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MASSNAHMEN/232: Freie Natur - WWF-Projekte zur Renaturierung (WWF magazin)


WWF magazin, Ausgabe 3/2016
WWF Deutschland - World Wide Fund For Nature

Freie Natur

Von Donné Norbert Beyer


So viel Freiraum wie hier im Wattenmeer hat Natur in Deutschland nur noch selten. Umso wichtiger ist die Renaturierung wertvoller Lebensräume zu Wasser und zu Land. Sie schafft neue Heimat für ursprüngliche Arten und macht Ökosysteme widerstandsfähiger - zum Beispiel gegen die Folgen des Klimawandels.


Mehr als die Hälfte Deutschlands ist mit Äckern oder Weiden und fast ein Drittel des Landes mit Wald bedeckt. Doch grün ist nicht gleich Gerade mal ein halbes Prozent der Landfläche sind vom Menschen unberührte Wildnis. Flüsse wurden in Kanäle gezwängt, artenreiche Wälder in ertragreiche Monokulturen umgewandelt, für intensiven Ackerbau wurden ganze Landstriche von Hecken und Feuchtgebieten "befreit" und mit Pestiziden und zu vielen Düngemitteln behandelt. Auch wenn man es heute besser weiß, haben Eingriffe in die Natur noch längst kein Ende gefunden. Täglich werden 69 Hektar Lebensraum in Siedlungen und Verkehrsräume umgewandelt. Viele dieser Eingriffe haben die Natur geschwächt.

Natur auf dem Rückzug

Wo begradigte Flüsse schneller fließen, richten sie bei Hochwasser immer größere Schäden an. Wo Naturwälder in eintönige Fichtenforste umgewandelt wurden, können Stürme die Bäume wie Streichhölzer knicken. Und wo Lebensräume verschwinden, ist die Tier- und Pflanzenwelt auf dem Rückzug. Die Zahl der Insekten etwa ist so dramatisch geschrumpft, dass sich im Januar 2016 der Umweltausschuss des Bundestages mit ihnen befasste. Nach Auswertung von 88 Standorten in Nordrhein-Westfalen ist deren Menge - inklusive Bienen und Schmetterlingen - seit 1995 um bis zu 80 Prozent zurückgegangen. Vielerorts mangelt es bereits an Bestäubern von Blütenpflanzen. Das ist mittlerweile auch für den Menschen ein existenzielles Problem. Es ist höchste Zeit, dass wir auf mehr Flächen als bisher wieder natürliche Prozesse zulassen, um die Selbstheilungskräfte der Natur zu stärken. Dass dies auch in einem Industrieland funktioniert, hat Thomas Neumann schon vor 45 Jahren bewiesen. Der WWF-Pionier in Sachen Renaturierung entwickelte mit seinem Team und regionalen Partnern die großen Flächenschutzprojekte in der Schaalsee-Landschaft, im Drömling und an den Uckermärkischen Seen. "Vor allem in den 1970ern war die Naturzerstörung schonungslos", erzählt Neumann. "Moore wurden entwässert, abgetorft und nutzbar gemacht. Ohne Rücksicht auf Verluste wurde die Landschaft bereinigt, Straßen wurden gebaut und Greifvögel rigoros verfolgt."

Das grüne Band

Langer Atem war nötig, um in allen drei Regionen den Abwärtstrend umzukehren. So gründete der WWF 1991 dort, wo zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern einst der Eiserne Vorhang verlief, mit den Landkreisen der Region den "Zweckverband Schaalsee-Landschaft". Mit Fördermitteln des Bundes, der Länder, des Projektträgers und der Umweltstiftung wurden in der Region bis heute fast 5000 Hektar Land gekauft und renaturiert.

Dazu entfernten die Naturschützer auf rund 2200 Hektar Wald für den Standort ungeeignete Nadelbäume und Hybridpappeln und ließen stattdessen heimische Buchen, Birken und Erlen wieder frei sprießen. Mehr als 1500 Hektar Äcker und intensiv genutztes Grünland wurden in naturbelassene Weiden, Feuchtgebiete oder neue Waldgebiete umgewandelt. Daraufhin verbesserte sich auch die Qualität des Wassers, weil keine Pestizide und übermäßigen Düngemittel mehr hineingelangten.

