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LAIRE/290: Indien - beraubt, vertrieben und verstreut ... (SB)



In Indien sollen Millionen Menschen für den Naturschutz vertrieben werden. Im Jahr 2006 hatte die Regierung ein Waldrechtegesetz verabschiedet, das "illegalen" Waldbewohnerinnen und -bewohnern die Chance eingeräumt, aber sie eben auch dazu genötigt hat, ihre Nutzungsrechte schriftlich zu begründen. Die Anträge von rund 1,2 Millionen Haushalten wurden nicht genehmigt. Dennoch unternahmen die Behörden keine Schritte gegen die abgewiesenen Menschen. Gegen diese Untätigkeit sowie grundsätzlich gegen die Rechtmäßigkeit des Waldrechtegesetzes hat eine Reihe indischer Naturschutzorganisationen und Personen, die beanspruchen, sich für den Schutz der Wälder, der Tiger und anderer tierischer Bewohner einzusetzen, vor dem Obersten Gericht Indiens geklagt. Das Gericht hat am 13. Februar dieses Jahres der Klage stattgegeben und die betroffenen Bundesstaaten angewiesen, dafür zu sorgen, daß jene Menschen, die kein verbrieftes Recht haben, in den Wäldern zu leben, bis zum nächsten Sitzungstermin des Gerichts am 24. Juli dieses Jahres die Wälder verlassen haben. [1]

Survival International spricht von acht Millionen Menschen, die in den nächsten Monaten ihre Heimat verlieren könnten, weil hinter jedem Antrag ganze Familien stecken. Stephen Corry, Direktor dieser Menschenrechtsorganisation, sagte zu dem Urteil: "Diese Entscheidung ist ein Todesurteil für Millionen Indigene in Indien, Landraub in epischem Ausmaß und eine monumentale Ungerechtigkeit. Sie kann zu großem Elend, Verarmung, Krankheit und Tod führen und direkt in eine humanitäre Krise. Und es wird nicht helfen, die Wälder zu retten, die von den Indigenen doch seit Generationen geschützt wurden." [2]

Zu den Partnern einer der klagenden Parteien, des Wildlife Trust India, gehören neben mehreren indischen Behörden auch die führende Schiffswerft Cochin Shipyard Ltd, der Reifenhersteller Apollo, das Telekommunikationsunternehmen Aircel, die staatliche Oil & Natural Gas Corporation und Oracle sowie Nichtregierungsorganisationen wie WWF, NABU und Europäische Tierschutzstiftung. [3] Survival International fragt nun unter anderem den WWF, ob sich die Naturschutzorganisation gegen die Vertreibungen stellt. Außerdem erinnert sie daran, daß bereits viele indigene Völker vertrieben wurden, nachdem ihr angestammtes Land zu Tigerschutzgebieten erklärt worden war.

Die Adivasi und übrigen Waldbewohner zählen zu den ärmsten unter den armen Bevölkerungsgruppen Indiens. Viele Stammesmitglieder kamen mit dem Papierkram nicht zurecht, der ihnen behördlicherseits abverlangt wurde. Trotzdem haben es zahlreiche Adivasi geschafft, einen Antrag zu stellen. Aakar Patel von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International India berichtete, daß der Entscheidungsprozeß über die Rechtmäßigkeit der Ansprüche der Waldbewohner von Korruption, Bürokratismus und staatlicher Apathie bestimmt war. Die Regierungen der Bundesstaaten hätten sogar selbst eingeräumt, daß Ansprüche häufig unzulässigerweise abgewiesen worden sind. "Aber selbst wenn diese korrekt zurückgewiesen wurden, muß die Regierung Alternativen zu Vertreibungen anbieten", macht Patel auf eigentlich etwas sehr Naheliegendes aufmerksam. Das Forest Rights Act sei beschlossen worden, um eine historische Ungerechtigkeit gegenüber den Adivasi-Gemeinschaften Indiens zu korrigieren, so Patel. Doch sollte das Urteil umgesetzt werden, könnte das Waldrechtegesetz seinerseits katastrophale Folgen zeitigen. [4]

