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LAIRE/326: Insektensterben - komplexe Konsequenzen ... (SB)



Einige Anmerkungen vorweggeschickt: Das Insektensterben, über das in den letzten Jahren oft reißerisch berichtet werde, falle gar nicht so dramatisch aus; es gebe auch Arten, die sich erholt haben ... In diesem Tenor wird eine aktuell in "Science" [1] veröffentlichte Metastudie über die globalen Insektenbestände unter anderem aus Richtung der weltanschaulich libertären Ecke interpretiert. [2] Die mit Themen rund um die Landwirtschaft befaßte Internetseite Top Agrar ersetzt sogar die wissenschaftlichen Autoren der Metastudie kurzerhand durch ein Mitglied der libertären Lobbyorganisation, das über die Ergebnisse berichtet hatte. [3] Noch abenteuerlicher wird es, daß eben jene libertäre Lobbyorganisation ihrerseits den fehlerhaften Bericht von Top Agrar als Anreißer auf ihrer eigenen Internetseite kolportiert. [4] Selbstreferentielle Fake News, könnte man auf neudeutsch sagen. Es ist schon bedenklich, wie hier eine ideologisch befrachtete Organisation die wissenschaftliche Leistung anderer als eigenes Werk ausgibt oder, falls es sich um ein Versehen handelt, dieses nicht umgehend korrigiert.

Eine moderate Deutung der Ergebnisse der Metastudie lautet, daß nun erstmals ein differenzierteres Bild zum Insektensterben vorliegt. Damit kommen wir zu den eigentlichen Autorinnen und Autoren, nämlich zu dem federführend an der internationalen Metastudie beteiligten Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig, einem Konsortium aus elf Universitäten und Forschungsinstituten. Hauptautor Dr. Roel van Klink und seine Kolleginnen und Kollegen hatten 166 Langzeitstudien aus dem Zeitraum 1925 bis 2018 analysiert, die an 1676 Standorten durchgeführt worden waren. Demnach gehen Anzahl und Biomasse der an Land lebenden Insekten zurück, wohingegen bei Süßwasserinsekten sogar ein positiver Trend zu beobachten ist.

Die Insekten als artenreichste Tierklasse des Planeten sind noch vergleichsweise wenig erforscht. Bislang wurde von ihnen gut eine Million Arten beschrieben. Hochrechnungen zufolge existieren fünf bis sechs Millionen Arten. Allein dieses Verhältnis zeigt, daß nur unter Einschränkungen von einem "globalen" Insektensterben gesprochen werden kann, denn die Wissenschaft weiß überhaupt nur etwas zu dem bislang erfaßten, kleineren Teil der Insekten zu sagen. Dennoch ist die Ergebnislage eindeutig: Legt man nun den bislang untersuchten Anteil der Insekten zugrunde, so zeigt sich laut der Metastudie unter den landlebenden Arten ein durchschnittlicher Verlust von 0,92 Prozent pro Jahr. Auf einen Zeitraum von gut 30 Jahren bezogen beträgt der Insektenrückgang somit 24 Prozent, bei 75 Jahren sogar fast 50 Prozent. Innerhalb der Gruppe der landlebenden Insekten schnitten jene, die in Bäumen leben, noch am besten ab, da kaum Veränderungen eingetreten waren. Bei Flug- und in Bodennähe lebenden Insekten dagegen wurden die größten Schwunde registriert.

Süßwasserarten wie Libellen, Wasserläufer und Köcherfliegen zeigten einen jährlichen Zuwachs um 1,08 Prozent. Das entspricht einer Steigerung um 38 Prozent innerhalb von 30 Jahren. Wasserschutzmaßnahmen wie die Verbreitung von Kläranlagen und die Renaturierung von Fließgewässern könnten wichtige Faktoren dieses Trends sein, wird in dem "Science"-Bericht vermutet.

Hinsichtlich der Einordnung und Bewertung der Metastudie sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß die Süßwasserfläche nur 2,49 Prozent der Landfläche ausmacht und Wasserinsekten nur zehn Prozent ihrer Klasse bilden. Das weitaus meiste Insektenleben spielt sich an Land ab. Deshalb erweist sich jeder Versuch, hier zwei einander ausgleichende Verläufe zu postulieren, als unangemessen. Die Verluste auf der einen Seite werden nicht durch die Zugewinne auf der anderen kompensiert.

Zu berücksichtigen ist weiterhin, daß Nordamerika und Europa in den analysierten Einzelstudien überrepräsentiert sind. Aus Afrika dagegen lagen nur zwei und aus Indien keine einzige Studie mit einer Mindestdauer von zehn Jahren vor. Auch Australien mit seiner evolutionär außergewöhnlichen Tierwelt war unterrepräsentiert. Kurzum, man kann auch jetzt noch kein umfassendes Bild von Veränderungen und Zustand der gesamten Insektenwelt zeichnen.

Was die mutmaßliche Verbesserung der Süßwasserökosysteme betrifft, so ist zu bedenken, daß die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesregierung wegen der hohen Nitratbelastung von Gewässern angestrengt hat. Zwar soll das Problem mit der neuen Düngerverordnung behoben werden, aber die Gewässergüte in Deutschland läßt bislang sehr zu wünschen übrig.

Die bloße Anzahl der Insekten und die Masse, die sie auf die Waage bringen, sagen noch nichts darüber aus, welche Funktionen diese Arten innerhalb der von ihnen bevorzugten Ökosysteme erfüllen. Sollten beispielsweise die Verluste vor allem unter Bestäubern auftreten, wie sie für den Obst- und Gemüseanbau oder auch die Produktion von Raps unverzichtbar sind, dann macht es keinen Sinn, dies mit der starken Verbreitung von Raubinsekten wie den Libellen gegenzurechnen.

