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FRAGEN/001: Pionierarbeit Meeresforschung (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 61 - Ausgabe 2016
Das Forschungsmagazin - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Pionierarbeit Meeresforschung

Interview: Volker Sandmann, Deike Stolz


Sie repräsentieren die gelebte Interdisziplinarität der Oldenburger Meeresforschung: Biologe Helmut Hillebrand und Physiker Bernd Blasius vom Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM). Im Doppelinterview sprechen sie über dramatisch schnelles Artensterben und offene Fragen, über Invasionen und wertvolle "grüne Suppe". Und über das im Oktober vom Senat der Helmholtz-Gemeinschaft beschlossene Oldenburger Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität


Welche Bedeutung hat das Thema Biodiversität für Sie?

Hillebrand: Biodiversität ist es ein Konzept, das versucht, die Vielfalt von Lebensformen zu charakterisieren. Das können verschiedene Arten sein, Typen von Lebensräumen in einer Region, aber auch Populationen mit unterschiedlicher Genetik. Ich glaube schon, dass es ein Kernkonzept der Ökologie seit Geburt der Ökologie darstellt. Schon der Zoologe und Freidenker Ernst Haeckel, der ja das Wort Ökologie geprägt hat, hat im 19. Jahrhundert einen Großteil seiner Zeit mit wunderbaren wissenschaftlichen Zeichnungen von biologischer Vielfalt verbracht. Für mich persönlich war Biodiversität die Motivation, überhaupt Ökologie zu studieren. Mich hat schon immer fasziniert, warum einige Arten zusammenleben und andere nicht, und wie sie interagieren.

Blasius: Aus wissenschaftlicher Sicht ist es übrigens ganz erstaunlich, wie wenig wir eigentlich bisher über Artenvielfalt wissen. Wir kennen weder die genaue Diversität auf unserem Planeten, noch verstehen wir die Funktion von Biodiversität. Gibt es ein Mindestmaß an biologischer Vielfalt, die wir auf der Erde brauchen? Das bleibt bisher unbeantwortet. Gleichzeitig ist es erschreckend, zu beobachten, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem sich die Artenvielfalt dramatisch reduziert. Schneller als dies jemals auf der Erde der Fall war. Diese Diskrepanz ist für viele unserer Studierenden eine starke Motivation, sich mit Biodiversität zu beschäftigen.

Der Verlust von biologischer Vielfalt ist eine der größten Bedrohungen für den Menschen - würden Sie diesen Satz eines Umweltpolitikers unterschreiben?

Hillebrand: Zunächst einmal ist es wichtig, zu unterscheiden, wie viele Arten tatsächlich ausgestorben sind und wie schnell dies geschehen ist. Also die Menge der ausgestorbenen Organismen und die Rate, mit der sie aussterben. Betrachtet man zum Beispiel Amphibien, von denen viele stark gefährdet sind, dann ist die reine Anzahl wirklich dokumentierter Aussterbeereignisse nicht besonders groß. Natürlich sind wir heute weit davon entfernt, Aussterbequoten wie bei den fünf großen Massenaussterben des geologischen Zeitalters zu erreichen. Der Prozentsatz ausgestorbener Arten lag hier zwischen 75 und 98 Prozent. Was uns heute in der Tat große Sorge macht, ist aber die Geschwindigkeit des Aussterbens. Für die Menschheit hat das dieselbe Tragweite wie der Klimawandel.

Blasius: Das Schwierige daran ist aber, dass wir noch nicht einmal die Tragweite dieser Entwicklungen richtig beurteilen können. Aus den 1960er-Jahren gibt es theoretische Grundarbeiten, die sagen, dass komplexere, also artenreichere Systeme, inhärent instabil sind. Das hieße im Umkehrschluss: Wenn wir geringere Artenvielfalt haben, dann stabilisieren sich die Systeme, was eigentlich gut wäre. Diese Aussagen aus der Theorie stehen allerdings im krassen Widerspruch zu dem, was man in vielen Feldstudien beobachtet hat. Die Erkenntnis hier ist, dass artenärmere Systeme deutlich instabiler und verletzlicher gegenüber Invasionen und Parasiten sind. Das kennt man ja auch von Monokulturen in der Landwirtschaft. Diese Diversitäts-Stabilitäts-Debatte ist aber noch vollkommen ungeklärt. Wir wissen bis heute nicht, ob eine geringere Diversität auch bedeutet, dass lebenswichtige Funktionen des gesamten Ökosystems verloren gehen.

