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ANBAU/157: Streuobstwiesen - Eldorado für Tier und Mensch (NATURSCHUTZ heute)


NATURSCHUTZ heute - Heft 4/12
Mitgliedermagazin des Naturschutzbundes (NABU) e.V.

Schütteln für den süßen Saft
Streuobstwiesen sind ein Eldorado für Tier und Mensch

Von Iris Barthel



Pink Lady aus Brasilien, Royal Gala aus Chile, Fuji aus China - beim Streifzug durch die örtlichen Supermarktregale kann man sich schon wundern, was im Herbst den Weg in die Auslagen findet. Deutsche Äpfel sind es in den seltensten Fällen. Und das, obwohl prall gefüllte Bäume vom Herbsteintritt künden wie das fallende Laub oder der Vogelzug.

Rund 1.400 Apfelsorten reifen jedes Jahr zwischen Flensburg und Konstanz, Millionen Litern Apfelsaft, die wir Deutschen pro Jahr trinken, wird mehr als die Hälfte nicht aus deutschen Äpfeln gewonnen. Denn importierte Früchte sind, selbst wenn sie eine halbe Runde um den Globus drehen müssen, für Großmärkte häufig immer noch wirtschaftlich lukrativer.


Hoch auf die Leiter...
Ein seltsames Ungleichgewicht, findet auch Karin Rietman. Die Landschaftsökologin beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Vermarktung regionaler Obstprodukte. Beim NABU Münster betreut sie das Projekt Obstwiesenschutz, mit dem sich der Stadtverband seit 1996 für den Erhalt und die Nutzung alter Obstbäume einsetzt.

An diesem sonnigen Septembertag steht Karin Rietman mit schweren Arbeitsschuhen auf einer hölzernen Leiter. Es wird ein heißer Tag - und für die fünf NABU-Aktiven ein schweißtreibender. Heute ernten sie eine Wiese am Münsteraner Stadtrand. Eine Streuobst-Wiese, um genau zu sein. Und das erfordert Muskelkraft sowie ein gewisses Maß an Idealismus und Schwindelfreiheit.

Einhändig hält sich Karin Rietman an der Leiter fest, mit der anderen hakt sie sich weit über ihrem Kopf in einen knorrigen Ast des Apfelbaumes ein. Dann zieht sie aus Leibeskräften. Ruck für Ruck prasseln rot-grüne Äpfel aus der Krone auf eine ausgebreitete blaue Plane.


Ernte am Golfplatz
Etwa zwanzig Bäume stehen hier am Rande eines alten Münsteraner Wasserschlosses, das zum Vier-Sterne-Hotel mit Golfplatz umgebaut wurde. Im Hintergrund ziehen Golfer ihre Bahnen, auf feinstem englischem Rasen. Unter Karin Rietmans Füßen hingegen wächst hohes Gras. Wenn es nach ihr und dem NABU geht, sollen sich hier nämlich - neben den Golfern - auch möglichst viele Insekten, Spinnen, Vögel und Pflanzen wohl fühlen. Denn Streuobstwiesen sind wahre "Hot Spots" der Artenvielfalt: Mehr als 5.000 Tier- und Pflanzenarten leben hier, in Münster zum Beispiel der Grünspecht oder der bedrohte Steinkauz. In den zahllosen Ästen und Löchern der hohen Bäume finden sie Nist- und Schlafplätze, die andernorts fehlen.

Einst waren Streuobstwiesen in der bäuerlichen Kulturlandschaft weit verbreitet. Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren fielen jedoch Millionen Bäume Beil und Motorsäge zum Opfer, oft mit öffentlicher Förderung. Der Streuobstbau wurde rundweg als "betriebswirtschaftlich unrentabel" eingestuft. Schließlich konnten die weiten Wiesen mit den verteilt stehenden Bäumen und hohen Kronen kaum so schnell und effizient geerntet werden wie die akkurat gereihten Plantagen. Massenhaft wurden daher Wiesen mit ausladenden Hochstamm-Obstbäumen umgewandelt in niedrigstämmige Monokulturen, die nicht nur schnellen Ertrag versprachen, sondern auch bequem auf Augenhöhe geerntet werden konnten. Heute sind neun von zehn Apfelbäumen in Europa so genannte Spindelbüsche, mit einem Stamm von etwa 40 bis 60 Zentimetern.


