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KATASTROPHEN/147: Fukushima - "Freimessen" auf japanisch (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 724-725 / 31. Jahrgang, 2. März 2017 - ISSN 0931-4288

Folgen von Fukushima
Verseuchter Boden aus Dekontaminierungsarbeiten in Fukushima wird in Straßen, Deichen und öffentlichen Bauten wiederverwendet

Von Thomas Dersee


"Freimessen" auf japanisch

Auf scharfe Kritik in der lokalen japanischen Bevölkerung, den Verwaltungen der betroffenen Gemeinden und sogar in der traditionell industrienahen japanischen Atomregulierungsbehörde NRA stößt das "Experiment" des japanischen Umweltministeriums, verseuchten Bodenaushub aus den Dekontaminierungsarbeiten in der Präfektur Fukushima beim Straßen- und Deichbau sowie in Fundamenten von öffentlichen Bauten "konstruktiv" zu verwerten. Das hatte das Ministerium am 30. Juni 2016 offiziell beschlossen, um die durch die Dekontaminationsversuche in der Präfektur Fukushima, dem Abtragen verseuchter Erdschichten, durch die Ansammlung radioaktiver Ernteprodukte und Laub anfallenden Mengen an Atommüll zu "entsorgen". Die Verwertung der Materialien wurde erlaubt, solange der Boden nicht mehr als 8.000 Becquerel Radiocäsium pro Kilogramm enthält. In einer nicht öffentlichen Sitzung des Ministeriums wurde das entschieden, obwohl dies im Widerspruch zu den Dekontaminationskriterien für landwirtschaftliche Böden steht. Das hatte die japanische Zeitung The Mainichi am 5. Juli 2016 berichtet.

Das japanische Gesetz über die Regulierung von Kernmaterial, Kernbrennstoff und Reaktoren legt dagegen für die Wiederverwertung von Metallen und anderen Materialien aus der Stilllegung von Kernreaktoren einen Höchstwert von 100 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) fest. Materialien, bei denen dieser Wert überschritten wird, sollen als "radioaktive Abfälle in der Erde begraben werden", wie The Mainichi schreibt. Begründet wurde der Wert von 100 Bq/kg mit Standards der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP), denen zufolge eine damit verbundene jährliche Strahlenbelastung von bis zu 0,01 Millisievert (mSv) zu vernachlässigbaren Risiken führen soll.

Im Dezember 2011 erlaubte das japanische Umweltministerium, auf Drängen der betroffenen Gemeinden die Wiederverwertung von Beton-Trümmern und andere Ablagerungen aus dem großen Erdbeben in Ost-Japan im Frühjahr 2011 und dem nachfolgenden Tsunami bis zu einer Grenze von 3.000 Bq/kg Radiocäsium (Cäsium-137 plus Cäsium-134). Laut Dokumenten, die in Reaktion auf Forderungen nach Informationen freigegeben und von Mainichi Shimbun veröffentlicht wurden, sind in Minamisoma sowie in den Städten Namie und Naraha etwa 350.000 Tonnen dieser Art von Trümmern verbaut worden.

Nach im Januar 2012 in Kraft getretenen Sondermaßnahmen zur Dekontaminierung infolge der Katastrophe von Fukushima, werden Abfälle, deren Strahlenbelastung 8.000 Bq/kg übersteigt, als Abfälle gekennzeichnet und müssen gesondert behandelt werden. Abfälle mit Aktivitäten darunter dürfen dagegen wie normale Abfälle behandelt werden. Bei 8.000 Bq/kg werde die Strahlenbelastung für den einfachen Bürger damit auf 1 Millisievert jährlich begrenzt, heißt es. Den Widerspruch zwischen den beiden Normen 100 und 8.000 Bq/kg hatte das Umweltministerium früher damit erklärt, daß es sich dabei einerseits um "Wiederverwendung" und im zweiten Fall um "Abfallentsorgung" handele. Der neue Beschluß zur Wiederverwertung kontaminierter Böden bis 8.000 Bq/kg vom Juni 2016 steht dazu im Widerspruch.

