013 aufgezeigten, unter Umständen schwerwiegenden Sekundärkontaminationen. Trotz mancher Schutzmaßnahmen trägt der Wind weiterhin radioaktive Partikel vom Akw-Gelände fort, mal in Richtung Land, mal aufs Meer hinaus. Kontaminiertes Meerwasser, das beispielsweise mit der Gischt an den Strand oder die Felsen der Küste geworfen wird und dann dort verdunstet, läßt Strahlenpartikel zurück, die ebenfalls mit dem Wind aufgenommen und davongetragen werden können. Regenwasser sammelt sich auf Dächern von Gebäuden auf dem Akw-Gelände, wird dort radioaktiv belastet und gelangt unkontrolliert in die Umwelt, von wo die Strahlenpartikel unter Umständen in zuvor freigemessene Gebiete transportiert werden.

Die potentiellen Strahlenquellen nehmen nicht mit der Zeit ab, sondern zu. Auch wenn die Menschen wieder nach Minamisoma und in andere Städte innerhalb der Evakuierungszone zurückkehren, gibt es keine Gewißheit, daß die Gebiete unbedenklich sind oder daß sie es dauerhaft bleiben werden. Man kann dort und in anderen Landesteilen Japans mit einem Bein auf einer strahlungsfreien Fläche stehen und mit dem anderen inmitten eines radioaktiven Hotspots.


Fußnoten:

[1] Georg Steinhauser, Tamon Niisoe, Kouji H Harada, Katsumi Shozugawa, Stephanie Schneider, Hans Arno Synal, Clemens Walther, Marcus Christl, Kenji Nanba, Hirohiko Ishikawa, and Akio Koizumi Environ. Sci. Technol., DOI: 10.1021/acs.est.5b03155 Online veröffentlicht am 8. Oktober 2015.
http://pubs.acs.org/doi/pdfplus/10.1021/acs.est.5b03155

[2] http://www.swp.de/ulm/nachrichten/politik/Rueckkehr-an-die-Sperrzone;art4306,1360447

[3] http://derstandard.at/2000024826143/Radioaktiver-Staub-verseuchte-Fukushimas-Umgebung

4. November 2015


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