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STANDPUNKT/223: Moore Lappé - "Die Umweltkrise ist in Wirklichkeit eine Demokratiekrise." (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. Februar 2012

Interview: 'Umweltkrise ist in Wirklichkeit eine
Demokratiekrise' - Ernährungssouveränitätsaktivistin Moore Lappé warnt vor 'Denkfallen'

von Stephen Leahy

Frances Moore Lappé - Bild: © mit freundlicher Genehmigung von Frances Moore Lappé

Frances Moore Lappé
Bild: © mit freundlicher Genehmigung von Frances Moore Lappé

Uxbridge, Kanada, 10. Februar (IPS) - Damit die Welt die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie Klimawandel, Ernährungssicherheit und Armutsbekämpfung bewältigen kann, muss sie sich aus ihren "Denkfallen" befreien. Sie verstellen den Menschen nach Ansicht von Frances Moore Lappé, Trägerin des alternativen Nobelpreises, bei der Suche nach Lösungen den Blick.

Gleichzeitig müsse die Menschheit die Geiselnahme der Politik durch die Wirtschaft unterbinden, meint die Autorin von 'Packen wir's an! - Klarheit, Kreativität und Mut in einer verrückt gewordenen Welt'. Insgesamt hat Lappé 18 Bücher geschrieben, darunter den Bestseller 'Diet for a Small Planet'. Ihr bisher letztes Buch kam im September 2011 unter dem Titel 'EcoMind: Changing the Way We Think, to Create the World We Want' heraus.

"Ohne wahre Demokratie können wir den Klimawandel oder die Armut nicht besiegen", so die Mitbegründerin des Food First-Instituts für Ernährungssouveränität mit Sitz im US-amerikanischen Oakland, im nachfolgenden IPS-Interview.


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Frage: Was verstehen Sie unter 'Denkfallen'?

Frances Moore Lappé: Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wir sehen sie durch einen Filter oder den Schleier unserer eigenen Wahrnehmung. Neurowissenschaftliche Forschungen haben ergeben, dass wir bei der Interpretation der Welt auf unsere bisherigen Erfahrungen und Vorstellungen zurückgreifen. In anderen Worten: Wir sehen das, was wir zu sehen erwarten.

Unsere Gesellschaft wird von dem Gedanken beherrscht, dass es einen Mangel gibt, dass Ressourcen und Nahrungsmittel nicht für alle reichen werden. Aus diesem Grund 'sehen' oder interpretieren wir alles durch einen solchen Filter oder Referenzrahmen.

Frage: Wie wirkt sich diese gängige Idee des Mangels auf uns aus?

Moore Lappé: Der Gedanke, nicht genug zu haben, macht uns hilflos und bringt uns in Konkurrenz zueinander. Wir denken, dass es besser ist, dass wir unsere Schäflein ins Trockene bringen, bevor es andere tun. Die Mehrheit der Menschen, mit denen ich spreche, ist der Meinung, dass mit sieben Milliarden Erdenbürger der Mangel zur Realität geworden ist und auch bleibt. Sie werden von dieser Mangelmentalität geblendet.

Frage: Aber stimmt es nicht, dass uns die Ressourcen Wasser, Energie, Nahrungsmittel etc. ausgehen?

Moore Lappé: Als junge Studentin fand ich heraus, dass die US-amerikanische Nahrungsmittelproduktion extrem verschwenderisch und ineffizient ist. Um ein Pfund Fleisch zu produzieren, werden 16 Pfund Mais und Soja verfüttert und 12.000 Gallonen (54.000 Liter) Wasser verwendet. Fast die Hälfte unserer Ernten wird nie verzehrt.

Diese erschütternde Vergeudung ist die Regel, nicht die Ausnahme. Sie beschränkt sich nicht allein auf die Nahrungsmittelproduktion. Der US-Energiesektor verschwendet 55 bis 87 Prozent der generierten Energie - das Meiste geht in Form von Wärme in den Energieanlagen verloren. Und es sind nicht nur die USA. UN-Studien haben gezeigt, dass 3.000 der weltgrößten Konzerne im Jahr 2008 Schäden an der Natur in Höhe von zwei Billionen US-Dollar (2.000 Milliarden Dollar) angerichtet haben.

