Germanwatch e.V. - 22. Mai 2019
People's Climate Case: Gericht weist Grundrechtsklage für ambitioniertere EU-Klimaziele ab
EU-Gericht erkennt Betroffenheit durch Klimawandel an, stuft Klage jedoch als unzulässig ein/ Familien prüfen Gang in nächste Instanz/ Familie Recktenwald aus Langeoog weiterhin zuversichtlich
Bonn/Luxemburg (22. Mai 2019). Das Europäische Gericht (EuG) hat die Klage von zehn Familien aus fünf EU-Staaten, Kenia und Fidschi und einem schwedischen Jugendverband für verschärfte EU-Klimaziele als unzulässig abgewiesen. Als Begründung führt das Gericht vor allem an, da alle vom Klimawandel betroffen sind, seien die Kläger aufgrund mangelnder individueller Betroffenheit nicht befugt, die Klimapolitik der EU vor Gericht anzufechten. Die Familien prüfen mit ihren Anwälten die Einlegung von Rechtsmitteln gegen das Urteil.
Professor Gerd Winter (Bremen), einer der Rechtsvertreter der klagenden Familien, kommentiert die Gerichtsentscheidung: "Das Europäische Gericht erkennt an, dass jeder Einzelne auf die eine oder andere Weise vom Klimawandel betroffen ist und durch die angegriffenen EU-Rechtsakte in seinen Grundrechten verletzt sein kann - was den Vortrag der Kläger bestätigt. Die logische Folge, dann auch den Zugang zur gerichtlichen Überprüfung zu ermöglichen, zieht das Gericht aber nicht. Es weist vielmehr die Klage aufgrund einer engen Auslegung der Klagebefugnis, insbesondere des Kriteriums 'unmittelbare und individuelle Betroffenheit', ab. Diese Entscheidung ist nicht überraschend, denn sie bewegt sich auf eingefahrenen Gleisen. Dennoch ist sie enttäuschend, weil sie sich nicht auf die ausführlichen Argumente der Kläger für eine Öffnung der Klagebefugnis einlässt."
Die Kläger kritisieren in ihrer Klage das bestehende Klimaziel der EU, die innereuropäischen Treibhausgasemissionen bis 2030 gegenüber 1990 um mindestens 40% zu senken, als nicht ausreichend. Das Ziel sei zu niedrig, um die Klimakrise einzudämmen und ihre Grundrechte auf Leben, Gesundheit, Beruf und Eigentum zu schützen. Das beklagte EU-Parlament und der EU-Rat hatten auf die Klage mit einem Antrag auf Klageabweisung wegen Unzulässigkeit reagiert, ohne sich mit den Forderungen nach der Notwendigkeit und Machbarkeit einer ambitionierteren Klimaschutzpolitik auseinanderzusetzen. Diesem Antrag gab das Gericht statt.
Zu den Klägerinnen und Klägern gehört auch die deutsche Familie Recktenwald von der Nordseeinsel Langeoog. Sie reagierte enttäuscht auf das Urteil. "Wir hatten gehofft, dass wir vor Gericht wenigstens darlegen dürfen, wie wir auf der Insel zunehmend von der Klimakrise bedroht werden. Wir sehen dadurch ganz konkret unsere Grundrechte und vor allem die der nächsten Generation gefährdet", sagt Maike Recktenwald. Die Familie ist jedoch weiterhin zuversichtlich: "Der erste Anlauf hat nicht geklappt. Wir lassen uns nicht entmutigen und werden einen zweiten Anlauf nehmen."
Die Klägerinnen und Kläger planen bis 15. Juli 2019 Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. Sie fordern, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Zulässigkeit vor dem Hintergrund klimawissenschaftlicher Fakten und der in der Klage dargelegten Auswirkungen des Klimawandels auf die Grundrechte überprüft. Sollte der EuGH die ablehnende Auffassung des EuG nicht teilen, wird der Rechtsstreit zur Weiterverhandlung an das EuG zurückverwiesen.
"Unabhängig davon, wie der rechtliche Prozess weitergeht, sind wir überzeugt, dass diese Klage schon jetzt viel bewirkt hat. Wir konnten zeigen, dass die EU dringend handeln muss, um unsere Grundrechte vor den Folgen der fortschreitenden Klimakrise zu schützen", sagt Michael Recktenwald.
