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INITIATIVE/383: Zurück zur Natur? Wilde Wisente in deutschen Wäldern (ARA Magazin)


ARA Magazin 23, 2017/18 - Arbeitsgemeinschaft Regenwald und Artenschutz e.V.

Zurück zur Natur?
Wilde Wisente in deutschen Wäldern


Im Winter 1755 erlegten in Ostpreußen zwei Wilderer den letzten freilebenden deutschen Wisent. Gut 250 Jahre später füllt das stattliche europäische Wildrind bei uns wieder Schlagzeilen. Wie bei Wolf, Luchs, Biber und Co. geht es um die Frage, ob wir ausgerotteten Tierarten auf deutschem Boden wieder Lebensraum gönnen wollen.


Am 13. September diesen Jahres überquerte nach über zweieinhalb Jahrhunderten zum ersten Mal wieder ein wilder Wisent die deutsche Grenze. Genauer gesagt, der prächtige Wisentbulle schwamm im Lebuser Busch unweit Frankfurt/Oder über den deutsch-polnischen Grenzfluss. Naturfreunde kamen erst gar nicht dazu, sich über die historische Ankunft zu freuen. Denn wenige Stunden später war er tot, auf Behördenanordnung durch einen übereifrigen Jäger noch auf dem Oderdeich erlegt - und das im vollen Wissen darum, dass einschlägige Gesetze jeden Abschuss von Wisenten verbieten.

Das Tier stammte aus einer kleinen freilebenden Wisent-Population in der Pommerschen Seenplatte östlich von Stettin und tauchte bereits seit geraumer Zeit sehr zur Freude ihrer Einwohner immer wieder in der polnischen Grenzstadt Landsberg auf - ohne geringste Anstalten zu machen, einen Menschen zu gefährden. Wisente gelten in Polen neben dem Adler quasi als zweites Wappentier, sie werden ziemlich gelassen wahrgenommen und akzeptiert - während sie in Deutschland augenscheinlich leicht Panik auslösen. Nicht nur polnische Tierfreunde, die dem beliebten Tier längst einen Namen, "Go-Zubr", gegeben hatten, tobten vor Wut - zu Recht.

In wohl keinem anderen europäischen Land lösen neu einwandernde Wildtiere, von denen auch nur ein Hauch von Gefahr ausgehen könnte, so viel Ängste und Antipathie aus wie in Deutschland. Und nirgendwo sonst stehen gleich Jägersleute bereit, illegal Jagd auf die Neuankömmlinge zu machen. Dutzende toter Wölfe, Luchse und Elche sprechen da eine deutliche Sprache.

Wisent-Wildnis im Rothaargebirge

Umso bemerkenswerter ist ein Projekt, das 2003 von Richard zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg im nordrhein-westfälischen Landkreis Siegen-Wittgenstein ersonnen wurde: nämlich die Idee, mitten in Deutschland eine Wisentherde auszuwildern. Er stellte für das Projekt, das vom Förderverein Wisent-Welt-Wittgenstein betreut wird, seinen 4.000 ha großen Waldbesitz im Rothaargebirge zur Verfügung, der unverändert weiter forstwirtschaftlich genutzt wird.

Als einziges noch lebendes europäisches Wildrind stand der Wisent, der ursprünglich weite Teile Europas bevölkerte, in den 1920er Jahren unmittelbar vor der Ausrottung. Mit wenigen Tieren, die sich in noch Menschenobhut befanden, wurde eine planmäßige Erhaltungszucht begonnen. Die Rettung der Wisente wurde zu einem der erfolgreichsten Artenschutzprojekte weltweit. Heute leben in Zoologischen Gärten, Wildparks und wild in der Natur wieder weit über 3.000 Tiere, zwei Drittel davon freilebend. Übrigens waren die Urwälder von Bialowieza, an die der polnische Staat jetzt die Axt anlegt, lange Zeit der bedeutendste wiederbevölkerte Naturlebensraum für Wisente.

