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WILDNIS/026: Loslassen können (Naturschutz heute)


NATURSCHUTZ heute - Heft 1/18
Mitgliedermagazin des Naturschutzbundes (NABU) e.V.

Loslassen können
Mehr Wildnis in Deutschland ist möglich. Einfach wird das aber nicht, denn auch der Naturschutz muss sich dafür umgewöhnen.

von Helge May


Vor einigen Wochen sorgte in den Sozialen Medien ein kurzes Video für große Begeisterung. In aller Seelenruhe zog da eine Herde Wisente in langer Reihe durch die verschneite Landschaft. Das besondere daran: Die Aufnahme stammte nicht aus den Weiten Kanadas oder der USA, sie wurde im Hochsauerland gemacht. "Großartig, Wildnis in Deutschland", war der allgemeine Tenor.

Das Video und die Reaktionen zeigen: Es gibt Wildnis in Deutschland - oder jedenfalls etwas, das so aussieht - und viele Menschen sehnen sich danach. Laut der Naturbewusstseinsstudie von 2013 ist Wildnis bei den meisten Deutschen positiv besetzt. Wilde Tiere, unberührte Natur, aber auch Regenwald und Dschungel fallen als häufigste Stichworte. Immerhin zwei Drittel der Befragten glauben, dass es in Deutschland Wildnis gibt. 42 Prozent würden es begrüßen, wenn es noch mehr gäbe. Der gleiche Anteil findet den Umfang an Wildnis in Deutschland gut, so wie er ist, und nur drei Prozent plädieren für weniger. Stadt- und Landbewohner unterscheiden sich dabei nicht.

Was ist Wildnis eigentlich? - Man denkt zunächst an ausgedehnte, vom Menschen völlig unberührte Landschaften, wie sie in Sibirien oder am Amazonas noch existieren. So hat sich denn auch dieser Begriff aus dem Erleben der Urlandschaften der Neuen Welt als Gegenpol zu den vertrauten Kulturlandschaften Mitteleuropas entwickelt. Die Ideen mündeten in Nordamerika in einer regelrechten Wilderness-Bewegung und führten dort zur Ausweisung der ersten Nationalparke.

Internationale Begriffsbestimmungen sind stark auf ursprüngliche Wildnis zentriert. So definiert die Weltnaturschutzunion IUCN Wildnisgebiete als "ausgedehnte, ursprüngliche oder nur leicht veränderte Gebiete, die ihren natürlichen Charakter bewahrt haben."

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Gute Gründe für mehr Wildnis

- Wildnis sichert Vielfalt
Viele bedrohte Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen finden nur in Wildnisgebieten wichtige Lebens- und Rückzugsräume. Vernetzte Biotope erhöhen die Überlebenschancen auch für wandernde Arten.

- Wildnis macht glücklich
Je wilder die Natur ist, desto besser gefällt sie vielen Menschen. Wildnisgebiete bieten ein Gegengewicht zur stark genutzten Kulturlandschaft. Körper und Seele kommen zur Ruhe. Deshalb sind Wildnisgebiete weltweit beliebte Ausflugs- und Urlaubsziele, sie ziehen Erholungssuchende an und stärken ländliche Regionen.

- Wildnis macht schlau
Wie passt sich Natur dem Klimawandel an? Welche Lösungen finden Tiere und Pflanzen in ihrer natürlichen Umwelt? Wildnis ist ein Eldorado für Forscher. Überlebenswichtige Konzepte für Land- und Forstwirtschaft sowie Hochwasser- und Klimaschutz können mit diesem Wissen entwickelt werden.

- Wildnis schützt uns
Überschwemmungen sind oft verheerend für Menschen, Wirtschaft und Infrastruktur. In wilden Flussauen ist Hochwasser willkommen. Dort hat das Wasser genug Platz und bewohnte Gebiete werden geschützt.

- Wildnis hilft dem Klima
Gesunde Wälder, Moore und Auen wirken ausgleichend auf die extremen Wetterfolgen des Klimawandels und senken dauerhaft die Kohlendioxidkonzentration der Atmosphäre. Sie geben Lebewesen Raum und Zeit, sich an neue Klimaverhältnisse anzupassen.