Die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch unterstützt die deutsche Familie und das internationale Netzwerk der Klägerinnen und Kläger. Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer der Organisation: "Das Europäische Gericht hat Familien, die in ihren Grundrechten vom Klimawandel betroffen sind, den Zugang zu Gericht verweigert. Das absurde Argument: da alle betroffen sind, können diese Familien nicht behaupten, dass sie besonders betroffen sind. Wir freuen uns, dass die Klägerinnen und Kläger diese Entscheidung vermutlich durch den Europäischen Gerichtshof überprüfen lassen und Rechtsmittel einlegen wollen. Die Klimawissenschaft ist klar: Die Klimaziele der EU sind zu schwach, um die Grundrechte dieser Familien mit Kindern sowie der künftigen Generationen zu schützen. Viele Jugendliche protestieren jeden Freitag dagegen, dass ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt wird. Wir setzen darauf, dass die Betroffenen nicht nur auf der Straße, sondern auch vor Gericht Gehör erhalten."
Seit Einreichung der Klage im Mai 2018 ist politisch durchaus neue Dynamik entstanden. So hat das Europäische Parlament zwei Resolutionen verabschiedet, in denen eine Anhebung des EU-Klimaziels 2030 von 40% auf 55% gefordert wird. Zum letzten EU Gipfel in Rumänien haben 10 Mitgliedstaaten, darunter Frankreich, die Niederlande, Dänemark, Schweden, Spanien, Portugal, Luxemburg, Lettland und Belgien, eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht, in der sie alle Staats- und Regierungschefs der EU auffordern, sich bei der nächsten EU-Ratssitzung im Juni auf Klimaneutralität bis 2050 und eine Verschärfung des Ziels für 2030 zu einigen. Deutschland hat sich den Vorreitern noch nicht angeschlossen.
Dr. Roda Verheyen, Anwältin der Klägerinnen und Kläger:
"Die Klage wurde nicht in der Sache, sondern nur formal als unzulässig
abgewiesen. Im Gegenteil, das Gericht erkennt ausdrücklich an, dass
der Klimawandel Menschen akut betrifft, befasst sich jedoch damit, was
das für die Grundrechte bedeutet. Im Berufungsverfahren fordern wir
den Europäischen Gerichtshof auf, die Entscheidung zur Zulässigkeit
der Klage zu überprüfen, und zwar vor dem Hintergrund der
Klimawissenschaft und der Auswirkungen des Klimawandels auf die
Grundrechte. Der Beschluss kann keinen Bestand haben, wenn es ein
'Europa für alle' geben soll."
Dorothea Sick-Thies, Protect the Planet:
"Die eingeklagten Grundrechte auf Unverletzlichkeit von Gesundheit und
Eigentum sind in jedem Fall zu schützen. Es sollte jedem bewusst sein,
dass die EU-Wahlen am Wochenende die Möglichkeit bieten, hierauf
Einfluss zu nehmen."
Maurice Feschet, 73 Jahre, Lavendelbauer und Kläger aus Frankreich:
"In meinem Alter ist diese Klage neben der Teilnahme an Klimamärschen
mit jungen Menschen das Einzige, was ich tun kann, um meine Kinder und
Enkelkinder zu schützen. Als Bürger werde ich mich weiterhin an die
Gerichte wenden, da die Politik sich nicht für die erforderlichen
Klimaschutzmaßnahmen einsetzt."
Georg Janßen, Bundesgeschäftsführer der AbL, Streithelfer
"Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), die als
Streithelfer der Klimaklage gegen die EU beigetreten ist, lässt sich
durch die aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichts nicht
entmutigen. Bäuerinnen und Bauern haben im letzten Sommer durch die
Dürre leidvoll erfahren, dass alle jetzt ihre Verantwortung für den
Klimaschutz wahrnehmen müssen: Bauern und Verbraucher, der
Lebensmitteleinzelhandel, Molkereien und Schlachtunternehmen sowie die
Politik sind gefordert, das 1,5 Grad Ziel konsequent anzupacken, um
weiteren Schaden von Mensch und Umwelt weltweit und vor Ort
abzuwenden. Durch klimaschonenden Ackerbau und artgerechte Tierhaltung
sowie eine Reform der europäischen Agrarpolitik können wir einen
aktiven Beitrag zum Klimaschutz leisten. Die Bundesregierung muss
dafür die agrarpolitischen Rahmenbedingungen beschließen, die viele
Bauernhöfe auf diesem Weg wirtschaftlich mitnimmt."
Weitere Informationen zur Gerichtsentscheidung, zu den Klägerinnen und
Klägern
https://peoplesclimatecase.caneurope.org/de/
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Quelle:
Pressemitteilung, 22.05.2019
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2019
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