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PROJEKT/120: Tiger auf Sumatra - Eine Spurensuche (WWF Magazin)


WWF Magazin, Ausgabe 4/2019
WWF Deutschland - World Wide Fund For Nature

Spurensuche
Es gibt wieder mehr Tiger


Es gibt wieder mehr Tiger. Das ist die gute Nachricht, nachdem die Großkatze durch Wilderei und Waldvernichtung fast ausgerottet war. Doch kann die angestrebte Verdoppelung des Tigerbestands bis 2022 gelingen? Die Situation ist in einigen Regionen nach wie vor kritisch - vor allem auf Sumatra, berichtet WWF-Tigerexpertin Kathrin Samson.


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Diese Zahl nennt Mansur auf meine Frage, wie viele Tiger er in seinem Leben schon getötet habe. Stille. Ich versuche, Bedauern in ihm zu erkennen. Aber ich sehe nichts. Sein Blick ist so nüchtern wie seine Antwort.

"Tut es dir leid?", frage ich. Es regnet in Strömen. Der Stromgenerator, der die Rangerstation hier mitten im Wald mit Elektrizität versorgt, surrt so laut, dass man sich fast anschreien muss. Während ich meine Fragen auf Englisch stelle, antwortet Mansur (Name von der Redaktion geändert) auf Bahasa, der indonesischen Landessprache. Sunarto, der Leiter des Tigerschutzprogramms vor Ort, übersetzt. In der feuchten Luft hängt der Geruch von Nelkenzigaretten.

"Nein", sagt Mansur. Aber das, was er heute macht, findet er auf jeden Fall besser, fügt er hinzu. Jetzt schützt er Tiger, anstatt sie zu töten - im Rimbang-Baling-Wildtierreservat in Zentralsumatra. Mansur ist Teil der Tiger Protection Unit (TPU), einer Tigerschutztruppe des WWF. Ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren, bei dem es schwerfällt, sein Alter zu schätzen. Sein Gesicht ist gezeichnet von unzähligen Tagen und Nächten draußen in der Natur. Eine Schule hat er nie besucht. Aber den Wald kann er lesen. Er sieht Spuren, an denen andere vorbeilaufen. Auch die der Wilderer. Er kann erkennen, wer die Schlingfalle für die Tiger gelegt hat. Und wenn ein Tiger in der Nähe ist, spürt er ihn.

Regenwaldinsel im Plantagenmeer

Das Rimbang-Baling-Wildtierreservat ist ein Schutzgebiet im Herzen Sumatras, mit fast 140.000 Hektar Fläche so groß wie Berlin und Köln zusammen. Wegen seiner bergigen und unwegsamen Landschaft blieben weite Teile dieses Regenwaldgebiets bislang von Holzfällertrupps verschont. Rimbang Baling ist Tigerland. 25 Großkatzen wurden hier wissenschaftlich nachgewiesen. Auf ganz Sumatra wird die Zahl der Sumatra-Tiger auf nur noch 370 geschätzt. Diese kleinste Tigerunterart - die einzige mit Schwimmhäuten - kommt nur auf dieser indonesischen Insel vor. Neben dem rapiden Verschwinden ihres Lebensraums gibt es vor allem eine Gefahr für sie: die Wilderei.

Grausame Schlingfallen

In Vierergruppen suchen die Wildhüter den dichten Wald nach Schlingfallen ab. Auch Mansur hat sie benutzt. Sie sind einfach aus billigem Draht zu bauen und schnell im Wald ausgelegt. Tritt ein Tiger hinein, zieht sich die Schlinge zu und schnellt mit großer Kraft zurück. Den Tiger reißt es am Bein nach oben. Dort hängt er meist, bis er verendet. Dann kann ihn der Wilderer ohne Gefahr abnehmen.

Selten werden die gefangenen Tiger mit einem Köder vergiftet oder durch das Auge erschossen, um das begehrte Fell möglichst heil zu lassen. Noch seltener gelingt es einem Tiger zu fliehen. Dazu beißt er sich die Pfote ab, an der er aufgehängt ist. Meistens stirbt er dann an Infektionen. Oder er verhungert, weil er verletzt und mit drei Beinen nicht mehr jagen kann.

