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KATASTROPHEN/059: Indien - Umweltschützer machen für 'Himalaja-Tsunami' Menschen verantwortlich (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 28. Juni 2013

Indien: Wenn Flüsse ihre Fesseln sprengen - Umweltschützer machen für 'Himalaja-Tsunami' vor allem menschliche Aktivitäten verantwortlich

von Sujoy Dhar


Bild: © Sujoy Dhar/IPS

Das indische Militär rettet einen Pilger in Uttarakhand vor den Fluten
Bild: © Sujoy Dhar/IPS

Neu-Delhi, 28. Juni (IPS) - Am Rande von Rudraprayag, einer Stadt im nordindischen Bundesstaat Uttarakhand, wo die vielen Tempel Touristen und Hindu-Pilger gleichermaßen wie Magneten anziehen, machen Reisende gern halt, um in einem populären Hotel am Ufer des Alakananda zu übernachten.

Der Alakananda ist einer der beiden Quellflüsse des Ganges, Indiens heiligem Strom. Eine Übernachtung in Flussnähe ist relativ preiswert, und viele in- und ausländische Touristen kommen hierher, um von den Hotelbalkonen die Berge und Gletscher zu bewundern, die 90 Prozent der Fläche des Bundesstaates einnehmen.

So idyllisch der Ort auch erscheinen mag, fest steht, dass das Hotel zu einer der schlimmsten Naturkatastrophen beigetragen hat, die Uttarakhand je erleben musste. Am 15. Juni riss eine Sturzflut, verursacht durch einen Wolkenbruch und Gletscherlöcher, tausende Pilger mit sich. Wissenschaftler sprechen deshalb inzwischen von einem 'Himalaja-Tsunami'.

Der Chefminister des Bundesstaates erklärte am 27. Juni, dass das Unglück mehr als 1.000 Menschen das Leben gekostet haben dürfte. Allein am Vormittag des gleichen Tages waren 300 Leichen aus dem Schlamm neben dem größten Tempel der Stadt Kedarnath geborgen worden.

Zahllose Touristen mussten tagelang unter fürchterlichen Bedingungen ausharren, bevor sie von den indischen Streitkräften aus dem Krisengebiet ausgeflogen werden konnten. Tausende Menschen werden noch vermisst, und viele Städte und Pilgerstätten sind nach wie vor unzugänglich, weil die wilde Flut ganze Straßenabschnitte, Geschäfte und Menschen davon geschwemmt hat.

Während die Regierung damit beschäftigt ist, zu retten, was zu retten ist, mehren sich kritische Stimmen, denen zufolge das Unglück keine unselige Zufallstragödie war, sondern durch die zügellose Entwicklung im Land der Götter verursacht wurde.


Illegale Bauprojekte und hunderte Dämme

Seit Jahren hat die boomende Tourismusindustrie den Bau von tausenden illegalen Gästehäusern ermöglicht. Zudem ist die Zahl der Wasserkraftwerke sprunghaft in die Höhe geschnellt. Darüber hinaus belasten etliche andere Infrastrukturprojekte, die den Horden von Besuchern das Leben erleichtern sollen, das fragile Ökosystem.

Wissenschaftlern zufolge haben auch die Dämme am Ganges, Eingriffe in das Flussbett und Bergbauaktivitäten die Region schwer in Mitleidenschaft gezogen. "Es wurde nicht seriös untersucht, inwiefern die Hunderte von Projekten überhaupt ökologisch und sozial vertretbar sind", meinte Himanshu Thakkar, Koordinator des Südasiatischen Netzwerks zu Dämmen, Flüssen und Menschen.

Laut Mallika Bhanot von 'Ganga Ahvaan', einem Forum zur Rettung des heiligen Stroms, wurde der Ganges insgesamt 244 Mal gestaut. Lediglich drei Staudämme wurden nicht gebaut, nachdem ein 100 Kilometer langer Gebietsstreifen vom Gletschertor Gomukh bis zur Stadt Uttarkashi im Dezember 2012 zur ökosensiblen Zone (ESZ) erklärt worden ist.