Wälder und Moore
"Wenn ich jetzt bis zum Horizont schaue, dann blicke ich fast ausschliesslich auf Land, das wir für die Natur zurückgewonnen haben."

Auf 1000 Hektar wurde die Entwässerung gestoppt. Von den steigenden Wasserständen profitierten ausgetrocknete Moore und Bruchwälder. Viele Leitarten sind zurückgekommen oder vermehren sich dank der Renaturierung wieder - so wie der Fischotter, die Rotbauchunke oder der Kammmolch. Seit 1990 stieg die Zahl der Seeadlerpaare von zwei auf sieben, die der Kranichpaare von 65 auf 150.

Aus kleinen Renaturierungsinseln ist nun ein gut verknüpftes und geschütztes Biotopverbundsystem von fast 8000 Hektar entstanden. Thomas Neumann: "Wenn ich jetzt bis zum Horizont schaue, dann blicke ich fast ausschließlich auf Land, das wir für die Natur zurückgewonnen haben." Und für die Menschen ist die Schaalsee-Landschaft inzwischen ein beliebtes Ausflugsziel.


Überschwemmung erwünscht

Auch die Mittlere Elbe wird bald zu den bedeutendsten Naturattraktionen Deutschlands zählen. Dort renaturieren Astrid Eichhorn und ihr WWF-Team seit 2011 einen der größten Auenwälder Mitteleuropas. Auf einer Strecke von fast 34 Flusskilometern bietet heute ein wild gewachsenes Mosaik aus trockenen und feuchten Zonen zusammen mit vielen Altgewässern und Altholzbeständen Lebensraum für rund 1000 Pflanzenarten, 135 Vogelarten und 40 Säugetierspezies. Doch immer noch trennen Deiche viele Auenbereiche vom Fluss und lassen sie so austrocknen. Im Bereich des Lödderitzer Forstes wird daher auf rund sieben Kilometer Länge ein neuer Deich gebaut - bis zu 1,75 Kilometer weiter weg vom Fluss als der alte. Im Sommer wird er fertig sein, dann kann im kommenden Jahr der Altdeich geöffnet werden. "Das wird die größte Deichrückverlegung in Deutschland", sagt Eichhorn, "damit werden rund 600 Hektar Eichen-Ulmen-Hartholzauenwald wieder an die Elbe angeschlossen und können ganz natürlich überschwemmt werden."

Flüsse und Auen
"Das wird die grösste Deichrückverlegung in Deutschland."

Darüber hinaus haben die Naturschützer bereits auf rund 115 Hektar heimische Bäume wie Eichen gepflanzt und nicht heimische Arten wie zum Beispiel die Amerikanische Rotesche entfernt, auf 40 Hektar artenreiche Auenwiesen renaturiert und an 19 Stellen verbaute Flutrinnen wieder geöffnet, damit sie bei Hochwasser überschwemmt werden können. Dadurch finden Tier- und Pflanzenarten wie beispielsweise der Elbebiber, der Fischotter und die Sibirische Schwertlilie in den Auen wieder ein Zuhause.

Durch die Vergrößerung der natürlichen Überflutungsfläche wird auch der Hochwasserspiegel gesenkt werden - nach Abschluss aller Maßnahmen flussaufwärts zum Beispiel bei der Stadt Aken voraussichtlich um bis zu 25 Zentimeter. Damit ist das Elbe-Projekt auch ein Modell für naturnahen Hochwasserschutz in Deutschland.

