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ATOM/1043: Vom Bau eines neuen Atomkraftwerks in Weißrußland (IPPNWforum)


IPPNWforum | 120 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Wie aus der Geschichte keine Lehren gezogen werden
Oder: Vom Bau eines neuen Atomkraftwerks in Weißrussland

Von Volha Martynenka


26. April 1986 - Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert. Daraufhin verbleiben etwa 70% der radioaktiven Substanzen innerhalb der weißrussischen Grenzen. Knapp ein Viertel des weißrussischen Territoriums wird verseucht. Heute wohnen zirka 1,4 Millionen Menschen, darunter 260 000 Kinder, im verstrahlten Bereich. Die Regierung und Präsident Lukaschenko kümmert dies wenig. Mehr noch, es hält sie nicht davon ab, den Bau einer weiteren atomaren Zeitbombe zu planen.


Im Jahr 2007 bemühte sich die weißrussische Regierung um Darlehen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds für die Schaffung einer freien Wirtschaftszone in der Region um Tschernobyl sowie für ein Kernkraftwerk. In diesem Zusammenhang wurde die Lage in der Region sowie die Folgen der Tragödie von Tschernobyl erneut untersucht und der Status von Region und Opfern revidiert. Anschließend wurde im September 2007 ein Gesetz erlassen, in dessen Folge z.B. Unterstützungszahlungen für Liquidatoren und Opfer eingestellt wurden. Nach Protesten der Zivilgesellschaft kam es zu einer teilweisen Wiederaufnahme von Zahlungen im Januar 2009, festgelegt durch ein Gesetz "zur sozialen Absicherung von Bürgern, die Opfer des Unfalls im AKW Tschernobyl und anderen Strahlungs-Störfällen sind".


Umstrittene Opferzahlen

Doch die genaue Zahl der Opfer bleibt umstritten. In dem berühmt-berüchtigten Bericht aus dem Jahr 2007 spielte die IAEO die Opferzahl auf weniger als 50 herunter. Die WHO, Mitherausgeber des Berichts, korrigierte diese Zahl zwar und sprach davon, dass etwa 4.000 Opfer "übersehen" worden seien. Andere Studien, wie die von den Grünen im Europaparlament oder die von Greenpeace, sprechen dagegen von 30.000-60.000 oder sogar 93.000 Opfern. Eine von der IPPNW und der Gesellschaft für Strahlenschutz veröffentlichte Studie geht von Zehntausenden Toten und Hunderttausenden Krebs- und anderen Erkrankungen aus.

Tatsächlich sterben in den Regionen mit hoher Strahlenbelastung die Menschen vor allem an Herz-, Gefäß- und Tumorkrankheiten. Auch die Inzidenz von Kreislauferkrankungen ist erhöht. Für die weißrussische Regierung war jedoch der Bericht der IAEO/WHO Rechtfertigung für eine Kürzung der Sozialleistungen. Auch mit der neuen Regelung bekommen nur diejenigen Unterstützung, die den Zusammenhang zwischen Krankheit und Reaktorunfall beweisen können. Das ist jedoch in den meisten Fällen unmöglich. Allein Schilddrüsenkrebs wird offiziell als direkte Folgekrankheit der Tschernobyl-Katastrophe anerkannt. Damit ändert sich der formale Status der Opfer und die wenigsten haben Anspruch auf Hilfe.


Zensiertes Vokabular

Zudem werden Flächen, die immer noch erhöhte Werte von Cäsium und Strontium aufweisen, als "sauber" und "geeignet" für Leben, Produktion und Agrarindustrie erklärt. Begriffe wie "Desaster", "Katastrophe", "Opfer" oder "kontaminierte Zone" wurden auf Orwellsche Art aus dem Tschernobyl-Vokabular der Regierung verbannt: keine Katastrophe, keine Zone - keine Rechte, keine Entschädigungszahlung. In der betroffenen Region sollte eine "freie Wirtschaftszone" entstehen - unterstützt durch das Tschernobyl Programm der Weltbank in den Jahren 2005-2006.

Ungeachtet der öffentlichen Meinung hat Lukaschenko den Bau eines neuen Atomkraftwerks in Weißrussland auf den Weg gebracht - mit aktiver Unterstützung durch die internationale Atom-Lobby. Im Januar 2009 begannen die Verhandlungen mit dem russischen Staatsunternehmen "Rosatom". Im nächsten Jahr soll die russische Firma "Atomstroyexport" mit dem Bau der Anlage beginnen, 2016 soll der erste Block in Betrieb gehen. Vier bis zehn Milliarden Euro wird der Bau kosten. Ohne die Kredite von Russland, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds könnte sich Weißrussland ein Projekt dieses Ausmaßes nicht leisten. Um Lukaschenkos Traum von Atomenergie zu realisieren, werden aber auch Sozialleistungen gekürzt und Steuern angehoben.


Eine internationale Aufgabe

Den Bau eines Atomkraftwerks in Weißrussland zu verhindern ist eine internationale Aufgabe. Es ist nicht nur eine Frage des Gesundheitsschutzes, es geht auch darum, Machtmissbrauch und den Verwicklungen des autoritären Regimes in Weißrussland mit der Atomlobby, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds Einhalt zu gebieten.


Volha Martynenka hat 2006 ihr Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften an der Universität Minsk abgeschlossen. Im Rahmen der Summer School der Heinrich-Böll-Stiftung war sie für eine Woche Praktikantin in der IPPNW-Geschäftsstelle.


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Quelle:
IPPNWforum | 120 | 09, Dezember 2009, S. 14
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2010