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WALD/089: Zum Schutz der Biodiversität auf naturnahe Waldbewirtschaftung setzen (BfN)


Bundesamt für Naturschutz (BfN)
Pressemitteilung - Bonn, 28. August 2009

Jessel: Zum Schutz der Biodiversität auf naturnahe Waldbewirtschaftung setzen

Stadtwald Lübeck mit Modellfunktion - Vorbildfunktion auch in Zukunft bewahren


Lübeck/Bonn 28. August 2009: Heute besuchten die Präsidentin des Bundesamts für Naturschutz (BfN) Prof. Dr. Beate Jessel und die Unterabteilungsleiterin im Umweltministerium (BMU) Dr. Elsa Nickel den Lübecker Stadtwald um sich über das Konzept der "Naturnahen Waldnutzung" zu informieren."Sowohl für den Schutz der biologischen Vielfalt wie auch für die Bewältigung der Folgen des Klimawandelsspielt der Wald eine herausgehobene Rolle. Dies gilt nicht nur für die Urwälder in Amazonien, sondern auch für den deutschen Wald.", sagte Frau Jessel bei einem Besuch in Lübeck. "Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt weist Wäldern im Besitz der öffentlichen Hand eine besondere Vorbildfunktion zu".

Begleitet wurden Frau Jessel und Frau Nickel von Dr. Lutz Fähser, Leitender Forstdirektor im Stadtwald Lübeck. Bei dem Ortstermin wurde vor allem das hier bereits seit mehr als 15 Jahren erfolgreich verfolgte Konzept einer "Naturnahen Waldnutzung" auf rund 5000 Hektar erläutert. Fähser verdeutlichte die Prinzipien des mehrfach ausgezeichneten Lübecker Waldkonzeptes und zeigte anschauliche Beispiele im Wald, der nach Naturland und Forest Stewardship Council (FSC) Kriterien zertifiziert ist. Das in Lübeck entwickelte und angewandte "Prozess-Schutz-Konzept" zur Waldnutzung gilt in Deutschland, aber auch international als Pionierprojekt im Hinblick auf eine zugleich ökologische und ökonomische Wirtschaftsweise. Es gründet sich auf die Beschlüsse der internationalen Umweltkonferenz von Rio, speziell auf die Biodiversitätskonvention (CBD), die Walderklärung und die Agenda 21. Insbesondere mit seiner Orientierung auf Naturnähe und natürlich ablaufende Prozesse auf ganzer Fläche sowie 10% aus der Nutzung genommener Waldfläche kann der Stadtwald Lübeck nach Ansicht der BfN-Präsidentin als Referenzmodell einer zukunftsfähigen Bewirtschaftung des Waldes gelten. Dies belegen auch die im Jahr 2008 veröffentlichten Ergebnisse einer von der Deutschen Umweltstiftung geförderten Studie.

"Das Konzept ist aufgegangen. 15 Jahre nach der Einführung sind die ökonomischen und ökologischen Werte gleichermaßen angestiegen" so Fähser."Wir brauchen solche auch wissenschaftlich gut belegten Beispiele, die für große Waldflächen die Vereinbarkeit von ökologischen und betriebswirtschaftlichen Zielen zeigen und zugleich eine Voraussetzung zur erfolgreichen und naturverträglichen Anpassung an Klimaänderungen schaffen" betonte die Präsidentin des BfN. "Wir hoffen deshalb, dass die vorbildliche Waldbewirtschaftung in Lübeck auch weiterhin Vorreiter der naturnahen Waldwirtschaft sein wird und noch viele Kommunale und private Waldbesitzer diesen Weg einschlagen." Die Anstrengungen zur weitgehenden Umsetzung der Nationalen Biodiversitätsstrategie können nur erfolgreich sein, wenn alle Akteure im Wald dies zu ihrer gemeinsamen Sache machten. Dazu braucht es viele positive Beispiele, wie es heute der Lübecker Stadtwald dank weitsichtiger Entscheidungen seiner Verantwortlichen bereits ist.


Hintergrund

- Die Hansestadt Lübeck (215.000 Einwohner) besitzt seit 1163 einen Stadtwald, der heute eine Fläche von rd. 5.000 Hektar umfasst. Die Wälder bestehen zu rd. 20% aus Nadelwäldern und zu rd. 80% aus Laub(Misch)wäldern. Buchen nehmen mit rd. 35% die größte Fläche ein, gefolgt von rd. 25% Eichen. Das städtische Forstamt beschäftigt zzt. 25 MitarbeiterInnen

- Das Konzept der "Naturnahen Waldnutzung" wurde in Lübeck entwickelt, 1994 eingeführt. Die dortige Bürgerschaft hat das stadteigene Forstamt mit einstimmigem Beschluss beauftragt, dieses Konzept umzusetzen. "Prozess-Schutz" ist ein Begriff aus dem Naturschutz, der den totalen Schutz eines Gebietes vor menschlichen Eingriffen bezeichnet.