Die Auenwälder wachsen wieder

Das von der UN ausgezeichnete Großschutzprojekt wird durch das Bundesprogramm "chance.natur - Bundesförderung Naturschutz" gefördert. Die Finanzierung von rund 30 Millionen Euro erfolgt zu drei Vierteln aus Mitteln des Bundesumweltministeriums, zu 15 Prozent durch das Land Sachsen-Anhalt und zu zehn Prozent durch den WWF Deutschland. Bis 2018, so das Projektziel, soll zwischen der Mulde- und Saalemündung auf mehr als 5800 Hektar ein naturnaher Auenwald mit durchgehend überflutbaren Hartholzbeständen gesichert sein. Weitere 210 Hektar Auenfläche wurden bereits 2015 in den benachbarten Dessau-Wörlitzer Elbauen bei Vockerode wieder mit dem Strom verbunden.

Küste und Meer
"Bei allem, was wir in Zukunft unternehmen, müssen wir die Naturkräfte wie Wind und Gezeiten nutzen."

An der Küste gewinnt Renaturierung als Schutz vor den Folgen des KIimawandels mehr und mehr an Bedeutung. Bislang wurden immer höhere Deiche gebaut, und das Land dahinter trockengelegt. Allein an der Ostseeküste verschwanden so 80 Prozent der typischen Salzgraswiesen.

Doch seit einiger Zeit hat ein Umdenken eingesetzt. So konnte der WWF die Gemeinde Groß Karrendorf nördlich von Greifswald davon überzeugen, einen großen Küstenabschnitt der Natur zu überlassen. "Es gab dort keine Siedlungen in der Nähe. Ein sechseinhalb Kilometer langer Damm wurde abgetragen und Ostseewasser kann seitdem wieder ungehindert zwei- bis dreimal im Jahr die Wiesen überfluten", erzählt Jochen Lamp, WWF-Projektleiter Ostseeschutz. Heute wachsen dort wieder wilder Sellerie und Erdbeerklee, landen Alpenstrandläufer und Kampfläufer zur Rast.

Renaturierung sichert Küsten

Und die Gefahr einer Sturmflut? Lamp erklärt: "Ein kürzerer Deich schützt das Dorf Groß Karrendorf, der genügt vollkommen. Zumal die neuen Salzgraswiesen hohe Wellen bremsen und abschwächen, bevor sie den Damm erreichen." Außerdem schwappen die gelegentlichen Fluten Schlick mit frischen Nährstoffen über das Grünland. Das freut die Bauern, deren Rinder dort grasen, und dient dem Küstenschutz. Denn auf diese Weise wachsen die Wiesen millimeterweise in die Höhe, sagt Lamps Kollegin Katharina Burmeister vom Stralsunder WWF-Büro. Sie untersucht aktuell weitere Flächen für Rückdeichungen an der Ostsee. Verblüffenderweise, berichtet Burmeister, wachsen überschwemmte Salzgraswiesen rascher, wenn sie regelmäßig von Kühen abgeweidet werden. Denn das trampelnde Vieh verdichtet den Boden relativ rasch zu Torf, der viel Wasser einlagert und somit die Wiese verstärkt in die Höhe wachsen lässt. So könnten die Salzwiesen mit dem Anstieg der Ostsee mithalten.

"Von einer renaturierten Küste profitieren daher die Natur, der Küstenschutz und Bauern gleichermaßen", sagt Lamp. Das hat auch die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern überzeugt. Rund 10.000 Hektar Ostseeküste will sie bis 2020 wieder natürlich überschwemmen lassen.