Hillebrand: ... und genau das ist auch für mich die wissenschaftlich treibende Frage. Beim Klimawandel haben wir bereits globale Modelle, die uns relativ sicher bis auf Regionen heruntergebrochen sagen können, wie sich Temperaturen oder Niederschlagsmengen verändern werden. Das fehlt uns für die biologische Vielfalt.

Apropos Klima: Welche Auswirkungen haben denn eigentlich Klimaveränderungen auf die Biodiversität? Lässt sich das schon klar sagen?

Blasius: Nein. Es gibt zumindest kein klares Muster. Es kann durchaus sein, dass Klimaveränderungen in bestimmten Regionen die Biodiversität erhöhen, weil sie anderen Arten erlauben, sich dort zu spezialisieren. Das kann aber auch in die komplett andere Richtung gehen - bei der Artenvielfalt gibt es also Gewinner und Verlierer. Deswegen sind diese Vorhersagen auch sehr schwierig. Ein wesentlicher Faktor, der zu veränderten Biodiversitäts-Mustern auf unserem Planeten beiträgt, ist die Invasion ...

Ihr Spezialgebiet ...

Blasius: ... stimmt - wir arbeiten mit mehreren Kollegen an dieser Thematik. Auslöser der Bioinvasion sind global umspannende Transportsysteme wie Schiffe, die Arten und Organismen hin und her verfrachten. Schaut man auf die Folgen, gibt es wieder kein klares Muster: In einigen Gebieten kann durch Invasion die Biodiversität anwachsen. Die pazifische Auster im Wattenmeer ist ein schönes Beispiel. Die hat zunächst keinen offensichtlichen Schaden angerichtet, sondern das Ökosystem eher bereichert. Global betrachtet kann es aber auch zu einer zunehmenden Homogenisierung kommen, letztlich zu einem artenärmeren Planeten. In diesem Szenario bleiben wenige dominante Arten übrig, die sich in allen Teilen der Welt sehr ähneln. Gerade in den Küstenregionen ist die Invasion ein bedeutender Faktor, der die Lebensgemeinschaften im Wasser verändert.

Sie sprechen die marine Biodiversität an. Ist die Wissenslücke hier genau so groß wie in der terrestrischen Forschung? Oder sogar größer?

Hillebrand: Leider sind wir in der marinen Biodiversität noch deutlich limitierter. Das, was wir wissen, leiten wir zum einen über globale Verbreitungsdaten von Organismen ab, die man relativ gut identifizieren kann. Wir wissen zum Beispiel, dass die Stellersche Seekuh ausgestorben ist, da sie nirgends mehr auffindbar ist. Zum anderen arbeiten wir mit Monitoring-Langzeit-Beobachtungsdaten. Globale "Hotspots" wie Helgoland, wo über Jahrzehnte hinweg schon Daten erhoben werden, sind aber leider die große Ausnahme. Realistische Vorhersagen darüber, wie die Biodiversität der Nordsee in 100 Jahren aussehen kann, können wir noch nicht treffen. Was außerdem fehlt, ist "Citizen Science": Forschung, die wie im terrestrischen Bereich auch stark von interessierten Laien vorangetrieben wird und uns zusätzliche Daten zur Verfügung stellt. Anders als Vögel und Schmetterlinge sind marine Arten nur schwer zugänglich und bleiben für viele Menschen oftmals abstrakt.


Prof. Dr. Helmut Hillebrand

Helmut Hillebrand, Meeresbiologe und Biodiversitätsexperte, leitet am ICBM die Arbeitsgruppe "Planktologie" und koordiniert den Forschungsverbund "Marine Biodiversität" mit der Universität Bremen. Der Sprecher des Forschungsprojekts BEFmate zu Biodiversität und Ökosystemfunktion forscht etwa auch zu Monitoring-Konzepten für die Deutsche Bucht oder zum marinen Nahrungsnetz im Südpolarmeer. Hillebrand wird das Oldenburger Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität leiten, das 2017 seine Arbeit aufnimmt. Er zählt zu den weltweit meistzitierten Wissenschaftlern seines Fachs.