- Wildnis rechnet sich
Trinkwasser, Sauerstoff oder Pflanzenbestäubung - wir sind auf die Leistungen der Natur angewiesen. Wildnisgebiete beherbergen ein unersetzliches Vermögen.

- Wildnis ist unsere Aufgabe
Zu Recht fordern wir den Schutz tropischer Regenwälder oder afrikanischer Savannen. Doch ungestörte Natur müssen wir auch bei uns ermöglichen. Das sollten wir schaffen. Nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kinder und Enkel.

Der Mensch hält sich raus - In weiten Teilen Mitteleuropas und speziell in Deutschland gibt es heute fast keine Bereiche mehr, die dieser ursprünglichen Wildnis entsprechen. Die in Fachkreisen verwendete, angepasste Definition lautet daher: "Wildnisgebiete sind ausreichend große, weitgehend unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten."

Der Mensch wird vom Gestalter zum Betrachter. Sind wir dazu bereit?

Betrachtet man das eingangs erwähnte Wisent-Video näher. dann ist darauf auch nach angepasster Definition nicht wirklich Wildnis zu sehen. Der frisch gefallene Schnee verdeckt eine Landstraße und weite Äcker. Die Wisente gehören zu einem Auswilderungsprojekt - immerhin haben sich die Tiere von acht auf über 20 vermehrt. Doch das Gebiet ist alles andere als nutzungsfrei, die Konflikte sind zahlreich.

Reise ins Ungewisse - Dass der Mensch sich heraushält, ist auch für die meisten Naturschützer ungewohnt. Unsere Kulturlandschaft ist durch eine lange Tradition extensiver Bewirtschaftung geprägt, die Lebensräume mit einem spezifischen Arteninventar geschaffen hat. Viele sind heute stark bedroht und stehen unter besonderem Schutz, Nutzung und Pflege sind für ihren Erhalt wichtig. Das ist das Gegenteil von Wildnis.

Nach den Vorgaben des EU-Naturschutzrechts soll sich der "Erhaltungszustand" geschützter Lebensraumtypen und Arten nicht verschlechtern. Wildnisprozesse laufen aber ergebnisoffen, also aus der Perspektive einzelner Arten oder Lebensräume gegebenenfalls auch in die falsche Richtung. Da beißen sich Wildnis und herkömmlicher Naturschutz.

Zwei Prozent Wildnis - zu viel verlangt? - Laut "Nationaler Strategie zur biologischen Vielfalt" der Bundesregierung soll sich die Natur bis 2020 wieder auf mindestens zwei Prozent der Landfläche Deutschlands nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln. Dieses Ziel 5011 überwiegend durch großflächige Wildnisgebiete realisiert werden. Die Wildnisgebiete sollen zudem in den länderübergreifenden Biotopverbund integriert werden. Außerdem sollen sich bis 2020 auf fünf Prozent der Waldfläche Wälder natürlich entwickeln können. Der Staat will dabei mit gutem Beispiel voran gehen und zehn Prozent der öffentlichen Wälder aus der Nutzung nehmen.

Wildnis kollidiert nicht nur mit unserem üblichen, auf beständige wohlmeinende "Einmischung" angelegten Naturschutzverständnis. Wildnis hat auch besondere Dimensionen, räumlich und zeitlich.


Früher war überall Wildnis

Unsere Vorfahren haben den "wilden Wäldern" Flächen für Siedlungen, Weidevieh oder Ackerbau im Schweiße ihres Angesichts abgerungen und mussten ständig gegen die wieder vorrückende Wildnis kämpfen. Heute bietet sich uns ein gegenteiliges Bild: Überall sind Menschen, und der kleine Rest Wildnis, den wir in Europa noch haben, liegt in unseren Händen. Wir entscheiden, wie viel Platz wir ihr einräumen - mehr noch: Wir müssen sie schützen, denn die Bedrohung von einst ist heute selbst bedroht. Und wo dies mangels ursprünglicher Wildnis nicht mehr möglich ist, ist es wichtig, dass sich große, nutzungsfreie Gebiete wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln dürfen.