Frage: Warum sind wir so große Zerstörer und Verschwender?

Moore Lappé: Das ist das Resultat der derzeitigen Marktökonomie, die darauf abzielt, einer kleinen Minderheit von Wohlstandsinhabern möglichst schnell Höchsterträge zu liefern. Unsere Wirtschaft schafft erst den Mangel, indem sie außerordentlich verschwenderisch und destruktiv ist. Der Begriff 'Freie Marktwirtschaft' ist völlig fehl am Platze. Vielmehr haben wir es mit einer firmenmonopolistischen Marktökonomie der Verschwendung und Zerstörung zu tun. Wir sollten behutsamer und präziser in unserer Ausdrucksweise sein.

Frage: Umweltschützer und einige Wirtschaftsexperten rufen immer lauter nach einem Wandel der Wachstums- zur Nicht-Wachstumswirtschaft. Sie jedoch sagen, das sei eine Denkfalle ...

Moore Lappé: Ja, weil dadurch eine Debatte in Gang kommt, die vom Wesentlichen ablenkt. Wachstum hört sich für die meisten Menschen nach etwas Positivem an. Besser ist es, sich auf die Bildung eines Systems zu fokussieren, das Gesundheit, Glück, ökologische Vitalität und soziale Macht verspricht.

Frage: In Ihrem letzten Buch sagen sie, dass sich jeder auf eine "gelebte Demokratie" konzentrieren sollte?

Moore Lappé: Die Vereinigten Staaten sind zu dem geworden, was man als 'Plutonomie' bezeichnen könnte, in der das oberste ein Prozent (der Bevölkerung) einen größeren Reichtum kontrolliert als die unteren 90 Prozent. Die Ungleichheit in den USA ist nach Angaben der Weltbank inzwischen größer als in Pakistan oder Ägypten. Das Ergebnis sind Konzerne und ihre Einflussnahme auf öffentliche Entscheidungen mit Hilfe ihrer politischen und Lobbyarbeit. In den USA kommen auf einen Kongressabgeordneten inzwischen zwölf Lobbyisten.

Um dieser Geiselnahme durch die Privatwirtschaft entgegenzuwirken, müssen wir wieder eine Kultur der gegenseitigen Verantwortlichkeit, Transparenz, bürgerlichen Partizipation und öffentlichen Wahlfinanzierung erschaffen. Demokratie bedeutet nicht nur, einmal im Jahr wählen zu gehen. Sie ist eine Kultur, eine Lebensweise. (...) Die Umweltkrise ist in Wirklichkeit eine Demokratiekrise.

Frage: Unter vielen umweltbewussten Menschen macht sich das Gefühl breit, dass es zu spät sein könnte und dass die Barrieren, die es zu überwinden gilt, inzwischen viel zu hoch geworden sind.

Moore Lappé: Zu denken, dass es zu spät sein könnte, ist eine weitere Denkfalle. Es dürfte zu spät sein, entscheidende Auswirkungen zu verhindern, die sich hätten vermeiden lassen, wären wir schon vor 20 Jahren aktiv geworden. Für das Leben ist es jedoch nie zu spät. Mein Buch bringt viele Beispiele von Menschen, die Verantwortung übernehmen und das Ruder herumreißen.

Der Gedanke, dass es zu spät sein könnte, wird durch das Gefühl geweckt, allein und machtlos zu sein. Die Menschen fühlen wegen ihrer Denkfallen so. Sie erliegen den falschen Vorstellungen, dass Mangel vorherrscht und die Menschheit von Natur aus gierig und egoistisch ist. Dieser Glaube und eine von der Privatwirtschaft gegängelte Regierung haben das Gefühl der Machtlosigkeit verursacht.

Frage: Im Juni begeht findet 20 Jahre nach dem historischen Erdgipfel die sogenannte Rio+20-Konferenz statt. Was versprechen Sie sich von dem Treffen?

Moore Lappé: Rio+20 gibt uns die Chance, das Ruder herumzureißen und uns mit der Natur zu verbinden, um eine Welt zu schaffen, die wir wirklich wollen. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:
http://www.foodfirst.org/
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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 10. Februar 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2012