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KATASTROPHEN/044: Japan - Senioren säubern Fukushima, NGOs klären Bevölkerung über Atomgefahren auf (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 29. November 2012

Japan: Senioren säubern Fukushima - NGOs klären Bevölkerung über Atomgefahren auf

von Kim-Jenna Jurriaans



New York, 29. November (IPS) - Im Ruhestand zu sein, bedeutet für den ehemaligen Industrieingenieur Yastel Yamada nicht, dass er sich einfach zurücklehnt. Der 73-Jährige und etwa 700 weitere Senioren aus ganz Japan helfen als Freiwillige dabei, an den gefährlichsten Stellen des 2011 havarierten Atomkraftwerks Fukushima Dai-ichi aufzuräumen. Damit wollen sie jüngere Generationen vor der extremen radioaktiven Strahlung schützen. Die Haltung der Regierung, die Gefahren für die Bevölkerung durch die Verseuchung herunterzuspielen, stößt im Land auf wachsenden Protest.

Yamada und seine Altersgenossen, die wie er die nötigen Fachkenntnisse für die Aufgabe haben, gehören zu einer wachsenden Zahl von Mitgliedern der Zivilgesellschaft, die aktiv werden, um die breite Öffentlichkeit über die unterschwelligen Risiken nuklearer Strahlung aufzuklären. Von der Regierung fordern sie entschlossenere Maßnahmen nach der größten Atomkatastrophe seit Tschernobyl 1986.

"Bis wir einmal Krebs bekommen, werden wir sowieso tot sein", sagt Yamada, dessen Organisation 'Skilled Veterans Corps for Fukushima' (SVCF) kürzlich durch die USA reiste, um auf ihr Engagement aufmerksam zu machen. Zu den Zielen von SVCF gehört auf internationaler Ebene politischen Druck aufzubauen, um die japanische Regierung dazu zu zwingen, sich um die Beseitigung der Folgen der Katastrophe zu kümmern. Die Veteranen fordern, dass internationale Experten an den Aufräumarbeiten in dem Nuklearkraftwerk beteiligt werden.

Schätzungen zufolge wird es 20 Jahre dauern, bis die Überreste des Atomunfalls in Fukushima beseitigt sind. Der Ort muss demnach sogar 40 Jahre lang überwacht werden. "Tschernobyl war zwar größer, aber nicht so kompliziert", sagt Yamada.

Die Verantwortung für Fukushima liegt bislang noch in den Händen der privaten Firma TEPCO. Yamada beunruhigen die geringen Sachkenntnisse der Firma zur Säuberung des Werksgeländes. Etwa 400 Firmen sind zurzeit an unterschiedlichen Arbeiten in Fukushima beteiligt.


Regierung will Kontrolle über Fukushima bei TEPCO belassen

Wie der Ingenieur kritisiert, behindert das ausgeklügelte System aus Unternehmen und Subunternehmen den Einsatz der Freiwilligen. Die Regierung habe kein Interesse daran, die Aufräumarbeiten der Kontrolle von TEPCO zu entziehen, meint er. Dabei werden der Erfolg oder das Versagen dieser Maßnahmen Konsequenzen für mehrere künftige Generationen von Menschen weltweit haben.

Enge Verbindungen zur Industrie, wechselnde Sicherheitsbestimmungen, umstrittene Messungen von Radioaktivität und widersprüchliche Informationen über den aktuellen Stand in Fukushima tragen dazu bei, dass immer mehr Japaner an dem Willen der Regierung zweifeln, die Bevölkerung zu schützen.

Mediziner versuchen die Bevölkerung zu beruhigen, indem sie Gesundheitsgefahren herunterspielen. Hochrangige Wissenschaftler erklären, dass es mit der Strahlung in Fukushima nichts Ungewöhnliches auf sich hat. Im November präsentierte die Präfektur von Fukushima jedoch die Ergebnisse einer Gesundheitsstudie, der zufolge mehr als 42 Prozent von 47.000 untersuchten Kindern Schilddrüsenknoten oder Zysten entwickelt haben. Das sind weit mehr als die 1,6 Prozent Betroffenen, die in der einzigen weiteren Studie dieser Art, die 2001 in Nagasaki durchgeführt wurde, ermittelt werden konnten.

