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DEBATTE/035: Sumak Kawsay - Oder wie Leben auch jenseits von Wachstum möglich sein kann (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 167 - April/Mai 2012
Die Berliner Umweltzeitung

ALTERNATIVEN
Sumak Kawsay
Oder wie Leben auch jenseits von Wachstum möglich sein kann

von Johanna Thiel



Es heißt Vivir bien oder Buen Vivir auf Spanisch, bem viver auf Portugiesisch oder Gutes Leben im Deutschen. Sumak Kawsay wiederum nennt man es in der indigenen Kichwa-Sprache. Letzteres heißt so viel wie "auskömmliches Zusammenleben". Damit beschreibt es in zwei Worten die Weltanschauung der gleichzeitig so vielfältigen, indigenen Völker des Andenraums am genauesten. Besondere Aufmerksamkeit erlangt diese Lebensphilosophie auch außerhalb der indigenen Gemeinden, seit Ecuador und Bolivien sie 2008, beziehungsweise 2009, als übergeordnetes Staatsziel in ihre Verfassungen aufgenommen haben. Und auch hierzulande wird vermehrt in verschiedenen Kreisen diskutiert, wie viel Wahrheitsgehalt wohl in der weisen Formel stecken mag.

Seine Anfänge nahm die Frage nach dem Guten Leben Ende des 20. Jahrhunderts in Bolivien. Damals dachten viele, auch einige Linke, noch, man müsse die originären in freiwilliger Abschottung vom Rest der Welt lebenden Völker "entwickeln". Man wollte in Kontakt mit ihnen treten, eine Verbindung zum "Westen" aufbauen. Um allerdings richtig kommunizieren zu können, fehlte es noch an einer Quechua-Entsprechung für das Wort "Entwicklung". Verzweifelt machte man sich also auf die Suche und wurde doch nicht fündig. Denn aufgrund der komplett anderen Lebenseinstellung gibt es in dieser Sprache einfach kein Äquivalent für das entwickelte Wort. Folglich musste etwas her, das dem Ganzen wenigstens im Ansatz nahe kommt. So fand man schließlich zu dem Aymara-Ausdruck Suma Qamaña, beziehungsweise in Ecuador zum Sumak Kawsay. Im Spanischen übersetzte man dann schließlich mit "Buen Vivir". Mit dem ursprünglichen Wort "Entwicklung" hat das nun aber wahrlich wenig zu tun und im Grunde handelt es sich auch dabei um einen Übersetzungsfehler. Die genaue Formulierung müsste "Buen Convivir" lauten, also "Gutes Zusammenleben". Weil alles andere allerdings zu Verwirrung geführt hätte, wurde und wird die alte, wenngleich falsche, Bezeichnung weiter verwendet.

Pachamama als Ursprung allen Lebens

Aber was ist das jetzt eigentlich genau, das "Gute (Zusammen-)leben"? Und was macht es so besonders?