Im April 2011 hatte zudem das japanische Ministerium für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei nach der Katastrophe von Fukushima den Reisanbau auf Nassfeldern mit mehr als 5.000 Bq/kg Bodenbelastung verboten. Während die Einschränkungen nur für ein Jahr galten, wurde das gleiche Kriterium für die anschließende "Dekontamination" eingeführt, bei der Oberflächenböden von mehr als 5.000 Bq/kg entfernt und Oberflächen mit darunter liegenden Aktivitätswerten "durch tiefere Erdschichten ersetzt" werden, also umgegraben bzw. umgepflügt werden sollen.

Die japanische Atomregulierungsbehörde NRA kritisierte, es sei nicht klar, wie das Umweltministerium eine sichere Handhabung der kontaminierten Materialien sicherstellen wolle, und wie lange sich das Ministerium dafür zuständig fühlen werde. Wenn die Straßen, Deiche und Bauten repariert und nach einigen Jahrzehnten ersetzt werden müßten, sei zu befürchten, daß die kontaminierten Materialien schließlich illegal in der Umwelt deponiert oder ohne weitere Kennzeichnung weiter genutzt werden. Das mache es notwendig, wieder zu einem Wert von 100 Bq/kg zurückzukehren.

Am 6. Februar 2017 meldete The Mainichi nun, der Wert von 8.000 Bq/kg Radiocäsium sei wieder wegen starken lokalen Widerstands auf den früheren Wert von 3.000 Bq/kg gesenkt worden.

Kommentar: Parallele in Deutschland

Auch in Deutschland werden heute kontaminierte Materialien wissentlich freigesetzt. Das betrifft rund 95 Prozent der Abrißmengen aus stillgelegten Atomkraftwerken, nur 5 Prozent sollen "endgelagert" werden. Für die Wiederverwertung, die sogenannte uneingeschränkte Freigabe, dürfen diese Materialien der Strahlenschutzverordnung zufolge bis zu 600 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm und für die Beseitigung auf Deponien (eingeschränkte Freigabe) 10.000 Bq/kg enthalten. Für Cäsium134 sind es noch einmal 200 bzw. 10.000 Bq/kg die hinzukommen dürfen. Die deutsche Strahlenschutzverordnung listet circa 300 Radionuklide auf und gibt Grenzwerte für die Freigabe vor. Zum Beispiel für Tritium, den radioaktiven Wasserstoff, dürfen es demnach bis zu 1 Million Bq/kg für die uneingeschränkte und bis 1 Milliarde Bq/kg für die eingeschränkte Freigabe sein. In Zahnspangen, Kochtöpfen, Heizkörpern und Baumaterialien können sich so große Mengen an Radioaktivität wiederfinden. Ein Becquerel (Bq) ist ein radioaktiver Zerfall pro Sekunde. Das ist eine gefährliche Entwicklung.


Anmerkungen

The Mainichi, 05.07.2016: Reuse of radioactive soil feared to trigger illegal dumping,
http://mainichi.jp/english/articles/20160705/p2a/00m/0na/012000c

The Mainichi, 05.01.2017: Environment Ministry deleted some of its remarks from minutes on contaminated soil meet,
http://mainichi.jp/english/articles/20170105/p2a/00m/0na/007000c

The Mainichi, 09.01.2017: Nuclear watchdog questions Environment Ministry's plan to reuse radioactive soil,
http://mainichi.jp/english/articles/20170109/p2a/00m/0na/012000c?mode=print

The Mainichi, 06.02.2017: Radiation limit for contaminated soil in reuse experiment lowered after local opposition,
http://mainichi.jp/english/articles/20170206/p2a/00m/0na/009000c


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_17_724-725_S04.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, März 2017, Seite 4
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
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Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2017

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