Sabine Fischer,
Wildnisgebiet Dürrenstein, www.wildnisgebiet.at


"Eine besondere Rolle in Wildnisgebieten spielen bestandsverändernde Störungsereignisse wie Stürme, Feuer, Überschwemmungen oder Insektenfraß, die für Totholz und Licht am Boden und damit Wärme sorgen. Sowohl Totholz als auch Licht sind entscheidende Ressourcenimpulse, von denen viele Rote-Listen-Arten profitieren."

Sachverständigenrat für Umweltfragen

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500 Hektar Mindestgröße - Der Platz wäre wohl da. Eine Untersuchung ergab, dass 3,5 Prozent der Landesfläche für Wildnis geeignet wären. Dabei wurden Mindestgrößen von 500 Hektar für Moore, Flüsse und Küsten sowie 1.000 Hektar für Wälder und Gebirgslandschaften, ehemalige Truppenübungsplätze und Bergbaufolgelandschaften angenommen. Das Zwei-Prozent-Ziel ist also machbar.

Viele natürliche Prozesse verlaufen für menschliche Maßstäbe sehr langsam, sie gehen über unseren Erfahrungshorizont hinaus. Die verschiedenen Phasen der natürlichen Waldentwicklung bis hin zur Zerfallsphase können zum Beispiel mehrere Jahrhunderte dauern. Intakte Moore wachsen im Schneckentempo: Pro Jahr wird etwa ein Millimeter Torf neu gebildet.

Wildnis braucht Zeit - Auch Naturschützer sind ständig versucht. der Wildnis auf die Sprünge zu helfen. wenn die künftige Wildnis etwa komplett mit naturfernen Nadelbäumen bestockt ist, liegt es nahe, als Initialzündung mit Teilabholzungen einzugreifen, damit die Wildnis einen besseren Start hat.

Wildnis muss erlebbar sein. Der Naturschutz wird nur Erfolg haben, wenn er die Herzen berührt.

Irgendwann muss es damit aber gut sein. "Während des in der Regel maximal 10-jährigen, in Ausnahmefällen bis zu 30jährigen Entwicklungszeitraums werden die natürliche Entwicklung beeinträchtigende Infrastruktureinrichtungen der bisherigen Nutzung entfernt", heißt es in einem Papier des Bundesumweltministeriums. "Gefährdungen für Mensch und Umwelt, die vom Wildnisgebiet ausgehen und erst später auftreten, können auch nach diesem Zeitraum noch beseitigt werden." Jagd oder Fischerei sind in Wildnisgebieten natürlich tabu.


Der Wolf: Wildnis auf vier Beinen?

Der Wolf ist für viele Menschen Symbol für Wildnis. Zweifellos ist der Wolf ein Wildtier, doch er ist nicht auf Wildnis im Sinne von menschenleerer Natur angewiesen. Als anpassungsfähige Art kann der Wolf überall dort überleben, wo er genug Beutetiere und Rückzugsgebiete für die Aufzucht des Nachwuchses finden.

Dem steht das gesellschaftlich gelernte Bild vom wilden Wolf beispielsweise in den Weiten Nordamerikas oder der Karpaten entgegen. Hier haben die Wölfe auch die Zeiten intensiver Verfolgung überlebt, daher kennen die meisten Menschen nur Bilder von Wölfen in diesen entlegenen Regionen.

In Deutschland gibt es ein historisches Hoch an wilden Huftieren wie Rehe, Wildschweine und Rothirsch Und das auch dort, wo der Wolf seit nun bereits 17 Jahren wieder heimisch ist. Als Rückzugsräume nutzen Wölfe bereits relativ kleine Flächen, die in Naturschutzgebieten oder auf Truppenübungsplätzen liegen. Entscheidend für das dauerhafte Überleben der Wölfe in Deutschland ist die gesellschaftliche Akzeptanz - was auch bedeutet, Weidetierhalter beim Herdenschutz zu unterstützen.

Gebirgsregionen können sich zu Wildnis entwickeln. Ähnliches gilt für Küstenüberflutungsmoore.

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Quelle:
Naturschutz heute - Heft 1/18, Seite 36 - 39
Verlag: Naturschutz heute, 10108 Berlin
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"Naturschutz heute" ist das Mitgliedermagazin
des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) e.V.
und erscheint vierteljährlich. Für Mitglieder
ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2018

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