Biodiversität und Meereswissenschaften, diese Forschung stellt einen Schwerpunkt an der Universität dar. Was ist das Besondere?

Hillebrand: Wir unterscheiden uns von vergleichbaren Forschungseinrichtungen vor allem durch zwei Punkte: Zum einen betrachten wir die Biodiversität sowohl im Meer als auch auf dem Land. Dabei ist das Institut für Biologie und Umweltwissenschaften für uns ein wichtiger Partner. Denken Sie an die künstlichen Inseln vor Spiekeroog - angelegt, um Fragen zur Artenvielfalt und Besiedlung von neu entstehenden Inseln zu beantworten. Dabei schauen wir auch auf die Schnittmenge von Land und Meer. Der zweite Punkt: Wir am ICBM setzen auf Interdisziplinarität, während andernorts vor allem eine organismische, biologische Forschung verfolgt wird. Bei uns macht dieser Teil nur etwa ein Drittel aus. Daneben haben wir eine große Expertise in Chemie und Physik.

Also eine gelebte Interdisziplinarität.

Hillebrand: Eindeutig ja, und das ist eine große Bereicherung. Wir können uns mit Experten aus der Modellierung und der Hydrodynamik koppeln, Theorie und Empirie gehen also Hand in Hand. Mit unseren Geochemikern können wir uns über das organische Material im Meer - also auch über die Produkte und Ressourcen von Mikroben, die sonst eigentlich im Fokus eines Biologen stehen - austauschen. Das macht den Aspekt der Ökosystemfunktion viel besser greifbar. In bestimmt 90 Prozent der darauf bezogenen Studien geht es ja eher um Primärproduktion, also die Produktion von Biomasse über Photosynthese. Durch das Einbinden von physikalischen und geochemischen Arbeitsgruppen haben wir am ICBM ein ungewöhnlich stark ausgeprägtes Prozessverständnis. Mit unseren Projekten sind wir integraler Bestandteil einer interdisziplinären Umweltforschung. Das ist unser Selbstverständnis und das zeichnet die Biodiversitätsforschung in Oldenburg aus.

Was bedeutet das für Sie als Physiker und Modellierer?

Blasius: Ich sehe das genauso. Denn die Fitness einer Art, die darüber entscheidet, ob sie vom Aussterben bedroht ist oder nicht, hängt nicht allein von ihrer biologischen Umwelt ab, sondern auch von der chemischen und physikalischen. Erst durch das Zusammenspiel von Biologen, Geochemikern, Modellierern und physikalischen Ozeanografen bekommen wir ein umfassendes Systemverständnis. Was übrigens ein weiterer sehr spannender Anreiz ist: Auf dem Gebiet der Biodiversität gibt es noch echte Pionierarbeit zu leisten! Selbst Studierende betreten bei uns in ihren Forschungspraktika oftmals Neuland.


Prof. Dr. Bernd Blasius

Der Physiker Bernd Blasius ist derzeit Direktor des ICBM und leitet dort die interdisziplinäre Arbeitsgruppe "Mathematische Modellierung". Blasius ist Experte unter anderem für globale Transportwege, Bioinvasion und Seuchenausbreitung und seitens des ICBM am Virtuellen Helmholtz-Institut "Polar Time" beteiligt. Dort entwickelt er mathematische Modelle zur Entwicklung von Krill-Populationen und forscht daneben etwa zur Anpassungsfähigkeit wirbelloser Meeresbewohner.


Was sind für Sie die Fragestellungen der Zukunft?