Die Rolle der Zentralregierung Indiens ist in dieser Sache nicht etwa undurchsichtig, sondern klar: Sie hat zu den letzten vier Sitzungen des Obersten Gerichts keine Vertretung entsandt, um ihr Waldrechtegesetz (Scheduled Tribes and Other Traditional Forest Dwellers - Recognition of forest rights - Act; kurz: Forest Rights Act) zu verteidigen. Eine Woche vor der Urteilsverkündung hatten noch Vertretungen der Adivasi und anderer Waldbewohner gemeinsam mit den beiden Parteien Communist Party of India und Communist Party of India (Marxist) sowie dem indischen Kongreß einen Brief an das Ministerium für Stammesangelegenheiten (Ministry of Tribal Affairs) gesandt und es aufgefordert, das Waldrechtegesetz vor Gericht zu verteidigen. [5]

Vergebens. Erst jetzt, im nachhinein, nachdem das Ministerium von verschiedenen Seiten heftig kritisiert worden war, äußert es sich zu dem Fall und spricht von "fehlgeleiteten" Meldungen in Teilen der Medien. Die indische Regierung sei sich ihrer Verantwortung zur Verteidigung des Waldrechtegesetzes sehr wohl bewußt und das Ministerium werde alle seine zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um die Interessen der Stämme wie bisher auch zu verteidigen. [6]

Um welche "Mittel" es sich handelt und warum man den Anhörungen des Obersten Gerichts ferngeblieben war, wurde nicht gesagt.

Die Naturschutzorganisationen Wildlife Trust of India, the Nature Conservation Society, the Tiger Research and Conservation Trust und die Bombay Natural History Society sowie ehemalige Mitarbeiter der Forstbehörden der Bundesstaaten Andhra Pradesh, Odisha, Maharashtra und Karnataka hatten gegen das Waldrechtegesetz geklagt, weil es angeblich die Entwaldung fördert und zu Schäden an den Wäldern beiträgt. Das sei nicht mit der indischen Verfassung vereinbar, lauten die ursprünglich neun Klageschriften, die vom Obersten Gericht im Jahr 2015 zu einem einzigen Fall zusammengezogen wurden.

Jetzt hat das Oberste Gericht Indiens die Staatsregierungen von Andhra Pradesh, Assam, Bihar, Chhattisgarh, Jharkhand, Karnataka, Kerala, Madhya Pradesh, Maharashtra, Odisha, Rajasthan, Tamil Nadu, Telangana, Tripura, Uttarakhand, Uttar Pradesh und West Bengal aufgefordert zu erklären, warum sie die abgewiesenen Menschen nicht aus den Wäldern vertrieben haben. Zudem wurden diese Regierungen (sowie die von Goa, Gujarat und Himachal Pradesh) aufgefordert, die Vertreibungen zu vollziehen.

Debi Goenka, Leiter der Naturschutzorganisation Conservation Action Trust, verteidigte laut der britischen Zeitung "Guardian" den Standpunkt seiner Organisation und sagte, daß jene Menschenrechtsaktivisten und anderen Gruppen, die das Urteil des Obersten Gerichts kritisierten, anscheinend glaubten, daß Indien ohne seine Wälder existieren könne. Diese Leute verstünden nicht, daß alle Flüsse Indiens, bis auf zwei, von Wäldern abhängig sind. Satellitenaufnahmen zeigten das Vordringen der Stämme in die geschützten Wälder. [7]

Satellitenaufnahmen zeigen allerdings noch etwas anderes, nämlich daß die Waldfläche Indiens für den Bergbau, die Verlegung von Hochspannungs-Überlandleitungen und andere Infrastruktureinrichtungen, den Bau von Staudämmen, Atomkraftwerken und vieles mehr, das nichts mit dem Leben der Adivasi zu tun hat, ihnen auch nicht oder nur bedingt von Nutzen ist, zerschnitten wird.

Anstatt acht Millionen Menschen aus ihren angestammten Lebenszusammenhängen zu vertreiben, weil sie mutmaßlich den Wald schädigen, wäre zu prüfen, ob der Staat nicht sehr viel mehr für den Waldschutz tun könnte, wenn er zum Beispiel die Schürfrechte von Bergbauunternehmen reduziert, Infrastrukturprojekte streicht, Aufforstungsprogramme auflegt und den sozialen Wohnungsbau in den Städten fördert, so daß die Menschen nicht als letzten Zuflucht in die Wälder ziehen.