Pudding in den Knien
Von bequemer Plantagen-Ernte kann bei Karin Rietman kaum die Rede sein. Walter Sinne, einer ihrer Helfer, ist inzwischen in die Baumkrone geklettert. "Wo soll ich hin?", ruft der aktive Vogelschützer hinunter. "Ganz nach oben", antwortet Karin Rietman. Zweieinhalb Meter steigt er hinauf. Seine Leiter lehnt an einem dicken Ast. Mit einem Mal kracht es. "Dieser Ast ist ja kriminell", ruft er erschrocken.

Für Rietman ist es nicht die erste brenzlige Situation, die sie mit den alten Bäumen erlebt. Bis zu hundert Jahre werden sie alt, liefern ihren vollen Ertrag erst mit 30 bis 50 Jahren - sie werden morsch, die Äste hohl. Schnell wird an diesem Tag klar: Streuobstwiesenernte ist nicht nur schweißtreibend, sondern auch zeitintensiv. "Am Ende des Tages weiß man wirklich, was man getan hat. Dann hat man Pudding in den Armen und in den Knien", sagt Karin Rietman mit Blick auf die sich langsam füllenden Sammelkörbe am Rande der Wiese. Kein Wunder also, dass der Hochstamm im Erwerbsobstbau allgemein als unrentabel gilt.


Wiesenpflege und Wochenmarkt
Auf der anderen Seite steht jedoch der überragende Wert der Streuobstwiesen für die Arten-Vielfalt und das Landschaftsbild. Daher sind, abgesehen vom klassischen Vogelschutz, wohl in kaum einem anderen Feld so viele NABU-Gruppen aktiv. Hier in Münster engagiert sich selbst die Stadt im Obstwiesenschutz und unterstützt Karin Rietmans Streuobstprojekt finanziell - ein Glücksfall.

Den Münsteranern bietet der NABU, wie in vielen anderen Städten und Gemeinden auch, ein großes Serviceangebot für den Natur- und Streuobstschutz: So hilft Karin Rietman mit ihrem Team etwa beim Anlegen von Streuobstflächen, plant gemeinsam mit der Stadt Obstwiesen als Ausgleich für den Straßenbau, steht das ganze Jahr über auf der Leiter, erntet, schneidet und pflegt mehrere Hektar Wiese. Regelmäßig geht sie in Schulen und informiert über Obst, Tiere und den Naturschutz; samstags steht sie auf dem Wochenmarkt und verkauft Saft und Tafelobst, und alle zwei Jahre trägt sie zum Münsterländer Apfelmarkt mehr als 300 Verschiedene Apfelsorten zusammen. Doch bei allem Engagement kann Rietman die Münsteraner Streuobstwelt nicht allein retten. Dazu braucht sie Helfer und vor allem die Unterstützung der Bauern.


Der Preis muss stimmen
Bundesweit setzt sich der NABU zusammen mit Bauern und Keltereien für ein System ein, mit dem der Streuobstbau wieder rentabel wird: die Sogenannte Aufpreis-Vermarktung. Ähnlich dem "Fairtrade"-Prinzip erhalten Obstwiesenbesitzer eine attraktive Bezahlung für ihre Ernte. Dazu müssen sie mindestens zwei Voraussetzungen erfüllen: Ihre Wiesen dürfen nicht chemisch behandelt werden und das Obst muss von Bäumen mit einer Stammhöhe von mindestens 180 bis 200 Zentimetern stammen.

Im Gegenzug erhalten die Bauern einen Aufpreis gegenüber konventionellem Obst. In Münster sind das in diesem Jahr zwischen 16 und 20 Euro pro hundert Kilo, anstelle der üblichen fünf bis zehn Euro. Für die Bauern ist das System lukrativ, für die Verbraucher bedeutet es ein Aufpreis von 10 bis 15 Cent pro Flasche. Nach diesem Schema sammelt der NABU Münster viermal im Jahr Obst. Auch an vielen anderen Orten bietet der NABU solche Sammelstellen an, bundesweit über einhundert.


