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KATASTROPHEN/125: Die Politik der Unsichtbarmachung der Gesundheitsfolgen von Tschernobyl (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 692-693 / 29. Jahrgang, 5. November 2015 - ISSN 0931-4288

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Die Politik der Unsichtbarmachung der Gesundheitsfolgen von Tschernobyl

von Annette Hack


Olga Kuchinskaya zeichnet Wellen der Sichtbar- und Unsichtbarmachung der Gesundheitsfolgen von Tschernobyl in Belarus nach.

'Die Politik der Unsichtbarkeit' nannte Olga Kuchinskaya, Assistenzprofessorin an der Universität Pittsburgh (USA), ihre 2014 erschienene Arbeit über die öffentliche Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung der gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl auf dem Gebiet der Republik Belarus. Die Autorin stützt sich auf die Auswertung gedruckter Quellen (Zeitungen, Zeitschriften, Informationsbroschüren, amtliche Berichte) und zahlreiche Interviews mit Beteiligten und Betroffenen aus dem Zeitraum 1986 bis etwa 2012 und zeichnet Wellen der Sichtbar- und Unsichtbarmachung der Gesundheitsfolgen von Tschernobyl in Belarus nach.

Nicht das tatsächliche Ausmaß der Gesundheitsschäden steht im Mittelpunkt der Darstellung. Es geht eher um die Frage nach den politischen und institutionellen Bedingungen, unter denen eingetretene und potentielle Schäden sichtbar gemacht und als Folge der radioaktiven Belastung erkannt werden können. Und auf der anderen Seite um die Frage nach den Bedingungen und Konstellationen, unter denen sogar bereits erkannte Schäden wieder 'unsichtbar' werden und andere gar nicht erst in den Bereich des 'Sichtbaren' gelangen können.

Zu Zeiten der Sowjetunion, so stellt es Kuchinskaya dar, wurde die Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl auch in der belorussischen SSR zentral von Moskau aus gesteuert. Das bedeutete 1986 zunächst: mangelnde Information, Geheimhaltungsvorschriften, Anweisungen zum Herunterrechnen von Strahlendosen und - unter Beteiligung internationaler Experten - Herunterspielen, ja Leugnen, der Konsequenzen für die allgemeine Bevölkerung. In diese Zeit fällt auch die Etikettierung manifester Gesundheitsprobleme und der Sorgen in der Bevölkerung als "Radiophobie".

Die zulässige Dosis für die Allgemeinbevölkerung wurde auf 100 Millisievert pro Jahr festgesetzt (nach 500 Millisievert pro Jahr in den ersten Wochen nach dem Unfall). 1987 wurde dann ein Grenzwert von 500 Millisievert für die Lebenszeitdosis über 70 Jahre festgesetzt. Die Bevölkerung sollte auch in hochkontaminierten Gebieten wohnen bleiben, jedoch mit unbelasteter Nahrung versorgt und durch Dekontaminationsmaßnahmen in die Lage versetzt werden, wieder Nahrungsmittel zu produzieren. Das erwies sich angesichts der Versorgungsprobleme in der späten Sowjetunion als undurchführbar. Die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln war unverzichtbar.

Die sowjetische Strahlenschutzkommission unter Leonid Ilyin setzte im Herbst 1988 die Lebenszeitdosis aus innerer und äußerer Strahlenbelastung über 70 Jahre auf 350 Millisievert (35 rem) fest, mit dem Argument, mögliche Gesundheitsfolgen des Unfalls von Tschernobyl würden "in einem Bereich unterhalb der Standardabweichung der spontanen Inzidenz der jeweiligen Krankheiten" liegen (100 f.)(3). In fast allen durch den Fallout kontaminierten Gebieten würden mit diesem Grenzwert Strahlenschutzmaßnahmen, insbesondere Umsiedlungen, nicht mehr erforderlich sein.

Mitte 1989, als die obersten Gremien der belorussischen SSR einen auf dem Moskauer Konzept beruhenden Fünfjahresplan diskutieren und beschließen sollten, der kaum Umsiedlungen und eine sofortige Reaktivierung der Landwirtschaft vorsah, fanden belorussische Wissenschaftler und Ärzte in den Medien ihres Landes erstmals Gehör für eine andere Auffassung. Sie argumentierten, daß Menschen nicht in Gebieten leben sollten, in denen es unmöglich sei, unkontaminierte Nahrung zu produzieren oder die Bewohner damit zu versorgen. Sie kritisierten außerdem, daß der Moskauer Entwurf nicht vorsah, die Strahlendosen für den Einzelnen und eventuelle Gesundheitsfolgen tatsächlich zu ermitteln und nachzuverfolgen.