Hillebrand: Ein Schwerpunkt, den wir künftig zusätzlich setzen möchten, betrifft die Grundlagen des marinen Naturschutzes. Zentrale Frage ist hier: Wie geht man eigentlich mit dem Schutz mariner Ökosysteme um? Das Problem dabei ist, dass die zugrundeliegenden Konzepte alle aus der terrestrischen Naturschutzforschung kommen. Da geht es um das Etablieren von Flächen, die dem Naturschutz dienen sollen, die Herausnahme aus der Nutzung oder das Beschützen vor Übernutzung. Für Landökosysteme gibt es bereits Professuren für Naturschutz. In der marinen Forschung haben wir das alles noch nicht. Aus ganz plausiblen Gründen: Wie zum Beispiel will man mobile, weite Gebiete nutzende Arten schützen, reicht da ein flächenhafter Ansatz durch sogenannte "Marine Protected Area"? Zum einen ist der Großteil der Oberfläche keiner Nation zugehörig. Das heißt, eine nationale Legislative und Initiative kann hier gar nichts erreichen. Zum anderen sind die Dinge, über die wir die Biodiversität verändern und beeinflussen, gar nicht lokalisiert. Auf dem Land ist es eindeutig: Der Quadratmeter, den ich in einen Acker umwandle, ist dann definitiv keine Wiese mehr. Im Meer geht es dagegen vor allem um das Entnehmen von Nahrung, aber dadurch verändert sich ja die Fläche des Meeres nicht. Es gibt keinen flächenbezogenen Einfluss, und deswegen ist auch ein flächenbezogener Schutz extrem schwer zu realisieren. Wir stehen im marinen Naturschutz daher noch ganz am Anfang.

Sie betrachten dabei auch die gesellschaftliche Dimension ...

Hillebrand: Ja. Ein zweites Thema, dass wir stärker voranbringen möchten, sind so genannte "Ecosystem Services". Darunter versteht man Dienstleistungen, die das Ökosystem für uns erbringt und die der Gesellschaft zugutekommen. Das kann Nahrungszufuhr in Form von Fisch bedeuten, aber auch eine Funktion wie Schadstoffabbau. Diese Serviceleistungen sind gar nicht naturwissenschaftlich zu definieren. Gefragt ist stattdessen eine gesellschaftswissenschaftliche Expertise! Nehmen wir zur Veranschaulichung den Ozean: Er nimmt einen Großteil des Kohlendioxids aus der Atmosphäre auf und verlagert diesen wie eine Art Speicher in die Tiefsee. Wie eine biologische Kohlenstoffpumpe. Voraussetzung dafür ist eine hohe Algenproduktion. Eine Schlussfolgerung könnte also sein: Um den Klimawandel zu stoppen, ist eine hohe Algenproduktion wünschenswert. Anders gesagt: Diese grüne Suppe sieht zwar nicht schön aus, ist aber unglaublich wertvoll. Erklären Sie das mal einem Tourismusmanager! Es gibt also auch Ökosystemdienstleistungen, die in ihrer Wirkung durchaus widerstreitend sind. Dabei muss auch die Gesellschaft in ihrer ganzen Komplexität betrachtet werden. Das ist die zweite große Lücke in der marinen Biodiversitätsforschung, die wir gerne schließen möchten.

Blasius: Und das möchten wir zusammen mit dem AWI, dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, tun. Wir beginnen gerade mit dem Aufbau eines Research-Clusters namens "Marine Diversity", mit gleichzeitiger Gründung eines Helmholtz-Instituts für Funktionelle Marine Biodiversität. Damit werden wir eine Helmholtz-Ausgründung auf dem Oldenburger Campus etablieren. Wichtigste Bausteine bei diesem Projekt sind zwei neue Professuren: eine für "Marine Conservation" und eine für "Marine Ecosystem Services". Zusätzlich planen wir eine Theorie- und Informatik-Professur, um die Modellierung diesbezüglich voranzubringen. Auch noch erwähnenswert: Zur "Ausrüstung" dieses neuen Forschungskonsortiums werden die beiden größten deutschen Forschungsschiffe gehören. Das ICBM ist das Heiminstitut der "Sonne", das AWI das der "Polarstern". Nimmt man dann noch Senckenberg am Meer und das Zentrum für marine Tropenökologie dazu, mit denen wir ebenfalls eng zusammenarbeiten, dann verfügen wir über Daten und Wissen aus allen Weltmeeren, von den Tropen- bis zu den Polarregionen. In Verbindung mit der Interdisziplinarität, die wir in Oldenburg leben, ist das einzigartig und international deutlich sichtbar.

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Quelle:
Einblicke Nr. 61, 31. Jahrgang, Seite 16-20
Herausgeber:
Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2017

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