Wie gesagt, auch wenn die Metastudie ein vielschichtigeres Bild zur Insektenverbreitung liefert, als es bislang vorlag, genügt dies bei weitem nicht bei der Beantwortung der Frage zum Zustand der globalen Ökosysteme. So ist Christoph Scherber vom Institut für Landschaftsökologie in Münster nicht überrascht, daß der beobachtete Insektenrückgang in Gebieten mit Nutzpflanzenanbau vergleichsweise geringer ausfällt. Würden zum Beispiel viele Rapsfelder angelegt, sei auch mit mehr Rapskäfern und Schwebfliegen zu rechnen, sagte er laut Redaktionsnetzwerk Deutschland. [5]

Es könnte also sein, daß die Abundanz (Verbreitung) bestimmter Insekten der Agrarlandschaft zugenommen hat - womöglich sogar der Schadinsekten. Die Einwände Scherbers [6] hinsichtlich der Deutung der Ergebnisse werden nachvollziehbar, wenn man bedenkt, daß in Ostafrika in diesem Jahr aufgrund der günstigen klimatischen Bedingungen - Hitze und Feuchtigkeit - gewaltige Heuschreckenschwärme entstanden sind, die regional drastische Ernteverluste verursachen. Sollte diese Entwicklung anhalten, wäre eine Zunahme an Insekten sicherlich nicht wünschenswert.

Die von der Metastudie errechneten Trends geben einen Mittelwert von Einzeluntersuchungen wieder, wie sie beispielsweise der Entomologische Verein Krefeld über einen Zeitraum von 27 Jahren an Dutzenden von Standorten in Schutzgebieten vor allem in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Brandenburg und Rheinland-Pfalz mit Hilfe von Insektenfallen durchgeführt hat. Demnach nahm zwischen 1989 und 2016 die registrierte Masse der Fluginsekten um mehr als 75 Prozent ab. [7]

In der Presseerklärung der iDiv wird diese Langzeituntersuchung etwas abschätzig beschrieben, wenn es heißt: "In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien veröffentlicht, die einen dramatischen Insekten-Rückgang zeigen. Besonders viel Aufmerksamkeit erhielt eine Studie aus Naturschutzgebieten im Raum Krefeld." [8] Wie gesagt, die von den Krefelder Entomologen aufgestellten Insektenfallen standen zwar schwerpunktmäßig in NRW [9], aber nicht nur. Indem man ein großes Bundesland auf den "Raum Krefeld" reduziert, macht man es sich zu einfach.

Üblicherweise geben die an Untersuchungen des Insektenrückgangs Beteiligten keine monokausale Erklärung für die Verluste ab, benennen aber mögliche Einflußfaktoren wie den Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln, die nicht nur die Zielinsekten treffen, die Verkleinerung und Isolierung von Schutzgebieten, den Monokulturanbau und Verlust artenreicher Randstreifen, allgemein den Einsatz moderner, auf Ertragssteigerung ausgerichteter Anbausysteme, den Klimawandel und einiges mehr.

Von Insekten ist das Ineinandergreifen ganzer Ökosysteme abhängig. Im Boden verstärken sie die Humusbildung und Fruchtbarkeit, für viele Wild- und Nutzpflanzen sind ihre "Leistungen" als Bestäuber unverzichtbar. Ein globales Insektensterben wird die Welternährung gefährden. Allein in der deutschen Landwirtschaft wird der Wert der bestäubungsabhängigen Produktion mit 1,13 Milliarden Euro beziffert. [10]

Es ist schön, daß es den Wasserinsekten anscheinend besser geht. Doch der Standpunkt, daß die Warnungen in der Vergangenheit vor folgenschweren Veränderungen der Ökosysteme und Ernährungslage durch das Insektensterben übertrieben waren, kann sich auf vieles im breiten Spektrum beliebiger Meinungsbildung und Ideologie berufen, nicht jedoch auf die aktuelle Metastudie.


Fußnoten:

[1] Roel van Klink, Diana E. Bowler, Konstantin B. Gongalsky, Ann B. Swengel, Alessandro Gentile and Jonathan M. Chase (2020): Meta-analysis reveals declines in terrestrial but increases in freshwater insect abundances.
Science, 368(6489) DOI: 10.1126/science.aax9931

[2] In einer deutschsprachigen Email-Aussendung, die folgender englischsprachigen Veröffentlichung entspricht:
http://meltwater.pressify.io/publication/5ea1d7f7a5c7670004f1d76d/5aa837df2542970e001981f6

[3] https://www.topagrar.com/acker/news/neue-meta-studie-insekten-apokalypse-findet-nicht-statt-12045615.html (abgerufen am 27. April 2020, 17.10 Uhr)

[4] https://consumerchoicecenter.org/neue-meta-studie-insekten-apokalypse-findet-nicht-statt/ (abgerufen am 27. April 2020, 17.20 Uhr)

[5] https://www.rnd.de/wissen/insektensterben-studie-gibt-anlass-zu-hoffnung-trotz-ernster-lage-HX7SPW643JEHNDWZ56IYULEZQQ.html

[6] Ein Schattenblick-Interview mit Prof. Dr. Christoph Scherber finden Sie hier:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0268.html

[7] Ein Schattenblick-Interview mit dem Biologen Dr. Martin Sorg vom Entomologischen Verein Krefeld, der an den Langzeituntersuchungen mitgearbeitet hat, finden Sie hier:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0271.html

[8] https://www.idiv.de/de/news/news_single_view/1695.html

[9] https://www.nabu.de/news/2017/10/23291.html

[10] https://www.bfn.de/themen/insektenrueckgang/ursachen-und-handlungsbedarf.html

28. April 2020


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