Zeitgleich erschienen erstmals Karten der Kontamination und Belastungstabellen in belorussischen Zeitungen, die etwa ein Viertel des Territoriums der belorussischen SSR als kontaminiert auswiesen.

Als durch die öffentliche Diskussion die Ausmaße der Probleme allmählich deutlich wurden, kam es in Minsk und Gomel' zu Protestaktionen und Streiks gegen die Untätigkeit der Behörden; es wurde unter anderem mehr materielle Hilfe aus Moskau verlangt.

Kuchinskaya macht darauf aufmerksam, daß die Behörden - in sowjetischer Tradition - keine Erfahrung mit der Entwicklung von Gesetzen und bürokratischen Verfahrensweisen im Umgang mit ökologischen Katastrophen hatten, und daß die Wissenschafts- und Technikgläubigkeit tief im öffentlichen Bewußtsein verwurzelt waren. Das Verdienst belorussischer Wissenschaftler in diesen Jahren ist nach Kuchinskaya, "die methodischen Ansätze der sowjetischen Wissenschaftler in Frage gestellt und die als objektive Wissenschaft camouflierten eigennützigen Interessen der Sowjetadministration enthüllt zu haben." (92)

Das belorussische Konzept zur Bewältigung der Tschernobylfolgen bestand in einer Aufteilung der belasteten Gebiete in Zonen, für die je nach der gemessenen Bodenbelastung Umsiedlungen mit unterschiedlicher Dringlichkeit und verschiedene soziale Vergünstigungen für die strahlenexponierten Bewohner vorgesehen waren (104).

Wissenschaftler vor Ort merkten an, daß die Bodenbelastung kein hinreichendes Kriterium für Strahlenschutzmaßnahmen sei, da sie die Bodenbeschaffenheit, die Migration von Nukliden und die Dauer der Strahlenexposition nicht berücksichtige. Auch werde der unterschiedlichen Strahlenempfindlichkeit keine Rechnung getragen.

Immerhin wurde im Zuge der zunehmend öffentlichen Diskussion sichtbar, daß die Katastrophe größer war als zuvor eingeräumt.

Das 1991 unabhängig gewordene und aus dem Zusammenhang der zusammenbrechenden sowjetischen Ökonomie ausgegliederte Belarus mußte 1992 19,9 Prozent seines Staatshaushaltes für die Bewältigung von Tschernobylfolgen ausgeben. Die erhoffte internationale Hilfe blieb weitestgehend aus.

Die Regierung setzte daher 1993 eine Arbeitsgruppe unter dem Radiochemiker E.P. Petryaev ein, um einen neuen Plan für den Umgang mit den Tschernobylfolgen in Belarus zu erarbeiten. Petryaevs Konzept erklärte die Periode der Notfallmaßnahmen für beendet. Man müsse mit der Strahlung zu leben lernen, hieß es nun in den Medien. Trotz Kritik aus der Parlamentskommission und mehrfacher Ablehnung durch die belorussische Akademie der Wissenschaften wurde das Konzept Ende 1995 von der Regierung angenommen. Einziges Kriterium für die Zoneneinteilung war nun die durchschnittliche effektive Jahresdosis.

Diese konnte, so Kuchinskaya, nicht so einfach wie die Bodenkontamination gemessen werden, sondern mußte durch Experten abgeschätzt werden, wobei die Verfahren kontrovers und für die Öffentlichkeit intransparent waren. Etwa 70 Prozent der belasteten Gebiete wurde nun eine durchschnittliche Jahresdosis von unter 1 Millisievert zugeschrieben - zusätzliche Schutzmaßnahmen sollte es dort nicht mehr geben, die sozialen Vergünstigungen entfielen. Ein Dorf nach dem anderen verlor ab 1996 im Rahmen des neuen Fünfjahresplans zur Bewältigung der Folgen von Tschernobyl seinen Status als kontaminiertes Gebiet. Auch höher belastete Flächen sollten wieder landwirtschaftlich bebaut werden. Nur die radioaktiven Belastungen der Region Gomel' ließen sich mit der neuen Herangehensweise nicht wegdefinieren.

