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LAIRE/254: Anthropozän - menschlicher Einfluß geologisch und global (SB)


Geologen leiten Schritt zur formalen Anerkennung einer neuen erdgeschichtlichen Epoche ein


Mit großer Mehrheit hat eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe dem Vorschlag zugestimmt, das geologische Zeitalter des Holozäns formal durch ein neues Zeitalter abzulösen, da die menschlichen Einflüsse weltweit geologisch festzustellen sind. Für die neue Epoche kursiert seit längerem auch schon ein Name, das Anthropozän. Ob dieser Begriff angenommen wird, wann der Beginn des neuen Zeitalters anzusetzen wäre und ob das Anthropozän nur eine Stufe innerhalb der Epoche des Holozäns darstellt, sind offene Fragen und Gegenstand der Debatte in Fachkreisen.

Entscheidend für die Bestimmung eines neuen geologischen Zeitalters - bleiben wir der Einfachheit halber beim Anthropozän - ist nicht, daß der Mensch die Umwelt verändert, sondern daß er die Geologie beeinflußt. So wie aus den Sedimentschichten die klimatischen Verhältnisse vergangener Erdzeitalter herausgelesen werden können, so ist auch in den heutigen Ablagerungen, die irgendwann durch den auflastenden Druck neuer Sedimentschichten entwässert werden, sich verfestigen und schließlich versteinern, der menschliche Einfluß nachweisbar.

Diese Woche Montag hat die vor sieben Jahren einberufene, internationale Anthropozän-Arbeitsgruppe (Anthropocene Working Group, AWG) ihre Empfehlungen auf dem 35. Internationalen Geologischen Kongreß, der vom 27. August bis 4. September in Kapstadt stattfindet, vorgestellt. [1]

Der AWG zufolge ist das Konzept des Anthropozäns, wie es von dem Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen und dem US-Biologieprofessor Eugene Stoermer im Jahr 2000 genannt wird, "geologisch real" und von einem Ausmaß, daß es in die geologische Zeitskala aufgenommen werden sollte. Der menschliche Einfluß habe zwar seit Tausenden von Jahren erkennbare geologische Spuren hinterlassen, aber erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts träten diese wesentlich und nahezu zeitgleich in den Erdsystemen weltweit auf.

Die AWG macht die Veränderungen daran fest, daß die Geschwindigkeit von Erosion und Sedimentation deutlich zugenommen hat und umfangreiche chemische Störungen unter anderem im Kohlenstoff-, Stickstoff- und Phosphorkreislauf auftreten. Zu den weiteren Indizien wird der Beginn des Klimawandels und Meeresspiegelanstiegs und die unkontrollierte Invasion fremder Arten gerechnet. Viele Veränderungen seien geologisch langlebig und manche sogar irreversibel. In den geologischen Schichten fände sich ein Bündel an Signalen, beispielsweise durch Partikel von Plastik, Aluminium, Beton, künstliche Radionuklide, Flugasche und biologische Überbleibsel sowie durch Veränderungen in der Isotopenzusammensetzung von Kohlenstoff und Stickstoff.

Bevor die Wissenschaft ein neues geologisches Zeitalter ausruft, muß die AWG noch einen formalen Vorschlag bei der Subkommission zur Quartärstratigraphie (Subcommission on Quaternary Stratigraphy, SQS), von der sie einberufen worden war, einreichen. Nimmt die SQS den Vorschlag an, reicht sie ihn offiziell an die nächsthöhere wissenschaftliche Verbandsebene, die Internationale Stratigraphiekommission (International Commission on Stratigraphy, ICS) weiter. Als letztes muß dann noch der Exekutivrat der Internationalen Geologischen Union (International Union of Geological Sciences, IUGS) den Vorschlag ratifizieren. Der gesamte Vorgang dürfte mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Mit der Bezeichnung Anthropozän wird zwar eine Vielzahl von Debatten, die in der Umwelt- und Klimaschutzbewegung geführt werden, aufgegriffen, aber keinesfalls kann man davon ausgehen, daß die an der Erarbeitung der neuen geologischen Epoche beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Arbeit verrichten, um der Bewegung Rückhalt zu geben. Die Wissenschaft beschreibt die Entwicklung nur und konstatiert die Zunahme des menschlichen Einflusses auf die Natursysteme, aber sie nimmt dazu keinen Gegenstandpunkt ein. Welche Folgen so eine Einstellung haben kann, wird am Beispiel von Paul Crutzen deutlich, der den Begriff "Anthropozän" nicht erfunden, aber ihn bekanntgemacht hat.

Crutzen befürwortet Geoengineering und hat entsprechende Berechnungen publiziert. Er schlägt vor, Schwefelpartikel in die obere Atmosphäre zu injizieren. Dadurch würde ein genügend großer Teil der Sonneneinstrahlung ins Weltall reflektiert, um auf diese Weise die globale Erwärmung zu unterbinden. Der Wissenschaftler ignoriert nicht die Nebenwirkungen, die ein solches Vorhaben auslösen würde, aber er wägt sie gegenüber den Folgen, die der Klimawandel zeitigen wird, ab.