Sumak Kawsay, das bedeutet gemeinschaftlich leben, auf Niemandes Kosten. Die materielle, soziale und spirituelle Zufriedenheit aller Gemeinschaftsmitglieder hat gleichzeitig höchste Priorität. Entscheidungsfindungen sollen kollektiv stattfinden, damit die kulturelle Identität jedes Einzelnen gewahrt bleibt. Vor allem aber wird im Guten Zusammenleben betont, dass es wichtig ist, sich als Ziel zu setzen, gut leben zu wollen und nicht immer nur besser. Denn so ist es ja leider, zum Beispiel, in unserer Gesellschaft üblich. Aus diesem Anspruch jedes Einzelnen an sich selbst folgert sich auch unser, auf Wachstum beruhendes, Wirtschaftssystem. Im Weltbild der Indigenen allerdings ist unser Streben nach "Mehr um des Mehr Willen" nicht vereinbar mit dem großen Gedanken der Nachhaltigkeit. Der Klimawandel kann nach ihrem Verständnis nur aufgehalten werden, indem man versucht zwar von, aber auch mit der Natur zu leben. Überhaupt steht Pachamama, die Mutter Erde, im Mittelpunkt dieser Lebenseinstellung. Sie wird nicht mehr als Objekt gesehen, sondern als Teil des menschlichen Subjektes. Sozusagen eine Art Erweiterung des Körpers. Und gerade weil die Natur Ursprung und Teil allen Lebens ist, muss sie ebenso als Subjekt mit eigenen Rechten gesehen werden, wie der Mensch es sich vorbehält. In unserer "westlichen Welt" aber passiert das genaue Gegenteil. Aufgrund unseres anthropozentrischen Weltbildes denken wir, wir könnten uns die Natur Untertan machen und verfallen dem Egoismus. Dabei bedeutet die Zerstörung der Natur letztendlich auch unsere Vernichtung. Insgesamt hat der Pachamama-Gedanke immense Auswirkungen auf das Weltbild der Indigenen: Weil man sich als Teil vom Ganzen versteht, wird sich viel mehr um die Gemeinschaft gesorgt und Verantwortung übernommen für alles, was einen umgibt. So haben die Völker des Andenraums es bisher geschafft, als "Hüter des Regenwaldes" zu agieren.

Von den originären Völkern lernen

Natürlich muss man aber aufpassen, dass man nicht in eine Romantisierung indigener Lebensweisen verfällt und so tut, als könnte man diese sofort und eins zu eins auch auf unsere Gesellschaft beziehen. Denn das ist natürlich (leider) nicht möglich. Schließlich beruht unser gesamtes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem (leider) auf stetigem Wachstum. Das Buen Convivir allerdings als naive und zu einfache Idee ein paar weniger "unzivilisierter" Völker abzustempeln, wäre zu weit aus dem Fenster gelehnt. Vielmehr sollten wir von den Indigenen lernen und uns jene Elemente, die auf unsere Gesellschaft und unser politisches System übertragbar sind, raussuchen, anpassen und erweitern. Ecuador und Bolivien sind hier beispielhaft. Vor allem für das sich wandelnde Verhältnis zwischen Staat und Indigenen: Indigene Rechte sind hier nicht nur autonom im Gesetz verankert. Die Kultur der originären Völker wird mehr und mehr geachtet und geschützt. Ihre Meinungen spielen außerdem eine immer wichtigere Rolle in der Entscheidungsfindung. Wobei man sicherlich auch zugeben muss, dass die beiden Länder sich noch stetig mit den Widersprüchen zwischen den Grundsätzen des Guten Lebens und bestehenden kapitalistischen Prinzipien, beispielsweise der Rohstoffausbeutung, konfrontiert sehen. Dennoch befindet man sich hier auf einem Weg in die richtige Richtung. Außer Ecuador und Bolivien gibt es nur noch ein Land auf dieser Welt, das seine Entscheidungsfindung nicht nach dem Wirtschaftswachstum richtet: Bhutan. Dank der Einführung des "Bruttoglücksproduktes" vor rund 40 Jahren bezeichnen sich ungefähr 88 Prozent der Bevölkerung dieses eigentlich armen Landes selbst als glücklich.

Konzepte wie diese könnten in Zukunft die kapitalismuskritische Bewegung mit einer Bandbreite von Ideen unterstützen und erweitern. Auf dass es irgendwann mehr davon gibt in dieser Welt und Menschen und Staaten weg vom Krisendogma des Wachstums kommen! Buen Convivir stellt hier ein radikales Gegenbeispiel dar.

In den scheinbar simplen Gedanken stecken philosophisch hochwertige Aussagen mit großem Wahrheitsgehalt.

Überhaupt muss sich gefragt werden: Ist Einfachheit grundsätzlich schlecht? Vielleicht ist es gerade das, was wir wieder lernen müssen, um etwas an unserem Handeln ändern und die "Welt retten" zu können: Einfach denken.

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Quelle:
DER RABE RALF - 22. Jahrgang, Nr. 167 - April/Mai 2012, Seite 14
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2012