Kritiker merkten an, daß in den derart definierten Zonen durchaus Belastungen von bis zu 5 Millisievert vorkommen könnten, vor allem durch Lebensmittel aus Eigenanbau und andere über den amtlichen Lebensmittelgrenzwerten liegende Nahrung. Außerdem seien die tatsächlichen Strahlendosen praktisch nicht nachzuverfolgen. Damit, so resümiert Kuchinskaya, war die Sichtbarkeit der Tschernobyl-Kontamination für die Öffentlichkeit reduziert und das Ziel der Kostenreduktion wie bei dem zuvor verworfenen sowjetischen Ansatz erreicht. Gleichzeitig wurde in der medialen Darstellung die radioaktive Kontamination als Folge der Nuklearkatastrophe in erster Linie zu einer ökonomischen Katastrophe.

Das Sichtbarmachen von Schäden und Risiken erfordert eine wissenschaftliche und technische Infrastruktur zur systematischen Erhebung und Auswertung von Daten nach anerkannten Normen. Einen bedeutenden Teil dieser Arbeit erledigte in Belarus die Organisation Belrad. Unter Leitung von Vassily Nesterenko gründete und betrieb sie zwischen 1991 und 1993 an 370 Orten staatlich finanzierte Strahlenschutzzentren, in denen vor allem Lebensmittelmessungen durchgeführt wurden. Ab 1996 kamen Ganzkörpermessungen hinzu. Nach Kuchinskayas Darstellung gehörte Nesterenko vorher zum sowjetischen Nuklearprogramm und war mit der Entwicklung eines mobilen Reaktors befaßt (109). Er habe auch aus diesem Grunde national und international Ressourcen mit dem Ziel mobilisieren können, ein "System vollständiger Kontrolle der individuellen Dosen aufzubauen" (108). Dies gelang nicht. Schon 2003 gab es nur noch 40 staatliche und 19 von Belrad finanzierte und betriebene Zentren, von denen 2007 die meisten aufgrund staatlicher Anordnung schließen mußten.

Das 1989 beschlossene Programm zur Bewältigung der Tschernobylfolgen in Belarus hatte ein ambitioniertes Forschungsprogramm in vier Bereichen vorgesehen: Umweltforschung in kontaminierten Gebieten, Techniken und Methoden zur landwirtschaftlichen Produktion unter Kontaminationsbedingungen, Auswirkungen der Strahlenbelastung auf die menschliche Gesundheit (einschließlich Diagnostik und Therapie) sowie Dekontaminationsforschung (einschließlich Radiometrie und Dosimetrie). Bis 1996 waren 18 Institute der Akademie der Wissenschaften und über 20 weitere wissenschaftliche Einrichtungen an der Verwirklichung dieses Programms beteiligt. Die Forschung zu den Gesundheitsfolgen umfaßte epidemiologische Studien, Untersuchungen zu den Strahlenwirkungen auf die Funktionssysteme des menschlichen Körpers sowie Untersuchungen zur kombinierten Wirkung von Strahlung und anderen Faktoren auf die Gesundheit der strahlenexponierten Bevölkerung (141).

In der Wirtschaftskrise vor und nach der Unabhängigkeit des Landes hatten alle Forschungseinrichtungen Schwierigkeiten, ihre Apparate und Einrichtungen instand zu halten, das Personal mußte halbiert werden. Gerade an den Tschernobylprojekten aber wurde freiwillig viel unbezahlte Arbeit geleistet. Im Zusammenhang mit der administrativen Unsichtbarmachung der Strahlenbelastung wurden auch die Forschungen reduziert. Grundlagen, die in den frühen Jahren gelegt worden waren, konnten daher nicht weiterverfolgt werden. Mit der Verlegung oder Schließung von Forschungseinrichtungen wurden Datensammlungen nicht weitergepflegt, Forschungsansätze gekappt und Forschungsvorhaben unter den Vorbehalt praktischen Nutzens und "ökonomischer und sozialer Effizienz" (145) gestellt. Darunter litten die Grundlagenforschung, aber auch das Screening und die sorgfältige Führung einer Statistik, die spätere epidemiologische Studien erst ermöglichen würde. Junge Wissenschaftler werden eher entmutigt, sich mit Tschernobylforschung zu befassen.