Ein Beispiel: Zentral- und Staatsregierung sowie lokale Behörden haben die Erweiterung des Kohletagebaus in Hasdeo Arand im Bundesstaat Chhattisgarh genehmigt. Dort dürfen nun 187.800 Hektar Land gerodet werden. Von der Vertreibung sind 1395 Adivasi und andere Waldbewohner betroffen. In der Region hatte das Unternehmen Rajasthan Rajya Vidyut Utpadan Nigam Limited, eine der vielen Töchter des Adani-Konzerns, Lizenzen zur Kohleförderung in der Parsa-Mine von insgesamt 841.538 Hektar erworben. Ausgerechnet dieses Gebiet zählt zu einem besonders dicht bewaldeten Streifen in Zentralindien. Im Januar 2015 hatten 20 Dorfgemeinschaften unter Berufung auf das Waldrechtegesetz eine Resolution verabschiedet, um die Vergabe der Abbaulizenzen zu verhindern. Daraufhin hat die Regierung von Chhattisgarh kurzerhand die kommunalen Waldrechte der Stämme gestrichen. [8]

Der absehbare Ausgangs der Klage vor dem Obersten Gericht kommt der Regierung von Premierminister Narendra Modi von der Bharatiya Janata Party (BJP) womöglich entgegen. Sie führt einen permanenten, sogenannten unterschwelligen Krieg gegen die maoistisch orientierten Naxaliten, die wie die Adivasi im Wald leben. Teilweise überschneiden sich diese Gruppen. Der Staat hat das virulente Interesse, seine Verfügungsgewalt bis in den letzten Winkel des Landes vollständig zu sichern. Das war der Hintergrund bereits zum Beschluß des Waldrechtegesetzes, durch das letztlich knapp 50 Prozent der "illegalen" Waldbewohner einen legalen Status erhalten haben, aber eben mehr als 50 Prozent nicht. Ist nicht "teile und herrsche" schon immer ein beliebtes Mittel zur Sicherung der staatlichen Ordnung?

Es läßt sich spekulieren, daß die Modi-Regierung, die eine neoliberale Wirtschaftspolitik betreibt, gehofft hatte, daß das Waldrechtegesetz, das zu verteidigen sie nicht wahrgenommen hat, insgesamt gekippt würde. Denn das Gesetz ist nicht nur Naturschutzorganisationen ein Dorn im Auge, sondern - wenngleich aus völlig entgegengesetzten Interessen heraus - beispielsweise Bergbauunternehmen und der Forstwirtschaft. Auch steht es den Interessen einer ungebremsten infrastrukturellen Erschließung der Wald- und Naturschutzgebiete im Wege. Womöglich spielt die Regierung über Bande und hat die Naturschützer vorgeschickt, damit diese sich unbeliebt machen. Jedenfalls fällt auf, daß laut den umfangreichen Recherchen der Initiative Land Conflict Watch zwischen 2016 und 2018 in Indien über 600 Konflikte um Landrechte aufgetreten sind. 75 Prozent davon hatten mit Entwicklung und Industrialisierung zu tun, wobei Infrastrukturprojekte der größte Einzelfaktor waren. [9]

Deshalb ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß das unter Premierminister Manmohan Singh von der Kongreßpartei beschlossene Waldrechtegesetz einerseits zwar jetzt zu den Vertreibungen führen könnte, aber daß es aus Sicht der heutigen Regierung noch viel zu sehr die Ansprüche der Armen berücksichtigt.


Fußnoten:

[1] http://www.indiaenvironmentportal.org.in/files/file/Forest-Rights-claims-SC-Order_13-Feb-2019.pdf

[2] https://www.survivalinternational.de/nachrichten/12085

[3] https://www.wti.org.in/partners/

[4] https://amnesty.org.in/news-update/india-devastating-supreme-court-ruling-could-render-over-a-million-indigenous-people-homeless/

[5] https://www.downtoearth.org.in/news/forests/sc-seeks-reports-on-rejected-forest-rights-claims-from-states-63233

[6] tinyurl.com/y57oj9yw

[7] https://www.theguardian.com/world/2019/feb/22/millions-of-forest-dwelling-indigenous-people-in-india-to-be-evicted

[8] https://www.landconflictwatch.org/research/hasdeo-arand-coalfield

[9] https://rightsandresources.org/en/blog/indias-land-conflict-watch/#.XHQBiHVKgW0

25. Februar 2019


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