Ein forstwirtschaftliches Prozess-Schutzkonzept bedeutet, dass so gewirtschaftet wird, dass natürliche Abläufe in den Wäldern weitgehend zugelassen werden bzw. im Sinne der Wirtschaftsziele mitbenutzt werden (z.B. Natürliche Ansamung, Auslese durch natürliche Konkurrenz). Das Lübecker Konzept wurde und wird mitgetragen von großen Umweltverbänden wie Greenpeace, B.U.N.D./Friends of the Earth und Robin Wood. Es erhielt Auszeichnungen u.a. von der Europäischen Papierindustrie (1996) und vom Bundesumweltministerium (1998). Drei Leitideen bestimmen das Lübecker Konzept:

(1) Die Wirtschaftswälder sollen sich in die risikoarme und produktive Erscheinungsform
der natürlichen Waldgesellschaft entwickeln (Naturnähe) (2) Die Leistungsanforderungen an den Wald dürfen die natürliche Leistungsfähigkeit nicht überschreiten (ökologisches Ertragsniveau)
(3) Der wirtschaftliche Einsatz erfolgt nach dem Prinzip des minimalen Eingriffs und dem Prinzip der Vorsicht (Minimierung)

Grundidee ist die weitgehende Anpassung der Bewirtschaftung an die natürlichen Prozesse und die Minimierung störender Eingriffe. Große Städte wie Berlin, München, Bonn, Saarbrücken, Wiesbaden, Hannover und Göttingen haben das Lübecker Konzept übernommen und damit für den Verkauf ihrer Holzprodukte die Zertifizierung nach "Naturland" und FSC gewonnen.

- Die "Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt" wurde von der Bundesregierung im November 2007 verabschiedet. Sie dient auf nationaler Ebene der Umsetzung der Biodiversitätskonvention (Convention on Biological Diversity, CBD) von Rio 1992. und zielt u.a. auf die Wiederherstellung bzw. die Erhaltung der Vielfalt der natürlichen Arten und Ökosysteme ab.

Waldbezogene Teilziele die hierzu u.a. verfolgt werden sind
- 5% Flächenanteil von Wäldern mit natürlicher Waldentwicklung bis 2020
- Vermehrte Verwendung standortheimischer Baumarten
- Weiterführung und Ausbau historischer Waldnutzungsformen
- Erhöhung der natürlichen CO2 Speicherkapazität der Landlebensräume um 10% bis 2020

Alle diese Ziele werden können im Rahmen des Lübecker Modells in idealerweise berücksichtigt werden.

Im Aktionsprogramm von Rio 1992, der Agenda 21, wird u.a. bei allen Tätigkeiten der Ausgleich der Interessen von Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft verlangt. Das Lübecker Konzept wurde im breiten gesellschaftlichen Diskurs 8 Jahre lang entwickelt. Die bestehenden Wald-Zertifizierungen von "Naturland e.V." und FSC beziehen bei ihren jährlichen Überprüfungen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen mit ein.

- Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) finanzierte 2008 ein größeres interdisziplinäres Forschungsprojekt "Nutzung ökologischer Potenziale von Buchenwäldern für eine multifunktionale Bewirtschaftung" im Stadtwald Lübeck. Beteiligt waren die Universitäten Kiel und Greifswald, die Landesanstalt für Natur und Umwelt von Schleswig-Holstein, Einzelsachverständige und der Bereich Stadtwald Lübeck. Die Ergebnisse deuten auf erhebliche ökologische und gerade auch ökonomische Vorteile des Lübecker Konzeptes sowie einer noch weitergehenden Extensivierung (Minimierung von Eingriffen) hin.

- Die Zertifizierung von Waldbetrieben begann in Deutschland im Jahre 1997 in Lübeck. Das Konzept der "Naturnahen Waldnutzung" wurde zum Inhalt der ersten nationalen Zertifizierung nach "Naturland e.V.". Die internationale Zertifizierung nach FSC (gegründet 1993 gleich nach der Rio-Konferenz von 1992) begann als Diskussionsprozess in Deutschland Ende der 1990er Jahre. Inhalte des Lübeck-Konzeptes wie Natürliche Waldgesellschaft, unbewirtschaftete Referenzflächen, selektiver Einschlag von Einzelbäumen, Biotopbäume und Giftverbot bestimmten wesentlich den deutschen Standard der FSC-Zertifizierung.