Mehr Sand für das Wattenmeer

An der Nordsee reicht das natürliche Wachstum der Wattflächen, Salzwiesen und Dünen nicht mehr aus, um mit dem beschleunigt steigenden Meeresspiegel Schritt zu halten. Zudem ließen sich Deiche im Wattenmeer nicht ohne weiteres verändern. Die Sturmfluten an der Nordsee sind viel heftiger als an der Ostsee. Doch der Klimawandel verlangt schnelles Handeln. "Bei allem, was wir in Zukunft unternehmen, müssen wir die Naturkräfte wie Wind und Gezeiten nutzen", sagt Hans-Ulrich Rösner, Chef des WWF-Wattenmeerbüros. Eine aktuelle Studie des WWF zeigt, wie: Sand aus tieferen Nordseegebieten könnte in die Nähe des Wattenmeers verfrachtet werden. Von dort würde er mithilfe von Strömungen auf natürliche Weise zu Stränden, Salzwiesen und Halligen an der Küste transportiert und ihnen helfen, sich dem steigenden Meeresspiegel anzupassen. Im Vergleich zu Deichen wäre diese Art von Küstenschutz flexibel: Die Sandmengen ließen sich jederzeit dem Meeresspiegel angleichen. Auch sollte mehr Sand von natürlichen Dünen in unbesiedelte Gebiete wehen und diese so erhöhen können. Der WWF arbeitete deshalb an der jüngst beschlossenen "Wattenmeerstrategie 2100" des Landes Schleswig-Holstein mit und testet aktuell naturnahen Küstenschutz in Pilotprojekten.

Natur stark machen

Ob an der Küste, im Moor, am Fluss oder im Wald: Renaturierung setzt natürliche Prozesse wieder in Gang oder stärkt sie. Das macht unsere Ökosysteme widerstandsfähiger - auch gegen die Folgen des Klimawandels. Die WWF-Projekte sollen ganz wesentlich dazu beitragen. Mehr noch: Wir wollen, dass wichtige Tier- und Pflanzenarten ihre angestammten Lebensräume zurückerobern können. Sie können uns dabei unterstützen, zum Beispiel bei der Wiederansiedlung von Luchsen.

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:


Moor fürs Klima

In der Uckermark, einem Wald- und Seenparadies nördlich von Berlin, waren bis in die neunziger Jahre rund 90 Prozent aller Moore entwässert worden, um Grünland zu gewinnen. Der WWF unterstützte daraufhin den Förderverein Feldberg-Uckermärkische Seenlandschaft dabei, im Naturpark möglichst viele Moore zu renaturieren. Bis heute gelang es, den Wasserstand in insgesamt 85 Kleingewässern, 27 Seen und 54 Mooren anzuheben. Das hilft auch dem Klimaschutz: Denn Moore, die wieder genug Wasser haben und Torf produzieren, speichern Kohlenstoff. Aus ihnen entweicht kein klimaschädliches Kohlendioxid mehr.

Schaalsee / Drömling / Uckermark
In wertvollen Feuchtgebieten hat der WWF Pionierarbeit in Sachen Renaturierung geleistet.

Mittlere Elbe
Wo Wiesen und Wälder regelmäßig überflutet werden, sind auch Elbebiber und die Sibirische Schwertlilie wieder heimisch.

- Lange nicht gesehen - Schon ein kleiner Bruchwald, der sich selbst überlassen bleibt, ist ein großer Gewinn für die Natur. - Auch die Kampfläufer profitieren von der Renaturierung der Moore und Salzgraswiesen.

- Nasses Nest - Kraniche ziehen ihre Jungen in Mooren und feuchten Bruchwäldern auf, wo sie vor Füchsen und Wildschweinen geschützt sind.

- Kleiner Unbekannter - Ameisenbläulinge sind mittlerweile eine Seltenheit

- Kobold der Kleingewässer - Der Kammmolch leidet wie viele Amphibien unter der Zerstörung von Auen und anderen Feuchtgebieten.

Wildnis wagen

Bis 2020 will die Bundesregierung die Zahl der Wildnisgebiete von einem halben auf mindestens zwei Prozent der Landfläche erhöhen - dies entspräche fast der dreifachen Größe des Saarlandes. Der WWF möchte mit seinen Projekten ganz wesentlich dazu beitragen.

Wattenmeer / Ostseeküste
Ein der Natur angepasster Küstenschutz ist im Vergleich zu starren Deichen klar im Vorteil.

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Quelle:
WWF Magazin 3/2016, Seite 10 - 17
Herausgeber:
WWF Deutschland
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Internet: www.wwf.de
 
Die Zeitschrift für Fördermitglieder und Freunde der
Umweltstiftung WWF Deutschland erscheint vierteljährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2016

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