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AKTION/017: Rückblick - 100.000 AtomkraftgegnerInnen entern das Regierungsviertel (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / gemeinsam gegen atomenergie - Rundbrief 10 / Herbst 2010

Rückblick

Geflutet, nicht umzingelt!

100.000 AtomkraftgegnerInnen entern das Regierungsviertel. Sitzdemos und Blockade der Reichstagsstufen liefern ersten Vorgeschmack auf den wachsenden Widerstandsgeist


Die Tochter klingt vergnügt und ihre Ortsangabe ist trotz der Menschenmassen und des weitläufigen Geländes sehr präzise. "Wir sind jetzt da, wo der Atommüll abgegeben wird", teilt sie per Handy mit. Doch am Atommülldosen-Berg, der hinterm Hauptbahnhof nach oben wächst, ist keine Spur von ihr. "Hä?" Wieso denn Hauptbahnhof? "Wir sind am Bundeskanzleramt ..."

Eine Umzingelung des Regierungsviertels sollte es werden, einmal um Kanzleramt, Reichstag und Abgeordnetenbüros herum, doch die Strecke ist zu kurz für Hunderttausend Menschen. Wütend und empört sind viele, die nach Berlin gekommen sind, ja, über die Ankündigung der Bundesregierung, die Laufzeiten der Atommeiler zu verlängern, und über ihren dreisten Deal mit den Atomkonzernen. Resignation aber sucht man vergebens. "Atomlobby im Kanzleramt - Widerstand im ganzen Land", kündet das .ausgestrahlt-Banner. Die Stimmung ist unglaublich energiegeladen, positiv.

Als das Ende des Demozuges gerade erst losläuft, hat seine Spitze bereits Kanzleramt und Bundestag umrundet. Es gibt Stau, dann wird der Menschenstrom zur Flut. Die polizeilichen Absperrgitter rings um die Reichstagswiese ("zum Schutz der Grasnarbe") sind nur noch Staffage - Menschen, Menschen, und ein Meer an Fahnen: "Atomkraft? Nein Danke!"

Kurz zuvor, in der Reinhardtstraße, wartet Jürgen am Mikrofon des .ausgestrahlt-Demowagens mit Basis-Infos über die Örtlichkeit auf. "Hier haben viele große Lobbyvertretungen ihren Sitz - und die FDP sitzt natürlich mitten drin." Minutenlanges Pfeifkonzert folgt. Die Scheiben des Parteibüros sind längst übersät von Aufklebern, die rote Sonne leuchtet überall. Von einer "flashmobartigen Aktion" spricht die Polizei, 70 bis 100 Leute hätten gleichzeitig gestickert. Stand ja auch "Mitmach Zentrum" an der Tür.

Rings um Kanzleramt und Reichstag stimmen Chöre zum Abgesang auf die Atomkraft an, die Demonstrierenden nehmen Platz. Die "Sitzdemo" bietet einen kleinen Vorgeschmack auf kommende Aktionen. Anfang November soll wieder Atommüll nach Gorleben rollen. Viele tragen bereits Schilder oder T-Shirts: "Ich blockiere den Castor! Du auch?"

Dass es ernst ist mit dem Widerstandswillen, zeigt sich am Reichstag. Hunderte strömen die Stufen hinauf, auf einmal sitzen sie alle. Kein Durchkommen mehr - zumindest für ein paar Minuten: Ist ja nur Probe heute, sozusagen.

Und wer hätte gedacht, was man alles mit einer Banderole in Atommüll verwandeln kann: Dosen, Marmeladengläser, Joghurteimer, Bierfässer, Blechkanister, Flaschen, ja sogar Kürbisse mit Radioaktiv-Zeichen sehen wir. Manche rollen große Fässer heran, randvoll gefüllt mit kleineren. Andere schieben ganze

Schubkarren voller gelb-schwarzer Dosen durch die Stadt oder ziehen klappernde Schlangen hinter sich her. Und irgendwie ist es wie mit dem richtigen Atommüll: Ehe man sich versieht, türmt er sich überall. Nicht nur zum Atommüllberg am Ende des Förderbands, das die Kinder mit leuchtenden Augen beschicken. Sondern eben auch in Merkels Vorgarten. Das kommt davon.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Großdemonstration "Atomkraft - Schluss jetzt!" am 18.9. in Berlin, alle Fotos: Julia Baier


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Quelle:
Rundbrief 10, Herbst 2010
Herausgeber: .ausgestrahlt
Normannenweg 17-21, 20537 Hamburg
E-Mail: info@ausgestrahlt.de
Internet: www.ausgestrahlt.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2010