"Selbst diesen Bescheid der Zentralregierung versuchten die Behörden in Uttarakhand zu torpedieren", berichtet Bhanot. Dabei war ihm eine Untersuchung der Topographie mit dem Ziel vorausgegangen, die Menschen in dieser erdrutschgefährdeten Region zu schützen.

Es liegen inzwischen erschütternde Filmaufnahmen über das Ausmaß der jüngsten Katastrophe vor: Zu sehen sind mehrstöckige Häuser, die wie Kartenhäuser in sich zusammenstürzen und in den Fluten versinken. Brücken und Geschäfte gehen in den Wasserstrudeln unter. Aktivisten zufolge hätte dies alles verhindert werden können, wäre die Bundesstaatenregierung der Empfehlung nachgekommen, die Bebauung in Flussnähe und die Umleitung des Flussbetts einzustellen.


Kumulative Zerstörungskraft

Das Zentrum für Wissenschaft und Umwelt mit Sitz in Neu-Delhi sieht ebenfalls einen Zusammenhang zwischen dem Naturdesaster und der Art und Weise, wie die Entwicklung in der Region vorangetrieben wird. Für die CSE-Generaldirektorin Sunita Narain stellt sich die Frage, ob die Zentral- und die Bundesstaatenregierungen sich jemals über die kumulativen Auswirkungen der vielen Wasserkraftwerke an Flüssen und in den Bergen Gedanken gemacht haben. "Derzeit sind 70 Projekte am Ganges gebaut worden oder in Planung, die rund 10.000 Megawatt Strom generieren sollen", sagt sie.

Der Bhagirathi, der zweite Quellfluss des Ganges sei zu 80 Prozent seiner Strecke durch Ableitungskanäle und Reservoire in Mitleidenschaft gezogen, der Alakananda zu 65 Prozent, warnt Narain. In der Trockenzeit fielen große Flussabschnitte komplett trocken.

Dass sich solche Aktivitäten für die Projektentwickler als äußerst lukrativ erweisen, macht es für Umweltschützer schier unmöglich, sich mit ihren Warnungen vor den Folgen Gehör zu verschaffen. "Es gibt eine starke Baulobby in Uttarakhand, und viele Wahlkampfgelder fließen direkt aus den Wasserkraftprojekten", so die Expertin.

Ökologisch nachhaltige Alternativen gäbe es zuhauf. So ließe sich Strom für Turbinen aus der Verbrennung von Piniennadeln, aus Biomasse oder Mini-Wasserkraftwerken generieren. Doch das Interesse der großen Unternehmen an diesen weniger profitablen Projekten ist gleich null.


Regulierung des Tourismus gefordert

Der Tourismus ist das Rückgrat der Wirtschaft von Uttarakhand. Doch jeder weiß, dass der Ansturm von Besuchern und Pilgern viel zu gewaltig ist. Den amtlichen Angaben zufolge besuchten im letzten Jahr 42,2 Millionen inländische und 227.000 ausländische Touristen den Bundesstaat. Erwartet wird, dass sich die Zahlen bis 2017 verdoppeln werden. Dann darf sich der Bundesstaat auf 77,7 Millionen inländische Gäste und fast 400.000 ausländische Besucher gefasst machen.

Dieser Touristenansturm wird nicht nur mit Unmengen Müll und den Auswirkungen des erhöhten Transportaufkommens einhergehen, sondern darüber hinaus mit dem Bau von noch mehr Hotels und weiteren Entwicklungsprojekten.

Experten wie Thakkar sind der Meinung, dass der Fremdenverkehr auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse dringend reguliert werden muss. Doch der Widerstand dürfte groß sein. Jeder Tourist spült durchschnittlich 38 Dollar am Tag in die Region, und ein Großteil dieser Einnahmen fließt direkt der Bundesstaatenregierung zu.

Der Himalaja, die jüngste Gebirgskette der Welt, ist extrem anfällig für Erosion, Erdrutsche und Beben. "Es darf nicht sein", so Narain, "dass Entwicklung zu Lasten der Umwelt geht". (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.sandrp.in/
http://www.cseindia.org/
http://www.ipsnews.net/2013/06/a-man-made-himalayan-tsunami/

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IPS-Tagesdienst vom 28. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2013