Der Mediziner Shinichi Suzuki von der Medizinischen Universität Fukushima, der die Studie leitete, sagte allerdings gegenüber dem ZDF, dass diese Ergebnisse nicht unbedingt mit dem Atomunfall zusammenhingen, sondern auch auf den häufigen Verzehr von Fisch und Meeresfrüchten zurückzuführen sein könnten.

Andere Ärzte reagieren auf solche Erklärungen mit Empörung. "Suzuki belügt das japanische Volk", sagte die Kinderärztin Yurika Hashimoto, die seit 15 Jahren praktiziert. "Die Menschen glauben nicht mehr daran." Sie machte keinen Hehl aus ihrem Misstrauen gegen einen Großteil der Informationen, die von der Regierung und hochrangigen Medizinern verbreitet werden. Um sich selbst nicht ständig hoher atomarer Strahlung auszusetzen, zog Hashimoto von Tokio nach Osaka um. In der Hauptstadt hatte sie ihre eigene Klinik geleitet.


Durchfall, Nasenbluten, Hautreizungen

Bei ihren kleinen Patienten in der Präfektur Fukushima und deren Umgebung hat die Ärztin immer häufiger Symptome wie Durchfall, Nasenbluten, Hautinfektionen und Bindehautentzündung beobachtet. Viele andere Ärzte nähmen diese Anzeichen für Verstrahlung hingegen nicht ernst, kritisierte sie.

Kazko Kawai, die in Shizuoka etwa fünf Stunden von Fukushima entfernt lebt, fühlte sich vor den Folgen der Katastrophe sicher, bis die lokalen Behörden damit begannen, nahe ihrer Heimatstadt radioaktive Überreste zu verbrennen, die durch den Tsunami in ihre Region geschwemmt worden waren.

Als Mitglied der Organisation 'Voices for Lively Spring' kam Kawai kürzlich nach New York. Sie hatte international tätige Ärzte dazu gebracht, ihre Gruppe zu einer Tour durch fünf japanische Städte einzuladen, um der besorgten Bevölkerung eine mobile Klinik und ein Informationszentrum für besorgte Bürger vorzustellen. "Wir sahen überall die gleichen Symptome", berichtete die deutsche Ärztin Dörte Siedentopf, die 20 Jahre lang Kinder aus Tschernobyl behandelt hat, in einem auf Video aufgezeichneten Interview mit Kawai.


"Die Ängste sind real"

Siedentopf und ihr US-Kollege Jeffrey Patterson von der Universität Wisconsin stellten Erkenntnisse vor, die sich weitgehend mit denen von Hashimoto decken. Wenn noch nicht gesagt werden könne, welche Symptome auf die atomare Strahlung zurückgingen, sollte die Forschung ausgeweitet werden, und praktische Ärzte sollten mehr Einfühlungsvermögen zeigen, sagte Patterson. "Es hilft nicht weiter, den Menschen zu sagen, sie sollten sich keine Sorgen machen", meinte er. "Die Ängste sind ganz real." Mediziner in Japan hätten heute zudem Diagnosemöglichkeiten, die es damals in Tschernobyl noch nicht gegeben habe.

Auch der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, Anand Grover, der kürzlich von einem elftägigen Besuch aus Japan zurückkehrte, drängte die Regierung in Tokio, einen größeren Teil der Bevölkerung regelmäßig untersuchen zu lassen. Im kommenden Juni will Grover dem UN-Menschenrechtsrat einen umfassenden Bericht vorlegen. Er kritisierte in diesem Zusammenhang, dass die japanische Bevölkerung bei Entscheidungen, die sie direkt beträfen, kein Mitspracherecht habe. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://svcf.jp/english
http://www.greenpeace.org/international/en/press/releases/Official- radiation-monitoring-stations-in-Fukushima-unreliable-Greenpeace/
http://www.heute.de/ZDF/zdfportal/web/heute- Nachrichten/4672/25318058/2049dd/Fukushima-Strahlensch%C3%A4den-bei- Kindern.html
http://www.ipsnews.net/2012/11/in-post-fukushima-japan-civil-society- turns-up-heat-on-officials/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2012