Bauern als Partner
Und so rollt an diesem Nachmittag auch ein großer Traktor auf das Gelände des Raiffeisenmarktes in Münster-Sprakel. Auf seiner Schaufel bugsiert er mehrere Säcke, prallgefüllt mit Äpfeln. "Na, wo wollt ihr sie reinhaben?", ruft der Fahrer über das Tuckern der Maschine hinweg. Gemeinsam mit einem Freiwilligen des Streuobst-Projektes, packt Bauer Berning seine Säcke mit kräftigem Ruck in die Sammelbehälter. Dabei erkundigt er sich, wie viele Anmeldungen es heute gab. "Vier", antwortet. Nicht gerade viel. "Aber das liegt wohl am frühen Termin. In zwei Wochen komme ich nochmal, dann wahrscheinlich mit der gleichen Menge."

Immerhin sammeln sie an diesem Tag, trotz eher schlechter Ernteaussichten, mehrere hundert Kilo. Schon am nächsten Tag wird die Kelterei daraus frischen Streuobstsaft pressen: aus jedem Kilo rund eine Flasche, zwei Jahre haltbar.

In Münster sind viele Bauern langjährige Partner des NABU, auch Bauer Berning. Die Streuobstwiese auf seinem Hof hat bereits sein Großvater angelegt. Für Berning sind die Bäume daher eine Herzensangelegenheit. "Seit es das NABU-Projekt gibt, lohnt es sich für mich auch wieder", sagt er und steigt zurück auf seinen Traktor. Niedrige Stämme kämen für ihn ohnehin nicht in Frage. Unter seinen Bäumen weiden schließlich Shetland-Ponys - seine "Rasenmäher". Und die sollen dort, wenn es nach ihm und dem NABU Münster geht, auch noch lange Schatten finden.

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UNBEHANDELT

Der Brockhaus definiert Streuobst als "Hochstamm-Obstbau ohne Einsatz synthetischer Behandlungsmittel". Charakteristisch ist die Mischung unterschiedlicher Obstarten und -sorten. Für den NABU sind darüber hinaus Merkmale wie eine naturverträgliche Beweidung oder eine reduzierte Mahd wünschenswert. Bundesweit gibt es etwa 400.000 Hektar Streuobstwiesen, der Verbreitungsschwerpunkt liegt in Süd- und Mitteldeutschland. Zu Hochzeiten vor 50 Jahren waren es rund 1,5 Millionen Hektar.



PROST MOST!

Mit ihrer Natur- und Umweltverträglichkeit ist die Marke "Streuobst" zu einem begehrten Qualitätskriterium geworden. Safthersteller werben gern, dem Bio-Trend entsprechend, mit den Schlagworten "regional" und "natürlich". Um missbräuchlichen Verwendungen des Begriffs vorzubeugen, hat der NABU ein eigenes Gütezeichen für Streuobstprodukte eingeführt. Die Lizenznehmer garantieren damit eine Herkunft des Obstes aus nach NABU-Kriterien bewirtschafteten Streuobstwiesen und eine über dem üblichen Marktpreis liegende Bezahlung der Obstbauern. Zurzeit gibt es 15 Lizenznehmer, die ihre Produkte jeweils regional vermarkten.



Weitere ausführliche Infos unter
www.nabu-muenster.de/projekt-obstwiesenschutz.

Hintergrundinfos und die vollständige Adressliste gibt es unter www.streuobst. de.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Streuobstwiesen waren einst weit verbreitet - heute tragen vor allem Naturschützer zu ihrem Erhalt bei.
- Mehr als 5.000 Tier- und Pflanzenarten leben auf Streuobstwiesen - sie sind wahre "Hot Spots" der Artenvielfalt.
- Mehr als 150 Wiesen betreuen Karin Rietman und ihr Team in Münster. Sie schneiden, pflegen und ernten die Bäume - und erhalten so alte Obstsorten und Lebensräume.
- Bequeme Ernte auf Augenhöhe? Fehlanzeige. Beim Streuobst zählen Schwindelfreiheit und ein Quäntchen Idealismus.

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Quelle:
Naturschutz heute - Heft 4/12, S. 8 - 12
Verlag: Naturschutz heute, 10108 Berlin
Tel.: 030/284984-1530, Fax: 030/284984-2500
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Internet: www.naturschutz-heute.de
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Internet: www.NABU.de
 
"Naturschutz heute" ist das Mitgliedermagazin
des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) e.V.
und erscheint vierteljährlich. Für Mitglieder
ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2013