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KATASTROPHEN/026: Haiti - Erdbebenopfer bleiben außen vor, Buch kritisiert Hilfseinsätze (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 29. Februar 2012

Haiti: Erdbebenopfer bleiben außen vor - Buch kritisiert Hilfseinsätze

von Judith Scherr


Oakland, Kalifornien, 29. Februar (IPS) - In den USA ist ein Buch über das verheerende Erdbeben in Haiti am 12. Januar 2010 auf den Markt gekommen. Darin melden sich zahlreiche Aktivisten aus dem Karibikstaat zu Wort, die der Welt die Konsequenzen der Katastrophe aus ihren Blickwinkeln darstellen.

Die Staatengemeinschaft reagierte rasch, als das Beben der Stärke sieben das Land erschütterte. Mehr als 300.000 Menschen wurden damals getötet. 1,5 Millionen verloren ihr Dach über dem Kopf. Die USA sandten 20.000 Soldaten nach Haiti, um den Überlebenden zu helfen oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen vor gefährlich wirkenden Erdbebenopfern zu schützen. Filmstars, Kriminelle und Paare mit Kinderwunsch eilten herbei, um Waisenkinder zu adoptieren.

Nichtregierungsorganisationen und Missionare traten sich gegenseitig auf die Füße, um Hilfsgüter zu verteilen - von gebrauchten Schuhen bis hin zu Bibeln. Der Fernsehprediger Pat Robertson sorgte für Schlagzeilen, als er das Erdbeben auf Haitis "Pakt mit dem Teufel" zurückführte und damit die traditionelle Voodoo-Religion schmähte.

In Medienberichten kamen die Haitianer meist nur als beklagenswerte Opfer zu Wort, ihre Meinung etwa zu Wiederaufbau und Hilfseinsätzen war offenbar nicht gefragt. Diese Lücke versucht nun das Buch 'Tectonic Shifts: Haiti Since the Earthquake' zu schließen. Mark Schuller, der an der City University in New York und an der staatlichen Universität von Haiti lehrt, und der Lateinamerika-Experte Pablo Morales stellten mehr als 40 Berichte haitianischer Augenzeugen zusammen.

"Wir hatten das Gefühl, dass es wirklich wichtig ist, Stimmen von Haitianern zu sammeln", sagte Schuller im IPS-Gespräch. Die Hälfte der Artikel sei von Aktivisten, Wissenschaftlern und Journalisten aus dem Land verfasst worden. Die beiden Herausgeber fügten historische Informationen hinzu, die begreiflich machen, warum Haiti solchen Katastrophen besonders schutzlos ausgeliefert ist.


Ausgeplündert

"Um die Katastrophe zu verstehen zu wollen, reicht es nicht aus, die tektonischen Verwerfungslinien zu erkennen. Man muss auch die tiefen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Spaltungen in dem Land und seiner Umgebung verstehen", betonten die Herausgeber.

Haiti wurde seit der Staatsgründung vor 200 Jahren von auswärtigen Mächten drangsaliert. Kurz nachdem das Land das Joch Frankreichs abwarf, veranlasste der frühere Kolonialherr ein Wirtschaftsembargo gegen die junge Republik. Haiti wurde gezwungen, Frankreich umgerechnet 21 Milliarden US-Dollar Entschädigung für den Verlust von Land und Sklaven zuzusichern. Erst 1947 waren alle Schulden abbezahlt.

In mehreren Artikeln werden zudem die neoliberalen Strategien internationaler Finanzinstitutionen unter die Lupe genommen. Sie sorgten dafür, dass sich immer mehr Menschen in der Hauptstadt Port-au-Prince niederließen, wo es bei dem Beben besonders viele Tote und Verletzte gab. Alex Dupuy, der Afrikanisch-Amerikanische Studien an der 'Wesleyan University' in den USA lehrt, erinnert an die Förderung großer Fertigungsunternehmen in Port-au-Prince durch Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF). Erst diese Politik habe die Bauern in Massen in die Städte gebracht.

Der Anthropologe Anthony Olivers-Smith wirft den internationalen Kreditgebern vor, die haitianische Landwirtschaft außerdem durch vergünstigte Einfuhrzölle auf Agrarprodukte geschädigt zu haben. Die haitianischen Erzeugnisse mussten mit subventioniertem US-Reis konkurrieren. Die einheimischen Produzenten hätten nicht mithalten können, kritisierte er.