Wenn Crutzen und andere Wissenschaftler vom Anthropozän sprechen, ist das zunächst einmal rein deskriptiv gemeint. Das ist einer der Gründe, warum Kritik an der Bemühung um die Ausrufung eines menschengemachten Zeitalters vorgebracht wurde. Denn die vermeintliche wissenschaftliche Neutralität ist ihrerseits eine klare Stellungnahme, beispielsweise hinsichtlich der angeblichen Machbarkeit des Geoengineerings, des dabei vermeintlich unverzichtbaren Einsatzes marktwirtschaftlicher Kräfte, etc.

Der Politikwissenschaftler und Marxist Elmar Altvater regt an, das neue Zeitalter "Kapitalozän" zu nennen, weil sich die destruktiven Produktivkräfte der kapitalistischen, dem Wachstumszwang unterliegenden Wirtschaft geologisch niederschlagen. [2] Altvater bezieht sich unter anderem auf den historischen Geographen Jason Moore, der das Buch "Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism" (London 2016) herausgegeben hat und ebenfalls Vertreter einer Kritik am Anthropozänbegriff von links ist.

Dahinter steckt zugleich eine grundsätzliche Kritik an Wissenschaft und den ihr zugrundeliegenden Produktionsbedingungen. Mason und Altvater werden sicherlich nicht damit rechnen, daß ihre Anregungen von der Geologenzunft aufgegriffen und angenommen werden. Der Nutzen ihrer Ausführungen liegt jedoch darin, einen vermeintlich wertneutralen Begriff wie Anthropozän zu demaskieren und zu verdeutlichen, daß bereits bei der Namenssuche gesellschaftliche Widersprüche unter den Tisch fallen.

Hier könnte man noch einen Schritt weitergehen als die Kritiker, ohne deshalb die Relevanz ihrer Einwände und Forderungen schmälern zu wollen. Die Verwertung der Um- und Mitwelt hat zwar im Kapitalismus exzessive Ausmaße angenommen, fand aber auch bei der Systemkonkurrenz im staatlichen gelenkten Sozialismus östlicher Couleur statt und würde im Prinzip auch bei der Verbreitung ursprünglicher, indigener Lebensformen stattfinden. Schon vor mehreren tausend Jahren hat der Mensch Spuren hinterlassen. Einige Wissenschaftler vertreten deshalb die Ansicht, daß der Beginn des Anthropozäns bereits vor 7.000 Jahren mit der Abholzung von Wäldern angesetzt werden sollte.

Zeitgleich mit dem Kapitalismus und besonders dem Aufkommen seiner neoliberalen Phase ist allerdings auch die Weltbevölkerung explodiert. Damit einhergehend hat die Verwertung der Um- und Mitwelt des Menschen stark zugenommen. Sicherlich muß die Antwort auf die Frage, ob es nicht unter allen gesellschaftlichen Zusammenschlüssen zur massiven Umgestaltung der Landschaft durch den Menschen gekommen wäre, also auch jenseits von Kapitalismus und Staatskapitalismus, spekulativ bleiben. Doch solange der Mensch Stoffwechsel betreiben muß, wird er Nahrung benötigen, und damit fangen die Probleme an. Selbst wenn es gelänge, beispielsweise die von der kapitalistischen Produktionsweise begünstigte Massentierhaltung und den Monokulturanbau abzuschaffen, ohne daß deshalb Menschen zusätzlichen Mangel erlitten, würden diese weiterhin essen, trinken, atmen, ausscheiden und dadurch zu einem erkennbaren geologischen Faktor werden. (Im übrigen vermögen Massentierhaltung und Monokulturanbau nicht zu verhindern, daß gegenwärtig rund 800 Millionen Menschen weltweit chronisch hungern und zwei Milliarden mangelernährt sind.)

Wenn sieben Milliarden Menschen in Stammeskulturen lebten, wären also auch die Folgen dieser Lebensform geologisch erkennbar. Wobei der Wissenschaft sicherlich keine so überwältigende Auswahl an Kriterien vorläge, an denen sie die Ablösung des Holozäns durch das Anthropozän festmachen könnte. "Kapitalozän" bildete demgegenüber jedoch eine Einschränkung und würde seinerseits dazu beitragen, daß die grundsätzliche Frage des Stoffwechsels und der damit einhergehenden Folgen ausgespart wird. Gegen eine Gestaltung der Umwelt durch den Menschen spräche per se nichts, sofern es gelänge, daß sich dies nicht zu Lasten der Mit- und Umwelt richtet - ein völlig illusorischer Anspruch, der jedoch auf das Problem der Voraussetzungen der eigenen Existenz aufmerksam macht. Darum ist Anthropozän der geeignetere Begriff. Den Kritikern bleibt es unbenommen, diesen auf eine Weise zu verwenden, daß die gesellschaftlichen Widersprüche, die sie mit ihrer Forderung nach Ausrufung eines "Kapitalozän" benennen, vielleicht sogar noch treffender zur Sprache kommen.


Fußnoten:

[1] http://www2.le.ac.uk/offices/press/press-releases/2016/august/media-note-anthropocene-working-group-awg

[2] Näheres dazu unter:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/meinung/umme-252.html

30. August 2016


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