- Die finanziellen Reinerträge sind im Lübecker Konzept, das eher als "ökologisches Konzept" angesehen wird, gleich und höher als in üblichen forstlichen Bewirtschaftungskonzepten. Dieses haben u.a. Simulationsstudien von KAISER u. STURM (1999) und von DUDA (2006) sowie die DBU-Studie von 2008 ergeben. Der Lübecker Wald befindet sich noch in einer Übergangsphase zum Optimum. Im Jahr 2008 erwirtschaftete der Forstbetrieb einen Reinertrag von rd. 50 EUR pro Hektar und Jahr.

- Die natürliche Artenvielfalt ist nach der Studie der DBU (2008) überdurchschnittlich hoch. Dieses betrifft besonders diejenigen Tier- und Pflanzenarten, aber auch Mikroorganismen und Pilze, die auf Störungsarmut, Kontinuität der Waldentwicklung und Natürlichkeit angewiesen sind. Gerade diese Arten sind mittlerweile in Deutschland selten und gefährdet.

- Für rund 70% der Lübecker BürgerInnen bedeutet der Stadtwald im Wesentlichen Erholungs- und Freizeitraum (BRAUNE 1998, Universität Dresden). Dabei wird der "Wildnis"-Charakter zunehmend positiv anregend empfunden. Frühere Generationen bevorzugten den sauberen, aufgeräumten Wald.

- Die mittlerweile nachweisbare Klimaveränderung wirkt sich auf Wälder unmittelbar aus. Natürliche Wälder sind seit Millionen von Jahren "Experten" im Anpassen an bisherige Klimaveränderungen. Die Anpassung an Änderungen der Lebensbedingungen wird aber nur dann möglich, wenn die Wälder sich weitgehend selbst organisieren können und im Wesentlichen aus den natürlichen Baumarten bestehen, die sich in der Vergangenheit durch Evolution und Selektion (ohne menschliche Strukturierung) durchgesetzt haben. Im Lübecker Konzept sind diese natürlichen Prozesse einschließlich Anpassung in hohem Maße möglich.

- CO2 ist ein wesentliches Treibhausgas, das die Temperaturen auf der Erde anheizt. Urwälder bzw. deren Baumstämme und die Böden mit Bodenorganismen speichern eine große Menge Kohlenstoff (C). Diese Kohlenstoff-Senke ist umso größer, je mehr lebende Holzvorräte vorhanden sind und je länger und ungestörter ("stressärmer") das natürliche Waldökosystem existiert (SCHULZE 2008, Max-Planckinstitut für Biogeochemie in Jena). Die Wälder in Lübeck erfüllen diese Kriterien der Naturnähe, Kontinuität und Störungsarmut in hohem Maße, sind damit eine große Kohlenstoff-Senke. Durch Anreicherung des Baum-Vorrats wurden in den vergangenen 15 Jahren knapp 100.000 t Kohlenstoff (C) zusätzlich und langfristig im Lübecker Wald festgelegt. Könnte dieser Kohlenstoff bzw. das damit gebundene CO2 über CO2-Zertifikate in den Handel gebracht werden, würde sich der bisherige finanzielle Reinertrag des Stadtwaldes Lübeck dadurch verdoppeln.

- Die "Gute fachliche Praxis" beim Wirtschaften im Wald wird kontrovers von Waldeigentümern, Umweltverbänden und Umweltministerien diskutiert. Öffentliche Waldeigentümer haben eine gesetzliche Vorbildfunktion, gerade für die Bewirtschaftung und Bewahrung der Natur. WINKEL u. VOLZ haben 2003 im Auftrag des BfN einen Kriterienkatalog zur "Guten fachlichen Praxis" entwickelt. Das Lübecker Konzept (über)erfüllt sämtliche darin angezeigte Kriterien.

- Auch international gilt das Lübecker Konzept als vorbildlich im Sinne der Beschlüsse von Rio de Janeiro 1992. Der Leiter des Stadtwaldes wurde seit 1994 in zahlreiche Länder zum Vortrag und Anleiten eingeladen, wie z.B. nach Russland, China, Finnland, Schweden, Kanada, Chile und Spanien. Mehrere Tausend forstliche Fachleute haben seitdem Lübeck besucht. Aus diesen Begegnungen sind zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten entstanden.


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Quelle:
BfN-Pressemitteilung, 28.08.2009
Herausgeber: Bundesamt für Naturschutz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2009