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SCHADSTOFFE/300: Hormonell schädliche Chemikalien - Eine Gefahr für Mensch und Umwelt (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2019 Die Geister, die wir riefen
Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt - Zeit zu handeln!

Hormonell schädliche Chemikalien
Eine Gefahr für Mensch und Umwelt

von Alexandra Caterbow, Johanna Hausmann und Susanne Smolka


Endokrine Disruptoren (EDs) sind körperfremde Substanzen, die bei Menschen und Tieren wie Hormone wirken, den Hormonhaushalt stören und in der Konsequenz Entwicklungs- und Gesundheitsstörungen auslösen oder verstärken können. Chemikalien mit dieser besonderen und gefährlichen Eigenschaft werden kurz als EDCs (Endocrine Disrupting Chemicals) oder Hormongifte bezeichnet. Nur wenige EDCs wurden bisher verboten. Es bleibt deshalb noch viel zu tun für die Politik - auf nationaler, europäischer und globaler Ebene.


Die Öffentlichkeit wurde zuerst auf die globalen Auswirkungen sehr langlebiger EDCs aufmerksam. Dazu gehören die polychlorierten Biphenyle (PCBs), die Unfruchtbarkeit und Zwitterbildung bei Eisbären verursachen oder die Auswirkungen des Biozids Tributylzinn (TBT), das gegen den Bewuchs an Schiffrümpfen eingesetzt und entlang der internationalen Schifffahrtsrouten kontinuierlich in die Meeresumwelt freigesetzt wurde. Selbst bei niedrigsten TBT-Konzentrationen im Nanogrammbereich bildeten weibliche Meeresschnecken Penisse aus, ein als "Imposex" beschriebener Effekt. Mittlerweile sind diese beiden Stoffe aufgrund ihrer globalen Schäden über internationale Vereinbarungen verboten.

Die genannten Stoffbeispiele bilden aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat gemeinsam mit dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) im Jahr 2012 einen wissenschaftlichen Bericht zu EDCs und deren Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen veröffentlicht und betiteln EDCs als eine "globale Bedrohung". Der Bericht spricht von rund 800 Chemikalien mit endokriner Wirkung.(1)

Eine allgegenwärtige globale Bedrohung
Das Problem ist besonders brisant, weil EDCs fast überall vorkommen - beispielsweise in vielen Alltagsprodukten, konventionellen Lebensmitteln und Lebensmittelverpackungen, Wasser, Innenraumluft - und bereits in sehr geringen Konzentrationen bei Menschen und Tieren körpereigene Hormone wie Sexualhormone oder Schilddrüsenhormone blockieren oder diese imitieren können. Das bedeutet, dass nicht nur Personen gefährdet sind, die beruflich mit Chemikalien oder Pestiziden umgehen, sondern potentiell alle diesem Risiko ausgesetzt sind.

Besonders in sehr empfindlichen Entwicklungsphasen während der fötalen Entwicklung bis hin zur Pubertät können EDCs wichtige Abläufe wie die Organ- oder Gehirnentwicklung stören. Die Folgen werden oft erst viel später im Leben sichtbar und können sogar generationenübergreifend sein - eine schleichende Gefahr für Bevölkerung und Umwelt. Daher sind der Schutz und die Aufklärung von Schwangeren besonders wichtig.

Laut dem WHO/UNEP-Bericht und der Internationalen Endokrinen Gesellschaft(2) werden EDCs unter anderem mit folgenden Krankheiten in Zusammenhang gebracht: Diabetes, Übergewicht, männliche und weibliche Fortpflanzungsstörungen, Unfruchtbarkeit, Brustkrebs, Hodenkrebs, Schilddrüsenkrebs, Herzprobleme, Asthma, neurologische Störungen sowie ADHS. Die Zunahme dieser Krankheiten kann nicht allein genetisch erklärt werden. Unter WissenschaftlerInnen herrscht weitgehend Einigkeit, dass die Exposition gegenüber EDCs bei der Entwicklung dieser Erkrankungen eine Rolle spielt.

Besonders bekannte und weit verbreitete EDCs sind z. B: Bisphenol A (BPA) und die Weichmacher (Phthalate) in Kunststoffen, aber auch bestimmte Pestizide und Biozide. Untersuchungen der Körperbelastung durch Schadstoffe zeigen, dass fast in allen Kindern und Erwachsenen EDCs nachgewiesen werden können. Eine Analyse von PAN Europe zu hormonell wirksamen Pestizidrückständen in Lebensmitteln zeigt, dass rund 23 Prozent aller untersuchten Obst- und Gemüseproben in der EU mindestens einen solchen Pestizidrückstand aufweisen und in jeder achten bis neunten Probe mehr als eines der ED-Pestizide nachzuweisen ist.(3)

Hier wird ein weiteres Problem deutlich. Ob in Lebensmitteln oder als Umweltbelastungen, z. B. in Gewässern, EDCs mit denselben Wirkpunkten, z. B. der Störung der Schilddrüsenfunktion, wirken als Gemische und verursachen einen sogenannten Cocktail-Effekt. Die Regulierung einzelner weniger EDCs ist deshalb nicht ausreichend, um das Problem in den Griff zu bekommen. Chemikalien mit endokrinschädlichen Eigenschaften sollten deshalb zukünftig gar nicht mehr von der chemischen Industrie entwickelt und vermarktet werden dürfen. Voraussetzung dafür ist die Berücksichtigung von EDCs in allen chemikalienbezogenen Gesetzgebungen.