Vom Saulus zum Paulus

Niemand kennt die organisierte Wilderei hier besser als Mansur. Und er tut etwas, das er besser kann als jeder andere Wildhüter oder WWF-Kollege: Er tritt mit mutmaßlichen Wilderern in Kontakt und versucht, auch sie zu Tigerschützern zu machen. Sechs Wilderer konnte er bereits umstimmen.

"Warum machst du das?", möchte ich von ihm wissen. Mansur lacht. Auch von ihm wusste man, dass er wildert, doch erwischt wurde er nie. Deshalb hatte der WWF ihn regelmäßig kontaktiert, um ihn als Wildhüter zu gewinnen. Aber ein ums andere Mal hatte er uns abblitzen lassen. Doch mit der Zeit, so sagt er, habe sich etwas in ihm verändert. Da ist zum einen die Gefahr, bei der Wilderei erwischt zu werden. Aber vor allem habe er immer mehr verstanden, dass er zur Ausrottung einer bedrohten Art beitrage. Und das wollte er nicht mehr.

Es war ein langer Weg für ihn. Bereits als Kind war er einer der besten Vogelfänger in seinem Dorf und trug damit zum Einkommen seiner Familie bei. Doch ein Ranger zu werden, das war eine neue Perspektive für ihn. "Heute habe ich ein regelmäßiges Einkommen. Als Teil der Tigerschutzeinheit kann ich meine Familie ernähren und mein Wissen für etwas Gutes und Legales nutzen. Und meine Familie und ich sind dank des WWF versichert", sagt er.

In den schwer zugänglichen Bergen des Rimbang-Baling-Wildtierreservats sind derzeit 22 Wildhüter im Einsatz. Oft sind sie mehr als vier Wochen im Feld unterwegs, um an entlegenen Orten Kamerafallen zu installieren oder deren Aufnahmen auf ihre Rechner zu übertragen. Der WWF unterstützt sie bei der Ausrüstung, vom Funkgerät bis zur Kamerafalle.

Ihnen stehen mindestens 25 Wilderer entgegen, die in derselben Gegend Tiger und andere geschützte Arten jagen. Ein Missverhältnis: Um Wilderei effizient zu bekämpfen, sollte es, so eine Faustregel, 70 Prozent mehr Wildhüter als Wilderer geben. Aber dazu fehlen dem Staat bislang die Mittel.

Kameras zur Artkontrolle

Immerhin konnten die Wildhüter in Rimbang Baling bereits 350 Kamerafallen installieren. Diese liefern wichtige Informationen über die Tiger und ihre Beute - oder ob eine Großkatze verschwindet. Denn wird ein Tiger gewildert, lassen die Wilderer nicht das kleinste Teil zurück. Das macht es so schwierig, Wilderei nachzuweisen. Erst durch das flächendeckende Überwachen mit Kamerafallen findet man heraus, ob sich die Tiger und ihre Beutetiere erholen - oder ein Tiger aus der letzten Zählung nicht mehr auftaucht.

Die Lieferkette der Wilderei

Um erfolgreich gegen Wilderei vorgehen zu können, muss man verstehen, wie dieses grausame Geschäft funktioniert. Die Wilderer stammen ausschließlich aus den Gemeinden vor Ort. Die gewilderten Tiere werden an einen sogenannten Kollektor verkauft. Der gibt die Ware an einen zweiten Kollektor auf höherer Ebene weiter. Der wiederum verkauft sie an einen Händler.

Die Händler besitzen häufig Genehmigungen für den legalen Handel mit bestimmten Arten - was schlimm genug ist, weil diese Tiere auf oft grausame Weise gefangen wurden. Doch mit Schmiergeldern an Kontrolleure bekommen sie auch explizit verbotene Ware wie Tiger oder Tigerprodukte über Grenzen in die Abnahmeländer. Bei Tigern ist das meistens China.

Viele Wege führen zum Ziel

Um gegen diese kriminellen Netzwerke eine Chance zu haben, setzt der WWF beim Tigerschutz in Rimbang Baling auf mehreren Ebenen zugleich an. Zunächst gilt es, die Versuchung zu mindern: Um die Menschen resistenter gegen die Geldversprechen der kriminellen Händler zu machen, entwickelt der WWF zusammen mit lokalen Organisationen wie Yapeka und Indecon alternative Einkommensquellen. Zum Beispiel durch den Auf- und Ausbau von Ökotourismus. Immer mehr Reisende übernachten bereits bei Familien in den Dörfern. Touristenführer werden ausgebildet und als Regenwaldguides eingesetzt. Auch ökologischer Landbau wird gefördert. Mit eigenem Dünger aus Biogasanlagen konnten die Erträge der Felder in den vergangenen vier Jahren zum Teil versechsfacht werden.