Tectonic Shifts geht auch ausführlich auf die umstrittene Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ein, die sich bereits vor dem Beben in großer Zahl im Land aufhielten. Als der damalige US-Präsident Bill Clinton 1994 Jean-Bertrand Aristide - dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten - nach einem Putsch zur Rückkehr an die Macht verhalf, stärkte der Kongress in den USA die Präsenz der nichtstaatlichen Hilfsorganisationen in dem Karibikstaat. Da Washington die Hilfsgelder an der Regierung in Port-au-Prince vorbei an die NGOs weitergeleitet habe, sei der öffentliche Sektor des Landes geschwächt worden, kritisieren die Autoren.


NGO-Schwemme

Nach der Erdbebenkatastrophe erlebte Haiti dann einen weiteren Ansturm von Hilfsorganisationen. Wie Yolette Etienne, die Direktorin des Amerika- und Haitiprogramms von 'Oxfam' erklärte, reichte die Bandbreite von spezialisierten Organisationen bis hin zu Amateurgruppen. Sogar Kriminelle seien gekommen, um aus dem menschlichen Elend Profit zu ziehen, kritisierte sie.

Die Vereinten Nationen bildeten nach dem Beben 'Cluster', über die sich die NGOs dringender Probleme wie Hygiene, Trinkwasser- und Nahrungsversorgung sowie Wohnungen annahmen. Im Rahmen der Cluster-Strategie wurden UN-Hilfsorganisationen mit der Koordinierung der Hilfe in zwölf Basisbereichen wie Wasser- und Gesundheitsversorgung beauftragt. Die Haitianer waren aus diesen Abläufen weitgehend ausgeschlossen, wie Melinda Miles von der Menschenrechtsorganisation 'Transafrica' schreibt. "Da die Besprechungen fast alle am UN-Stützpunkt stattfanden und nicht ins Kreolische übersetzt wurden, blieben die Haitianer außen vor."

Mit einheimischen Firmen wurden zudem kaum Verträge über Hilfslieferungen geschlossen. Das 'Centre for Economic and Policy Research' (CEPR) hatte die Verträge der US-Entwicklungsbehörde USAID im Wert von insgesamt rund 200 Millionen Dollar durchgesehen und kam zu dem Schluss, dass haitianische Firmen lediglich zu 2,5 Prozent profitierten.

Scharf kritisiert wird in dem Buch außerdem die UN-Stabilisierungsmission MINUSTAH. Nachdem die USA Aristide 2004 ins Exil zwang, wurden für mehrere Monate US-Marines nach Haiti geschickt, die schließlich von MINUSTAH abgelöst wurden. Nach dem Beben entsandten die UN weitere 3.000 Soldaten und Polizisten, wodurch die Gesamtzahl auf 13.000 stieg.


Blauhelme mit Besatzer-Allüren

Den UN-Blauhelmen wird vorgehalten, sich in Haiti wie Besatzer aufgeführt zu haben. Sie werden bezichtigt, Morde und sexuelle Übergriffe begangen und die Cholera ins Land eingeschleppt zu haben. "Viele sehen die Rolle von MINUSTAH vor allem darin, Haiti wie einen kindlichen Hausangestellten zu halten, der ausländischen Interessen zu dienen hat", heißt es in Tectonic Shifts.

Charles Vorbe von der staatlichen Universität von Haiti erinnert an Haitianer herabwürdigende Pressebilder. So seien Menschen gezeigt worden, die sich um die Lebensmittel geprügelt hätten, die Soldaten aus US-Kampfhubschraubern abgeworfen hätten. Das Sicherheitsdenken des Militärs sei nicht vereinbar mit dem "Respekt für die Würde der Hilfsempfänger".

Noch immer leben rund 600.000 Haitianer in Behelfsunterkünften, oftmals ohne Zugang zu Trinkwasser und Sanitäranlagen. Hinzu kommen die vielen Menschen, die auf der Straße oder in Gebäuden leben, die als baufällig gekennzeichnet wurden. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.kpbooks.com/Books/BookDetail.aspx?productID=294998
http://www.oxfam.org.uk/oxfam_in_action/where_we_work/haiti.html
http://transafrica.org/
http://www.cepr.org/default_static.htm
http://www.ipsnews.net/2012/02/correcting-the-record-of-haitis-earthquake/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 29. Februar 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2012