SAICM erfüllt Aufgaben zu EDCs nur halbherzig
Eine globale Bedrohung braucht eine globale Lösung! Die einzige internationale politische Plattform, die zu EDCs arbeitet, ist der Strategische Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement. Das Thema wird dort als "Emerging Policy Issue" von allen Mitgliedsstaaten und Stakeholdern anerkannt. Laut eines Arbeitsplans sollten UNEP, WHO und die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unter anderem eine internationale Kampagne zur Aufklärung, wissenschaftsbasierten Informationsaustausch und Unterstützung für Entwicklungsländer zur Reduzierung von Risiken durch EDCs bereitstellen. Allerdings sind lediglich Flyer und drei Berichte -nach großer Verspätung und unter enormem Lobbydruck - entstanden, die weltweite Initiativen zur Identifizierung von EDCs beschreiben, den Stand der politischen Regulierungen abbilden und einen Überblick zu einzelnen Hormongiften geben, was kaum als "Kampagne" zu bezeichnen ist. Insgesamt ist die Arbeit zu EDCs in SAICM ungenügend und halbherzig. Es ist daher dringend notwendig, nicht erreichte Ziele in einem SAICM-Folgeabkommen weiterzuführen und gegebenenfalls mit größeren Verpflichtungen für die AkteurInnen zu versehen.

Politik reagiert zu zögerlich
Trotz der wissenschaftlichen Kenntnisse um die Gefahren von EDCs tun sich Regierungen schwer, angemessen oder gar gemeinsam zu reagieren. Ein Grund dafür sind wirtschaftliche Interessen der Chemikalien- und Pestizidindustrie. In der Europäischen Union wurde 1999 immerhin eine europäische Gemeinschaftsstrategie zum Umgang mit EDCs initiiert. Im gemeinsamen 7. Umweltaktionsprogramm wurde vereinbart, dass bis 2020 EDCs in allen einschlägigen Rechtsvorschriften der Union angemessen berücksichtigt werden sollen. Außerdem sollten bis 2015 Maßnahmen ergriffen werden, um eine Minimierung der Belastung durch endokrine Disruptoren sicherzustellen. Aus Sicht der Umweltverbände kann von einer engagierten Umsetzung dieser Ziele aber keine Rede sein.

Endokrine Eigenschaften sollen bei der Stoffbewertung von Chemikalien unter dem EU-Chemikalienrecht REACH berücksichtigt werden - sofern Daten dazu vorhanden sind. Bei der Überarbeitung des europäischen Pestizid- und Biozidrechts wurden Verwendungsverbote für solche Pestizide und Biozide festgeschrieben, die endokrinschädliche Eigenschaften haben können. Um diese Rechtsvorgaben umzusetzen, gab es - trotz erheblichem Lobbydruck und um Jahre verspätet - eine politische Einigung über eine Definition und über wissenschaftlich fundierte Kriterien zur Identifizierung von endokrinschädlichen Substanzen in Pestizid- und Biozidprodukten in der EU. Obwohl verbesserungswürdig, mit dem Inkrafttreten dieser Kriterien für diese beiden Gesetzgebungen Jahr 2018 wurde zum ersten Mal - auch international - der Weg für eine systematische Identifizierung und Regulierung für EDCs im Stoffrecht beschritten. Eine im Auftrag des EU-Parlaments 2019 erstellte Studie bietet eine aktuelle Übersicht zur EDC-Problematik und den legislativen Maßnahmen in der EU.(4)

Wie geht es weiter in der EU. Die breite NGO-Allianz 'EDC-Free Europe' fasste 2018 in einem 8-Punkte-Katalog ihre zentralen Forderungen zum Umgang mit EDCs zusammen, u. a. die dringende Notwendigkeit zur EDC-Regulierung in allen betroffenen Gesetzgebungen wie z. B. auch für Kosmetika und Spielzeug und die Festlegung einer umfassenden Strategie zum Umgang mit EDCs.(5) Die Maßnahmen der EU-Kommission stießen diesbezüglich auf breite Kritik, nicht nur von Seiten der NGOs. Auch das EU-Parlament und der EU-Ministerrat mahnten mit großer Mehrheit ein stärkeres Engagement an.

Und was macht Deutschland? Im Gegensatz zu Frankreich und Belgien hat Deutschland keinen Plan zum Schutz der Umwelt und Gesundheit vor EDCs. Ein nationaler Aktionsplan ist dringend erforderlich, sowie mehr Engagement auf europäischer und internationaler Ebene.


Alexandra Caterbow ist Co-Direktorin von Health and Environment Justice Support (HEJSupport).
Johanna Hausmann ist Senior Policy Advisor und Projektmanagerin für Chemikalien und Gesundheit bei Women Engage for a Common Future (WECF).
Susanne Smolka ist Senior Policy Advisor und Projektkoordinatorin für Pestizide und Biozide beim Pestizid Aktions-Netzwerk e. V. (PAN Germany)

Anmerkungen

(1) WHO/UNEP (2012): State of the Science of Endocrine Disrupting Chemicals - Summary for Decision-Makers. Genf/Nairobi.
https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/78102/WHO_HSE_PHE_IHE_2013.1_eng.pdf;jsessionid=1F1BB6C7BD5CEF9D107C86A63530F400?sequence=1.

(2) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26544531.

(3) PAN Europe (2017): Endocrine Disrupting Pesticides in European Food. Brüssel.
https://www.pan-europe.info/sites/pan-europe.info/files/Report_ED%20pesticides%20in%20EU%20food_PAN%20Europe.pdf.

(4) http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2019/608866/IPOL_STU(2019)608866_EN.pdf.

(5) EDC Free Europe (2018): Acht Forderungen für eine EU EDC-Strategie. Brüssel.
https://pan-germany.org/download/acht-forderungen-fuer-eineeu-edc-strategie/.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 4/2019, Seite 16 - 17
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2020

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