Ganz wichtig ist auch Umweltbildung: In den Schulen werden Kinder und Jugendliche für den Naturschutz gewonnen. Außerdem unterstützt der WWF Dörfer, damit sie sich gegenüber großen Palmöl- oder Kautschukunternehmen behaupten können. Diese Firmen setzen sich oftmals über die Rechte lokaler Bewohner hinweg und eignen sich Stück für Stück mehr Land an.

Darüber hinaus will der WWF in den kommenden Jahren weitere Wildhüter für die Tiger Protection Unit bevorzugt aus lokalen Gemeinden anwerben. Er hat vor, vermehrt Metalldetektoren zum Einsatz zu bringen - in der Hoffnung, damit effektiver Schlingfallen aufzuspüren und unschädlich zu machen. Doch nicht nur auf lokaler Ebene setzt das Tigerschutzprogramm des WWF an. Um Wildtierkriminalität aufzudecken und zu verfolgen, werden Polizisten, Staatsanwälte und Zollbeamte auf nationaler Ebene mit Partnern vor Ort in die Anti-Wilderer-Arbeit eingebunden und geschult. Alle überführten Täter entlang der Wildereikette müssen nicht nur gefasst, sondern auch entsprechend bestraft werden.

Brennpunkt China

Der enorme Wildereidruck auf die letzten frei lebenden Tiger kann nur auf internationaler Ebene verringert werden. Tigerteile und -produkte haben meist China oder Vietnam als Endziel. Dort ist der Glaube an deren heilende oder Glück bringende Wirkung bei vielen Konsumenten ungebrochen. Entsprechend groß ist die Nachfrage. Diese wird auch von den berüchtigten Tigerfarmen bedient, in denen etwa 8000 Tiger leben, doppelt so viele wie aktuell in freier Wildbahn. Die Bedingungen in den Käfigen sind unvorstellbar. Die Tiere werden zum Teil zu Hunderten eingepfercht und auf Betonboden gehalten.

Drei Viertel dieser Farmtiger werden in China gehalten, die anderen in Thailand, Laos und Vietnam. Allein in den chinesischen Farmen "Xiongsen Bear and Tiger Mountain Village" in Guilin und "Siberian Tiger Park" in Harbin befinden sich nach Angaben der Umweltorganisation Environmental Investigation Agency etwa 2300 Tiere. China ist das einzige Land, das den Verkauf von Körperteilen und Produkten von Tigern aus Gefangenschaft erlaubt. Nur der Handel mit Tigerknochen ist verboten.

Der legale Verkauf von Tigerprodukten aus Tigerfarmen heizt die Nachfrage weiter an. Darüber hinaus werden gewilderte Tiger fatalerweise in die Tigerfarmen geschmuggelt. So gelangen auch sie - zumindest in China - als legales Produkt auf den Markt. Eine Handelskontrolle, ob ein Tiger gewildert wurde oder aus einer Nachzucht stammt, ist so gut wie unmöglich. Der WWF fordert daher ein klares Handelsverbot für alle Tigerprodukte, egal aus welcher Quelle. Das bedeutet auch eine schrittweise Schließung der Tigerfarmen. Schrittweise, weil die in Gefangenschaft lebenden Tiger nicht in die Natur entlassen werden können, weil sie nicht jagen können und an Menschen gewöhnt sind. Sie müssen deshalb registriert, kastriert und artgerecht untergebracht werden.

Der Kampf gegen die Tigerwilderei wird daher vor allem in China entschieden werden. Im Jahr 2010 hatte das Land zusammen mit den zwölf anderen Tigerstaaten beim Tigergipfel im russischen Sankt Petersburg ein einzigartiges Versprechen gegeben: die Verdopplung der Tiger in freier Wildbahn bis zum nächsten chinesischen Jahr des Tigers 2022 auf 6400 Tiere.

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ERFOLGE

Einige Länder haben sich erfolgreich gegen Wilderei eingesetzt. Zum Beispiel Nepal: Dort hat sich die Zahl der frei lebenden Tiger von 121 Tieren 2009 auf 235 im Jahr 2018 erhöht.