Damit entstand auch in Belarus der bekannte Teufelskreis, daß gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis aus Mangel an Forschungskapazität nicht zu erhalten ist, während sich die Bürokratie bei der Konzeption - oder Vermeidung - von Schutz- und Vorsorgemaßnahmen auf den Mangel an gesicherter Erkenntnis beruft.

Olga Kuchinskaya hat die jährlichen Regierungsberichte über die Folgen der Katastrophe kritisch gelesen und festgestellt, daß sich die Darstellung im Laufe der Zeit der Sichtweise von IAEA, WHO und UNSCEAR annähert, die nur den Schilddrüsenkrebs bei Kindern als Folge des Tschernobyl-Fallouts anerkannten, und die manifeste Zunahme anderer Krebsarten und nicht kanzerogener Erkrankungen auf soziale und vor allem psychische Belastungen zurückführen. In den frühen Berichten waren diese Organisationen noch kritisiert und offen als "voreingenommen" bezeichnet worden.

"... internationale Strahlenexperten schienen 'psychische Belastungen' als Konzept zu behandeln, das keinerlei Selbsteinschätzung oder Zeugnisse aus der betroffenen Bevölkerung selbst erforderte. Die Autorität von Nuklearexperten war also offenbar ausreichend, [krankhafte] Angst bei ganzen Völkern zu diagnostizieren." (119, im Original: 'anxiety'), bemerkt Kuchinskaya. Diese 'Angst' wird in den Berichten des Internationalen Tschernobylforums in Wien 1996 vor allem auf den Streit unter den Wissenschaftlern über die Strahlenrisiken zurückgeführt. Eine solche Sicht impliziere, so Kuchinskaya, daß die Einschätzungen der Wissenschaftler das einzige seien, was die Bedeutung von Strahlenfragen in der öffentlichen Wahrnehmung ausmache. Die betroffene Bevölkerung werde als einförmige Gruppe gesehen, deren Deutung der Strahlenfolgen nicht etwa von ihrer wirtschaftlichen Lage, ihrer Bildung, ihrer Kultur oder anderen Faktoren beeinflußt werde; die Experten pflegten Distanz zu den Betroffenen, Verfahren zum Austausch oder zur Berücksichtigung der gelebten Erfahrung der Betroffenen, einschließlich gesundheitlicher Fragen, gebe es nicht. Dagegen wollte sich das Tschernobyl-Forum ab 2003 der Mithilfe von "Spezialisten für öffentliche Information" bedienen, um die "autoritativen" Aussagen seiner Experten zu vermitteln.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts dominiert in den Berichten der UN-Organisationen für Entwicklung (UNDP) und Kinder (UNICEF) die Ökonomie - der belarussischen Regierung wird eine drastische Reduktion der Strahlenschutzprogramme wie etwa des kostenlosen unkontaminierten Schulessens empfohlen. Auch die internationalen Tschernobyl-Hilfsprogramme sollten auf "Kosteneffizienz" überprüft werden und sich nicht primär auf Gesundheitsfolgen beziehen (130).

Projekte wie ETHOS und CORE konzentrierten sich darauf, den in kontaminierten Gebieten lebenden Menschen "praktische Fähigkeiten zur Risikoreduktion bei Strahlenexposition" zu vermitteln - anders gesagt: die Arbeit der Bewältigung einer lang andauernden Kontamination und des Strahlenschutzes auf die Betroffenen abzuwälzen.

Statt unermüdlich zu wiederholen, daß die Betroffenen von den Strahlenrisiken nichts verstehen, sollte sich die Wissenschaft - vor allem die sich als maßgeblich aufführenden internationalen Gremien - institutionell diversifizieren, Kritiker und lokale Experten nicht ausschließen und das Gespräch mit den Betroffenen suchen, empfiehlt Kuchinskaya. Es sollte sichergestellt werden, daß an der Gewinnung und Verbreitung von Wissen und Kenntnissen kontinuierlich und angemessen langfristig gearbeitet werden könne.

Kuchinskayas Arbeit ist keine einfache, aber eine lohnende Lektüre. Die Fragen, die sie aufwirft, sind auch im Lichte des Unfalls in Fukushima Dai'ichi noch nicht beantwortet.


Kuchinskaya, Olga: The Politics of Invisibility - Public Knowledge about Radiation Health Effects after Chernobyl. MIT Press 2014, ISBN 978-0-26202769-4.


Anmerkung

(3) Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen des besprochenen Buches.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_15_692-693_S10-12.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, November 2015, Seite 10 - 12
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
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Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2016

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