Im März 2010 startete das Projekt im Rothaargebirge. Eine achtköpfige Wisent-Herde wurde zunächst in ein 80 ha großes Ausgewöhnungsgehege gebracht. Am 11. April 2013 wurde die Herde, genehmigt durch das Umweltministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, dann in die Wildnis entlassen. Noch im ersten Jahr erblickten nach über 250 Jahren die ersten beiden Wisentkälber in deutschen Wäldern das Licht der Welt. Die Herde entwickelte sich prächtig. Mitte 2017 lebten 23 Wisente in freier Wildbahn, 19 davon bereits im Wittgensteiner Land geboren. Die Herde hat damit etwa die geplante Zielgröße erreicht.

2016 gab es einen Zwischenfall: Eine Wisentkuh, die wohl gerade ein Jungtier geboren hatte und dieses verteidigen wollte, griff eine Wanderin an und verletzte sie. Ein sehr unglücklicher Vorfall, denn es gibt europaweit fast keine Berichte von Wisentangriffen auf Menschen, solange die Tiere nicht verfolgt wurden. Im Gegenteil, Wisente gelten als sehr Menschen-scheu und ziehen sich frühzeitig zurück. In einem niederländischen Nationalpark lebt eine Wisentherde seit vielen Jahren in einem größeren Gatter, das von Tausenden von Wanderern durchstreift wird, ohne dass es je einen Zwischenfall gab.

Im Rothaargebirge stiegen sofort Politiker auf die Barrikaden, forderten, die Wisentherde wieder in ein Gatter zu bringen, anderenfalls gegen den Projektträger zu klagen. Wie gesagt: typisch deutsch.

Schwerwiegender sind allerdings andere gerichtsanhängige Klagen gegen den Förderverein, die von zwei benachbarten Forstwirten aus Schmallenberg angestrengt wurden. Begründung: Die Wisente schädigen dort Jungwuchs und Buchen durch das Schälen von Rinde.

Wisente vor Gericht

Das Verfahren endet womöglich vor dem Bundesgerichtshof. Das Oberlandesgericht Hamm hat jedenfalls in diesem Sommer geurteilt, dass der Trägerverein gegen die Beschädigung von Nachbarforsten vorgehen bzw. Schäden ersetzen müsse. Andererseits stellte das Gericht fest, dass es sich inzwischen bei der Wisentherde um herrenlose Tiere und um vom Gesetz geschützte Wildtiere handele, an die nur noch mit Ausnahmegenehmigung Hand angelegt werden dürfe.

Mit den erforderlichen Entschädigungen lässt sich das Problem also leicht aus der Welt schaffen - wenn es denn mehrheitlich politisch wie gesellschaftlich gewollt ist, dass mit dem Wisent eine der spektakulärsten heimischen Wildtierarten wieder dauerhaft bei uns heimisch werden darf. Übrigens ein Entwicklungsziel, zu dem sich unser Land in internationalen Konventionen verpflichtet hat. Der Schlüssel hierzu liegt nicht zuletzt in den Händen der neuen NRW-Landesregierung. Bisher ist nur bekannt, dass Ministerpräsident Laschet sich unmittelbar nach seinem Wahlsieg im vergangenen Sommer von den Mitgliedern des Landesjagdverbandes einladen und feiern ließ - und versprach, sich engagiert für deren Interessen einzusetzen. Schau'n wir mal.

Das Wisentprojekt Rothaargebirge macht derweil übrigens Schule: Fachinteressenten kommen zu Hauf, um von dem wissenschaftlich begleiteten Referenzproiekt für eigene Vorhaben zu lernen. Die nächste Auswilderung könnte schon bald im Schweizer Jura starten.


Mehr Informationen gibt es unter:
www.wisent-welt.de

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Quelle:
ARA Magazin 23, 2017/18, Seite 6 - 7
Arbeitsgemeinschaft Regenwald und Artenschutz e.V.
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Redaktion: Wolfgang Kuhlmann, Jürgen Wolters, Monika Nolle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2018

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