Auch in Indien haben sich die Tigerbestände weiter erholt: 2017/2018 wurden dort 2967 Tiere wissenschaftlich gezählt, 1261 mehr als 2010.

In Russland ist die Zahl der frei lebenden Tiger ebenfalls seit 2010 angestiegen, um gut 70 auf jetzt mehr als 540 Tiere. All diese Erfolge zeigen, dass Tigerschutz funktioniert, wenn er politisch gewollt ist.



MISSERFOLGE

In Tigerstaaten wie Thailand, Malaysia, Myanmar und Indonesien gibt es bis heute keine wissenschaftliche Erhebung der Tigerbestände, um kontrollieren zu können, wie es den Tigern geht und was getan werden muss. Diese Länder geben für das Schutzgebietsmanagement oder den Kampf gegen Wilderei wesentlich weniger Geld aus. Fachleute befürchten daher, dass die Tigerbestände in diesen Ländern weiter abgenommen haben. Dort muss der WWF ansetzen. Denn solange die Nachfrage nach Tigerteilen auf schwache politische Strukturen trifft, wird sich die Wilderei ihren Weg bahnen.
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Hoffnung für 2022

Bis dahin gibt es noch viel zu tun. Deshalb setzt sich der WWF dafür ein, auch die bislang wenig aktiven Tigerstaaten zu einem verstärkten Tigerschutz zu bewegen. Hier haben erfolgreiche Länder wie Indien, Nepal oder Russland eine große Vorbildfunktion. Der WWF spielt dabei eine wichtige Vermittlerrolle und bringt Experten und Entscheider auf höchster politischer Ebene zusammen.

Die Erfolge der letzten Jahre zeigen: Noch kann der Kampf um das Überleben der Tiger gewonnen werden. Der wichtigste Schritt ist bereits vollbracht: Die Weltgemeinschaft hat sich dem globalen Tigerschutz verpflichtet. Jetzt müssen wir weiter gehen und für die praktische Umsetzung in allen Tigerländern sorgen - auf internationalem politischem Parkett genauso wie in den Tigerwäldern Sumatras. Zusammen mit Mansur und seinen Rangerkollegen werden wir um jeden einzelnen Tiger kämpfen, damit sich die Zahl der Tiger wie geplant verdoppelt.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Schnappschüsse
Kamerafallen und Computerprogramme helfen Biologen, Tiger zu erkennen und zu zählen. Auf dieser Seite sind zehn verschiedene Tiere zu sehen.

Auf verschlungenen Pfaden
Wer im dampfenden Dschungel des Rimbang-Baling-Wildtierreservats auf Sumatra mit der WWF Tigerschutztruppe unterwegs ist, dem wird schnell klar, wie anstrengend und mitunter gefährlich ihr Job ist. Mit dabei: Kathrin Samson, Tigerexpertin des WWF Deutschland.

Eine Frage des politischen Willens
In Indien haben sich die Bestände in der vergangenen Dekade (im Bild: ein Bengaltiger in Rajasthan) deutlich erholt. Der Grund: Die Regierung fährt hier einen strikten Kurs gegen Wilderei.

Tigerschutz an vielen Fronten
Wer ausreichend verdient, jagt keine Tiger. Daher hilft der WWF in seinem Projektgebiet auf Sumatra, für Dorfbewohner alternative und nachhaltige Einkommensquellen in Ackerbau und Fischzucht zu schaffen.

Tod in der Falle
Um die letzten Tiger zu schützen, spüren die Ranger in Rimbang Baling unermüdlich die tückischen Fallen und Fanggeräte der Wilderer auf und machen sie unschädlich.

Schlachtplan
In Farmen werden Tiger ihrer Körperteile wegen gezüchtet, auf engstem Raum gehalten und schlussendlich ausgeschlachtet.


In unserem Länderdossier online erfahren Sie mehr über die politische und soziale Situation der Region:
wwf.de/indonesien

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Quelle:
WWF Magazin 4/2019, Seite 10 - 17
Herausgeber:
WWF Deutschland
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Tel.: 030/311 777 700
E-Mail: info@wwf.de
Internet: www.wwf.de
 
Die Zeitschrift für Fördermitglieder und Freunde der
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veröffentlicht im Schattenblick zum xx. Dezember 2019

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